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Dienstag, 15. November 2016

Handelsware: Überleben in einem zurückweisenden System

Die Geschichte von A. wiederholt sich in vielen anderen Orten auf Sizilien und betrifft nicht nur Minderjährige, sondern auch Männer und Frauen, die schon seit etlichen Monaten hier sind und die von den selben Institutionen, die sie schützen sollten, zurückgewiesen werden. In den letzten Wochen am Hafen von Catania sind mehr als tausend Migrant*innen angekommen: Allein am Sonntag waren es 850 Menschen an Bord des Schiffes Bourbon Argos und einige Tage zuvor kamen außerdem 288 zusammen mit 20 Leichnamen an.
Viele von ihnen wurden, wie so oft, zum CARA* nach Mineo gebracht, wo, obschon etwas aus dem journalistischen Focus geraten, immerhin noch fast 5.000 Menschen untergebracht sind. An diesem Ort bleiben die Migrant*innen eine Nummer, auf sich alleine gestellt, ausgerechnet in einer Phase ihrer Migration, wo sie doch eine geeignete, individuell angepasste und vor allen Dingen sachkundige Betreuung, wie ebenfalls vom Gesetz vorgesehen, benötigten. Ihre Betreuung wäre jetzt besonders wichtig, nicht nur in Bezug auf die Einleitung des Verfahrens, um neue Papiere zu bekommen, sondern auch um die potentielle Inklusion in die neu erreichte Gesellschaft zu unterstützen und besonders in Anbetracht der schwierigen Lage und der Schutzbedürftigkeit der dort untergebrachten Migrant*innen, zuallererst der Überlebenden der sich wiederholenden Schiffbrüche.

In Wirklichkeit aber ist Mineo ein Ort der Verwahrlosung und der Unterdrückung, wo die Verzweiflung Konflikte erzeugt und ein auf Gewalt basierendes System fortwährend viele Opfer fordert. Erst vor ein paar Tagen kam die Nachricht eines weiteren Migranten, der in der Nähe des CARA* auf seinem Fahrrad überfahren wurde; Das gleiche Schicksal erlitt im April ein 25-Jähriger, der später zum Sommeranfang seinen Verletzungen erlag. Die Fahrräder sind die einzigen zur Verfügung stehenden Transportmitteln, um von diesem Zentrum wegzukommen, das mitten im Nichts, sieben Kilometer vom nächsten Dorf entfernt, liegt. Oft ist die Arbeit auf den Feldern die einzige Möglichkeit, ein wenig Geld zu verdienen und die Familie und sich selbst zu versorgen und somit die 18 Monate der Unterbringung zu überleben. Nur dank den Fahrrädern kommen die Migrant*innen dorthin, wo sie regelrecht ausgebeutet werden, nachdem sie sich viele Kilometer lang auf dunklen und unsicheren Straßen abgestrampelt haben.

Die Migrant*innen sind in hohen Maßen „erpressbar“: Sie befinden sich in einer extrem prekären Lage, oder sie werden wissentlich in dieser Lage gehalten, sie sind äußerst bedürftig und all das zusammen macht sie zu dem perfekten Fang eines Ausbeutungssystems, das „caporalato“ (illegale Anwerbung unterbezahlter Landarbeiter), Prostitution bis hin zu der Verwaltung der Aufnahme betreibt, als wenn es hier um Handelsware und nicht um Menschen ginge.

Die meistgehörte Ausrede ist immer die gleiche: Der Mangel an verfügbaren Plätzen in Vergleich zu den massenhaften Ankünften. Tiefer gehen die Erklärungen nicht. Es scheint, dass diese schwierige Lage immer noch als tragbar angesehen wird, obwohl nach so vielen Jahren allen Akteur*innen klar sein sollte, dass die Migration nicht durch Abweisungen und Selektion und, wenn man Glück hat, durch ein auf Almosen und Mildtätigkeit basierendes System geregelt werden kann. Aus demselben Grund erregt sich kaum einer, wenn Hunderte von Migrant*innen wochenlang zusammengedrängt in der Zeltstadt am Hafen von Augusta verweilen müssen, an einem Ort, der per se nicht geeignet ist und außerdem extrem gesundheitsgefährdend wegen der Nähe zu einer Müllverbrennungsanlage und des daraus resultierenden Feinstaubs und des Schwefels in der Luft ist. Alleine diese Tatsache, wenn man sich deren bewusst wäre, würde reichen, um nachdrücklich die sofortige Verlegung der Migrant*innen zu fordern, anstatt sie nach der Anlandung dorthin zu bringen. Bis heute jedoch ist uns keine öffentliche Anzeige bekannt und wir haben auch keine Information darüber, dass die Menschen, die in der Zeltstadt am Hafen arbeiten, sich der Unterbringung der Migrant*innen dort entgegengestellt haben. Niemand kümmert sich um das Recht auf Gesundheit für alle!

In Augusta genauso so wie im Hotspot* in Pozzallo sind es oft die Minderjährigen, die am längsten bleiben. Nach den letzten Anlandungen sind– unseren Informationen nach – schon etliche von ihnen länger als zwei Wochen am Hafen. Es wird wieder Mal endlos über Kontingente und desolate Versuche der Relocation diskutiert, nur um nicht erklären zu müssen, dass NUR legale und sichere Migrationsrouten diese riskanten Überfahrten stoppen, die leider sehr oft mit Katastrophen enden und den Handel mit Menschenleben endlich stilllegen könnten. Der Versuch das, was schon vorhanden ist, zu verbessern, reicht nicht aus, wenn gleichzeitig das komplette menschliche Scheitern, das wir tagtäglich beobachten, nicht angeprangert wird und nicht nach praktikablen Alternativen gesucht wird.

Wir dürfen auch nicht diejenigen vergessen, die, wie die Nordafrikaner*innen, die in den letzten Tagen zurückgewiesen wurden, von unserem System von vorne rein abgelehnt werden. Am Samstag, den 5. November, haben im Laufe des Tages circa 20 Migrant*innen aus Tunesien den Hafen in Pozzallo erreicht, aber niemand hat sich um sie gekümmert, als wenn sie komplett „unsichtbar“ wären. Die Präfektur von Ragusa hat die üblichen Informationskanäle nicht aktiviert, die für die Aufnahme und den Schutz der Migrant*innen am Kai vorgesehenen Organisationen wurden nicht in Alarmbereitschaft gesetzt, nicht einmal der Katastrophenschutz war vor Ort: Ein sehr schwerwiegender Vorfall. Wir hoffen, dass die Organisationen selbst dafür Sorge tragen werden, dass geklärt wird, was da passiert ist. In der Zwischenzeit sind die Tunesier*innen am darauffolgenden Montag mit Zurückweisungspapieren in den Händen in das CIE* nach Pian del Lago gebracht worden.

Sehr viele Minderjährige verlassen jede Woche die Hotspots*, den Hafen oder die Aufnahmezentren und nachdem sie kilometerweit gelaufen sind, erreichen sie den Bahnhof von Catania und somit werden sie von dem System, das sie, statt sie zu schützen zum wegrennen zwingt, nicht mehr erfasst. „Der einzige Grund, weswegen ich immer noch hier bin, ist auch der Grund meiner Flucht und zwar meine Krankheit“, erzählt uns S., ein junger Mann von 30 Jahren aus Nigeria, der im CAS* in Marina di Modica, das von der Genossenschaft Azione Sociale geführt wird, untergebracht ist. „Vieles erscheint euch unmöglich, aber anderswo auf der Welt ist es durchaus möglich, dass, wenn das nötige Geld fehlt, der Zugang zu der medizinischen Versorgung verwehrt wird. So was gibt es! Deswegen bin ich ja geflohen und jetzt sitze ich hier fest, ohne mich frei bewegen zu können und außerdem habe ich hier kaum die Möglichkeit mich unterhalten zu können“. – fährt er fort. „Die einzige Englisch sprechende Angestellte, die hier im Zentrum arbeitete, ist entlassen worden und jetzt kann ich mich nur mit ein paar Jungs verständigen. Vielleicht werden wir später die Schule besuchen, aber im Moment leben wir hier, mitten im Nichts und die einzige Zerstreuung ist das Handy. Ich hatte ein wenig Aufmerksamkeit seitens der Angestellten bekommen, als ich im Krankenhaus lag, aber, nachdem ich wieder hier bin, laufen meine Frage nach Medikamenten und Erklärungen ins Leere, wie früher schon der Fall war; Ich bin wieder nur einer der 40 Bewohner*innen hier, die jeden Tag mit den kreisenden, sorgenvollen Gedanken starten, wann bekomme ich meine Papiere, wie geht es weiter mit der Arbeit und in der Nacht genau aufgrund dieser Sorgen nicht schlafen können, während die Fliegen und andere Ungeziefer sie regelrecht attackieren“.

S. war im Sommer Zeuge der Zurückweisung etlicher Schicksalsgenossen aus dem Zentrum, die eine Anordnung mit dem Widerruf der Aufenthaltsberechtigung bekommen hatten. Diese Praxis wird leider oft missbraucht als Lösung der Konflikte, die vermehrt in den Zentren vorkommen, besonders dort, wo sehr viele Bewohner*innen zusammen untergebracht sind. Für die Verwaltungsorganisationen stellen diese Ausweisungen kein Problem dar: die Anzahl der ankommenden Migrant*innen ist nach wie vor groß und somit ist ihr Einkommen garantiert. „Meiner Meinung nach habe ich das Schlimmste überstanden, jedoch bin ich mehr und mehr überzeugt, dass auch hier die Rechte nicht garantiert sind, sondern immer wieder erkämpft werden müssen. Wir Migrant*innen sind eine Ware und der Markt ist groß“.

Lucia Borghi
Borderline Sicilia

CARA* - Centro di accoglienza per richiedenti asilo- Aufnahmezentrum für Asylsuchende
Hotspot* – aus dem Englischen - Registrierzentrum für Flüchtlinge
CIE* - Centro di Identificazione ed Espulsione – Abschiebungshaft
CAS* - Centro di accoglienza straordinaria - Außerordentliches Aufnahmezentrum

Übersetzt aus dem Italienischen von A. Monteggia