„Ich bin aus Italien geflohen. Nun bin ich in einem
sicheren Land.“ In den ersten Morgenstunden erreicht uns die
Nachricht von A., einem jugendlichen Eritreer, den wir in Pozzallo
kennengelernt und dessen erste Monate Aufenthalt in einem Zentrum für
unbegleitete minderjährige Geflüchtete in der Gegend von
Siracusa wir verfolgt haben. Kaum angekommen, wiederholte A. immer
wieder den ersten italienischen Satz, den er im Moment seiner Ankunft
gehört hatte: „Du bist in Italien, einem sicheren Land.“
Wenige Worte, die ihm immer wieder im Kopf herumgingen, besonders, als es ihm endlich gelungen war, ihre Bedeutung zu verstehen. A. ist fünfzehn Jahre alt, spricht wenig Englisch, dennoch hat er es irgendwie geschafft in seinem Land zu studieren. Bis, unausweichlich, der Moment kam vor lebenslanger Zwangseinberufung zu fliehen. Von hier an die Flucht vor Militär und Gewalt, die sich monatelang in Entbehrungen und Misshandlungen, erneut von bewaffneten Männern ohne Skrupel, realisierte. „Jeder Schritt hat seinen Preis“, „wenn du als Geflüchteter unterwegs bist, bist du wie Ware. Nicht du, sondern der Markt legt deinen Wert fest und du musst dich anpassen.“ Mit diesen Sätzen erzählte er uns grob von seiner Reise.
Zum Glück gelingt es A. „by chance“, zufällig, in Europa anzukommen, denn es hätte gereicht nur einige Monate später abzufahren, um, wie einige seiner Reisegefährt*innen, auf dem Grund des Meeres zu enden. Nachdem er drei Wochen im Hotspot verbracht hat, wird er im Juli in eine Gemeinschaft für unbegleitete Minderjährige gebracht und wir treffen ihn gemeinsam mit anderen Bewohnern auf der Piazza des kleinen Dorfes wieder, auf der sie sich zusammengefunden haben; ungefähr zehn Jugendliche, die beginnen zu beschreiben, was sie seit zehn Monaten erleben. Was uns von Anfang an an ihren Worten getroffen hat, waren nicht die Bemerkungen und Beschwerden über mögliche technische und strukturelle Probleme im Aufnahmezentrum, von denen es fast keine gab, sondern die Wiederherstellung eines Klimas aus Spannung und beinah völligem Misstrauen von Seiten der Sozialarbeiter* innen : „An diesem Ort kann man nicht kommunizieren. Wer nach Erklärungen fragt, bekommt vage Antworten und wer weiter fragt, dem wird gedroht. Sie sagen, wir hätten uns vom Aufnahmezentrum wegbewegt, wir hätten keine Dokumente oder sie rufen die Polizei.“ „In der Gemeinschaft musst du Geheimnisse für dich behalten, sonst wird dir gedroht. Wenn du etwas siehst oder es etwas gibt, das dir nicht passt, musst du das verstecken.“
A. und die Jugendlichen, die mit ihm zusammenwohnen ,haben solche Angst vor einer möglichen Bestrafung, dass sie uns bitten, bezüglich jeglicher Informationen darüber, wo sie sich befinden, Diskretion zu wahren: „Der Verantwortliche hat uns gesagt, dass er den Bericht über uns schreiben muss und wenn der nicht gut ist, bleiben wir auf der Straße.“ Wir erfahren, dass es in der Gemeinschaft verschiedene Sozialarbeiter*innen und einen Sprachmittler gibt, dazu eine große Einmischung in die alltägliche Organisation von Seiten der Familie des Verantwortlichen. Ein Junge zeigt uns einen vollständig kariösen Zahn, der sich unter einem sichtbaren Abszess verbirgt und sagt, dass er seit Wochen gegen einen Schmerz kämpft, den die Medikamente nur teilweise lindern: nach einem Monat begegnen wir ihm in der gleichen Lage wieder. Ein anderer listet uns die unzähligen Fälle auf, in denen die Polizei gerufen wurde um Essenskonflikte zu lösen, das Fehlen von Kleidung, die Unmöglichkeit eines Taschengeldes, das auf differenzierte Weise je nach Nutzer verteilt wird, die Unverständlichkeiten, hervorgerufen durch schlecht übersetzte Gespräche. „Einmal sagte ein Polizist zu mir, dass er mich zurück nach Gambia bringen würde, wenn ich nicht aufhörte mich zu beschweren“, sagt uns ein Junge, „hier fühle ich mich überhaupt nicht sicher.“
Wir machen die Zuständigen auf die Situation aufmerksam und stellen uns dem Verantwortlichen der Kommune vor, mit dem wir noch immer auf ein vertiefendes Gespräch warten. Wir erzählen von der vorgebrachten Kritik und betonen die Bedeutung einer pädagogischen Herangehensweise in einer Gemeinschaft für Minderjährige, in der ein Rückgriff auf die Polizei als Konfliktvermittler sicher nicht gängige Praxis sein sollte. Das Gespräch wird sofort auf die Veranstaltungen gelenkt, die für die Jugendlichen organisiert werden, die sportlichen Aktivitäten und den Einsatz bei juristischer Unterstützung und der Ernennung von Betreuer* innen , von denen wir wissen, dass sie leider ein verbreitetes Problem sind und verantwortlich für bürokratische/organisatorische Verlangsamung und lange Bearbeitungszeiten des Gerichts für Minderjährige in Catania. Die Zuständigen versichern uns mit größtem Respekt für die Jugendlichen zu handeln, die natürlich „dankbar sein sollten“ – unterdessen entfernen sich die Minderjährigen weiterhin von der Gemeinschaft und versuchen, an die Orte zurückzukehren, von denen aus sie aufgebrochen sind.
„Ich habe dreimal versucht nach Catania zurückzukehren“, sagt C., „aber sie haben mich immer wieder hierhin zurückgebracht. Unter uns gibt es auch solche, die daran gedacht haben zum Hafen von Augusta oder zum Hotspot zurückzugehen. Wenn wir einen anderen Ort hätten, würde niemand hierbleiben.“ Wir begleiten die Jugendlichen seit Monaten: die Eingriffe der Polizei gehen weiter und auch die Flucht derjenigen, die sich nicht damit abfinden, dass man ihnen nicht zuhört aufgrund einer Anweisung, die eingehalten werden muss und deren Sinn sie nicht verstehen. Einige haben mit einem Italienischkurs angefangen, andere hingegen haben ihn, nach monatelanger Wartezeit, aufgegeben, um wie A. allein nach einem besseren Ort zu suchen.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen von Anna Vollmer