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Mittwoch, 2. Juli 2014

Unterwegs in der Region Palermos: Die CAS der Provinz

In diesen Tagen haben wir mehr als nur einen Hinweis auf Klagen über schwere „Mängel“ bekommen, die es in einigen außerordentlichen Aufnahmezentren (CAS) in der Provinz Palermo geben soll.
Diese reichen von der Schlampigkeit im Umgang mit schweren Gesundheitsproblemen bei Minderjährigen bis hin zur mangelnden Professionalität der Betreibergesellschaften, die, um mehr Profit zu machen, nicht zögern, die grundlegenden Dienste für ihre Gäste zu beenden. Denn „was wollen sie im Grunde mehr als ein Bett und zu Essen?“

Aber die Migranten kommen nicht nach Italien, um ein, zwei Jahre zu essen und zu schlafen und sich erst anschließend ein neues Leben aufzubauen, nachdem sie das Risiko eingegangen sind, auf dem Meer oder an Land zu sterben.

Gerade bei der letzten Ankunft in Palermo haben wir hilflos der Überführung von 10 Leichen vom Hafen zum Friedhof von Rotoli beigewohnt – 8 von ihnen waren Frauen und 2 Minderjährige –, wo die Körper dermaßen aufgebläht waren, dass sie die aus einfachen Brettern mit wenigen Nägeln zusammengehauenen Särge öffnen mussten. Eine leise Tragödie in den meisten Fällen, weil die „kleine“ Zahl der Toten kein Aufsehen erregt, als wäre ein Toter nicht schon genug.
Um nicht von den Lebenden zu sprechen, die in viel zu vielen Fällen schlechter behandelt werden als Tiere. Es gibt absurde Situationen, wie die Geschichte einer Mitarbeiterin in einem außerordentlichen Zentrum (CAS) in der Provinz Palermos, die ihren Job kündigte, weil sie die Demütigungen, die sie selbst erlitten hat und bei denen sie anwesend sein musste, nicht mehr ertragen konnte. Sie klagte gegen den Betreiber der Einrichtung.

Professionelle Betreuer mit entsprechenden Ausbildungen und Titeln, die lächerlich gemacht, unterbezahlt oder gar nicht bezahlt, gedemütigt werden oder von denen verlangt wird, „freiwillige Arbeit“ zu leisten (so nennt man die unbezahlten aber „verpflichtenden“ Überstunden), um die finanziellen und personellen Löcher zu stopfen, die von den Koordinatoren der Einrichtung geschaffen wurden. Einstellung und Aufstiege von Mitarbeitern wie Tauschware unter Politikern oder Arbeiter, die gezwungen werden, auch die Krankenpflege zu übernehmen, obwohl sie dazu nicht qualifiziert sind. Überhaupt keine rechtliche Ausbildung und viel zu wenig Klarheit. Oft verlangt man vom Personal, an der Kleidung zu sparen, die zur Verteilung an die Gäste bestimmt ist, wenn nicht sogar am Trinkwasser.
Durch die Nicht-Betreuung wird es den Migranten leicht gemacht sich aus den Lagern zu entfernen und sich den Händen der Schlepper auszuliefern – mit dem Segen der Präfektur, die so neue Plätze für neue Ankömmlinge gewinnt.
Die Mitarbeiterin, die wir getroffen haben, hat uns gesagt, dass es oft dieselben Betreibergesellschaften sind, die es den Migranten erleichtern, sich aus den Aufnahmeeinrichtungen zu entfernen. Zurzeit machen sich Grüppchen von 4, 5 Migranten (sie kommen aus der ganzen Provinz Palermo und den angrenzenden Provinzen) auf den Weg nach Palermo und steuern zu Fuß die zentralen Bereiche an (den Bahnhof in erster Linie); sie versuchen dort ihre Reise fortzusetzen. Diese Personen sind gezwungen, den Schleusern riesige Summen zu zahlen. Um nur ein Beispiel zu geben: Im Zentrum von Palermo haben sich alternative Netzwerke für die Aufnahme gebildet, denen man auch 50€ pro Nacht für ein Bett und Verpflegung bezahlt. Um nicht von den Gesundheitsdiensten zu sprechen, die von einigen Betreibergesellschaften bereitgestellt werden. Es gibt solche, die den Gästen weder eine Paracetamol noch Bikarbonat zur Verfügung stellen können, mit dem Ergebnis, dass man jedes x-beliebige medizinische Problem auf die Krankenhäuser ablädt, und so Plätze in den Lagern freimacht, was weiteres Geld einbringt.
Die Möglichkeit, mit Migranten Geld zu machen, hat viele angesteckt, vielleicht zu viele so sehr, dass es in der Provinz missverständliche Abmachungen mit den Betreibergesellschaften gibt, die alle sehr unterschiedlich sind; ebenso unglaubwürdige Immigrationsexperten, die ohne jede Vorbereitung und Professionalität in weit abgelegenen Gegenden der Provinz soziale Kooperativen zur Aufnahme der Migranten auf den Weg bringen.

Trotz alledem verzeichnet man in Palermo: Alles besetzt! Es gibt laut der Präfektur so wenige Plätze, dass etliche Migranten Gäste in der Kirche oder in Einrichtungen sind, die von der Caritas zur Verfügung gestellt werden: Notfall des Notfalls!
In Palermo sind im Juni 2014 3 Schiffe mit insgesamt 1200 Personen an Bord angekommen, zu denen noch die ca. 800 schon Anwesenden hinzukommen; natürlich abzüglich der Personen, die irgendwo anders hin verlegt wurden oder, wie man sagt, jene, die sich freiwillig entfernt haben.
Palermo scheint mehr und mehr mit dem Phänomen vertraut zu werden. Seit 26. Februar  gibt es beispielsweise eine territoriale Unterkommission, die schon ungefähr 350 Personen angehört hat (viele, die aus Mali, Senegal, Gambia kommen), auch wenn noch ca. 500 Migranten auf ihre Anhörung warten zuzüglich derjenigen, die noch ankommen werden.
Und unterdessen machen sich die Migranten auf den Weg nach Palermo und hoffen einem „Freund“ zu begegnen, der ihnen hilft, die Hölle zu verlassen, in der sie untergebracht waren, oder ein Dokument zu bekommen, das es ihnen erlaubt, ihrem endgültigen Ziel entgegen zu reisen; und in der Zwischenzeit besichtigen sie die Stadt, faszinierend schön, aber für einen Migranten auf der „Durchreise“ immer auch ein Knast mit offenem Himmel.

Die Redaktion von Borderline Sizilien NGO


(Aus dem Italienischen von Rainer Grüber)