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Mittwoch, 25. Juni 2014

94 Migranten halbverlassen in einem „Zentrum“ im Industriegebiet Ragusas


In den vergangen Tagen haben wir eher zufällig von der Anwesenheit zahlreicher Migranten im Industriegebiet Ragusas erfahren. Uns wurde von vielen Jungen afrikanischer Herkunft erzählt, die offensichtlich verwirrt die langen asphaltierten und beinah wüstenleere Straßen der Industriezone entlangwanderten. Am späten Nachmittag des vergangen Montag haben wir in einer der wenigen noch geöffneten Werkstätten um Informationen gebeten.

Die Personen  mit denen wir gesprochen haben, gaben uns eine einfache Wegbeschreibung, um zum ehemaligen Disco-Restaurant „La Tropicana“ zu gelangen, doch sie wandten sich auch mit einigen Fragen an uns, vor allem: Wer sind diese Jungs und wie kommt es, dass man sie in eine so abgelegene Zone wie diese und an so einen Ort gebracht hat (Anm. d. Red. „La Tropicana“)
Aus dem Gespräch ging hervor, dass das neue Zentrum seit ungefähr zwei Wochen geöffnet ist und dass niemand die Inhaber und Arbeiter der anliegenden Werkstätten über das neue „Aufnahmezentrum“  informiert hatte, in das man nur „Autos eines gewissen Standards“ ein- und ausfahren sieht.
Als wir das Eingangstor durchschritten, haben wir sofort bemerkt, dass keine Fahrzeuge der Ordnungskärfte vor oder in der Struktur parkten. Es begegnete uns lediglich eine kleine Gruppe von Jungen, die draußen auf dem Platz gegenüber der baufälligen Struktur saßen. In ihren Augen bemerkten wir anfangs ein gewisses Misstrauen, welches sich nach wenigen Augenblicken in Dankbarkeit und Hoffnung wandelte. Wir haben uns hingesetzt und ihnen erklärt, was wir dort machten und wie knapp unsere Möglichkeiten etwas an ihrer Situation zu ändern wirklich waren. Ihre Geschichte in der Zusammenfassung:

Wir sind hier 94. Wir wurden aus dem Meer gerettet. Wir waren 107 an Bord eines Bootes, aber 5 von uns haben ihr Leben im Wasser verloren. Wir sind am 8. oder 9. Juni in Pozzallo angekommen. Wir wurden in einer sehr nahe am Hafen gelegenen Struktur untergebracht, wo wir drei Nächte verbrachten (Anm. d. Red. „CPSA“ Zentrum zur Ersten Hilfe und Erstaufnahme). Am 11./12. Juni wurden wir alle, außer Frauen und Minderjährige, mit einem Bus unter Polizeibegleitung hierher gebracht. Seit diesem Tag ist die Polizei nicht mehr wiedergekommen. Jeden Morgen kommen zwei Frauen, um die große Halle zu putzen, in der wir alle zusammen schlafen. Ca. um 12 Uhr gehen sie wieder und es kommt ein Mann, der den ganzen Tag bis zum nächsten Morgen bleibt. Doch während der Nacht wissen wir eigentlich nicht wo er ist und was er macht und wenn wir am Morgen aufwachen ist er oft schon weg. Außer der zwei Frauen und des Mannes gibt es noch einen weiteren Herrn, der während des Tages Essen bringt und wieder geht. Hier und da bringen sie uns Zigaretten und Telefonkarten. Wir essen und schlafen, mehr können wir nicht machen, wir sind weit weg von allem. Wir warten, aber wir wissen nicht genau auf was.

Überprüfen wir die Daten, handelt es sich wahrscheinlich um die von dem maltesischen Motorboot Norient Star geretteten Migranten, die am Abend des 8. Juni in den Hafen von Pozzallo gebracht wurden. An Bord des Motorbootes kamen 102 Migranten und 3 Leichen an, dazu kommen 2 Vermisste, was die oben genannte Gesamtzahl von 107 Personen bestätigen würde.
Mit dem Wissen über ihre Geschichte und vor allem über das Trauma fünf Wegbegleiter während der Reise ertrinken gesehen zu haben, haben wir darauf verzichtet weitere Nachfragen zum Vorfall zu stellen. Wir haben erfahren, dass sie Mitarbeiter von Präsidium (Anm. d. Übersetzerin: Projekt, finanziert vom Innenministerium, an dem UNHCR, IOM, Save the Children und das italienische Rote Kreuz beteiligt sind. Die Mitarbeiter sind bei den Anlandungen anwesend) getroffen und mit einigen Mitgliedern von Ärzte ohne Grenzen gesprochen hatten, als sie sich noch im Erstaufnahmezentrum  in Pozzallo befanden.
Am Ende unseres langen Gespräches hat einer der Migranten für uns den „Mitarbeiter“ des Zentrums geholt, der sich drinnen befand. Unsere Begegnung war höflich und schnell. Er hat uns erzählt er sei nur ein Mitarbeiter und dass der Verantwortliche im Moment nicht da wäre. Auf die Frage wer der Geschäftsführer der Einrichtung sei, antwortete er nach langem Zögern, dass sich die Geschäftsführung „in der Aufbauphase“ befände und dass es sich um eine lokale Gesellschaft handle, deren Name top-secret bleibt. Auf die Frage nach der Anzahl der Mitarbeiter antwortete er „es sind einige“ und obwohl er zu Beginn zugestimmt hatte uns das Innere der Einrichtung zu zeigen, entschied er sich dann doch um und bat uns am nächsten „Vormittag oder Nachmittag oder Abend“ wiederzukommen, um noch einmal zu versuchen den Inhaber anzutreffen.

Jenseits der ausweichenden Antworten des Mitarbeiters/Bediensteten zur Geschäftsführung des Zentrums, die allem Anschein nach noch im Dunkeln liegt (übrigens haben wir ihn unverzüglich nachdem wir verabschiedet wurden, mit jemanden telefonieren sehen), bleiben weitere wichtige Fragen zu stellen. Zum Beispiel um welche „Art“ von Zentrum es sich bei dem eben beschriebenen handelt? Handelt es sich um ein außerordentliches Erstaufnahmezentrum (CAS) oder, und diese Hypothese kommt uns wahrscheinlicher vor, um eine zweite Nebenstelle des Erstaufnahmezentrums Pozzallo (CSPA), welche, wie auch der ehemalige Betrieb Don Pietro in Comiso, zur Entlastung benutzt wird? Für diese Hypothese sprechen sowohl die hohe Zahl der verlegten Migranten als auch die Art und Weise der Verlegung, die darauf zurückzuführen sind, dass das ehemalige Zollabfertigungshalle (CSPA) schnell geleert werden musste. Die komplette Abwesenheit von Ordnungskräften stellt diese Richtigkeitsvermutung allerdings nicht unwesentlich in Zweifel. Umgekehrt, würde es sich um ein außerordentliches Aufnahmezentrum (CAS) handeln, wäre es angemessen, dass die Präfektur von Ragusa unverzüglich die getroffene Vereinbarung aufhebt.
Zusammengefasst ist zu sagen, welcher Art auch immer dieses Zentrum sein soll, es handelt sich offenkundig um nichts anderes als ein Lager, dementsprechend ausgegliedert in eine von der Stadt weit entfernt gelegenen Industriezone und fernab von neugierigen Blicken. Außerdem ist es offensichtlich, dass die Aufnahmebedingungen wieder einmal völlig unzureichend sind. Daher ist eine umgehende Schließung dieser Struktur wünschenswert.


Von Elio Tozzi,
 Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Viktoria Langer