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Freitag, 30. Dezember 2011

Das Wiedersehen der nicht Abgeschobenen

Untergegangen und gerettet aus Tunesien - im Wartesaal ihres Konsulates

Vier Blätter an die Wand geheftet. Das ist im tunesischen Konsulat in Rom übrig geblieben von den tunesischen Migranten, die zwischen Februar und März vermisst wurden. Vermisst auf dem Meer – warum sind sie niemals angekommen? Vielleicht sind sie in Frankreich, weil sie in Italien nicht registriert wurden, und gleich in Europa weitergereist sind? Vielleicht woanders unterwegs, ohne Nachricht gegeben zu haben? Und die Familien haben die Namen der Personen geschickt, die sie nun suchen, seit April, und die einige noch immer suchen. Kein offizielles Datum des Wiederfindens und erst recht nicht der Suche vorher, den DIN A4 Blättern an der Wand zufolge.

Die unterschiedlichsten Daten sind auf der Liste verzeichnet, in diesen zwei Monaten der kontinuierlichen Ankunft: Geschichten von Personen, die nicht mehr auffindbar sind; die Liste ist ziemlich alt und es gibt keine Aktualisierungen, auf der dunklen Mauer des Konsulates, so dass man vielleicht, wenn man die vier Seiten mit Namen betrachtet, hoffen könnte, dass irgendjemand angerufen hätte, um zu sagen, dass er angekommen ist. Aber die guten Nachrichten finden an dieser Wand keinen Platz.

Diese vier sind nicht die einzigen Seiten, die an die Wand gehängt worden sind. Knapp darunter finden sich andere, und es sind viel mehr. Es sind Listen der Tunesier, die in allen Zentren der Identifikation und Ausweisung in Italien anwesend sind. Die Liste ist aktualisiert bis September 2011, ein Fax, geschickt von Trapani nach Turin, über Bari und Bologna und Rom: Ponte Galeria. Vielleicht ist sie im September vor dem Brand im Zentrum von Lampedusa und folglich vor der Schließung desselben aktualisiert worden, denn nach diesem Datum kann das Fax nicht von den Gefängnisschiffen aus geschickt worden sein, auf denen die Tunesier für einige Tage festgehalten wurden. Für diese Tunesier ging die Reise von den Sammlungslagerschiffen direkt zum Flughafen von Tunis-Carthage.

Ich sehe die Namen der Personen durch, die in den verschiedenen Ecken unseres schönen Landes interniert sind. Ich weiß, dass Sayfuluddine in der Via Corelli in Mailand gelandet ist. Von dort aus hat er angerufen, um herausgeholt zu werden, hat nach einem Anwalt gefragt, nach Neuigkeiten über seinen Falken, mit dem er angekommen war, hat von leichten Schlägereien, in die die Temperamentvollen leicht verwickelt werden, gesprochen. „Marta, aber das ist kein Zentrum“ wie ich es gewohnheitsmäßig genannt habe „das ist ein Knast in jeder Hinsicht.“ Aber er ist seit einem Monat nicht einmal mehr im Knast. Am 5. Oktober wurde er abgeschoben. Aber davon sprechen diese Listen nicht.

Ich fahre fort, die Namen durchzugehen und finde jenen Muhammad Amin, der mir glauben machen wollte, dass er minderjährig sei: Ich erkenne ihn am Familiennamen wieder und am Datum seiner Geburt, 23.01.91, dem wirklichen Geburtsdatum. Irgendeine seiner falschen Erklärungen als Minderjähriger wird ihm einen Strick gedreht haben und ihn ohne Vorbehalt nach Milo (Zentrum zur Identifikation und Ausweisung von Trapani) gebracht haben, wie alle wirklich Volljährigen. Abschiebung.

Aber im Wartesaal des Konsulates, wo die Namen der Landsleute mit unbekanntem oder ungünstigem Schicksal auf Blättern gedruckt und an die Wand geheftet sind, treffen sich die Tunesier, die in Italien geblieben sind. Sie scheinen tatsächlich dem Tod entronnen oder dem schwarzen Unglück, irgendjemand ist es wirklich vor kurzem.

Mounia ist vor 20 Tagen aus dem Zentrum zur Identifikation und Ausweisung Ponte Galeria herausgekommen, nach viermonatiger Haft; und nach vier Monaten erlaubt ihr der Artikel 18 für die nächsten 6 Monate „eine Reguläre“ in Italien zu sein und in einem Familienhaus zu wohnen mit anderen Frauen, denen wie ihr die Seelenruhe genommen wurde nach der Scheidung in Tunesien.

„Du bist frei“, haben sie ihr gesagt.
„Was?“ Nach 4 Monaten schien ihr, als kenne sie dieses Wort nicht mehr.
„Was bedeutet „frei“?
Du kannst gehen, du bist frei, geh fort!

In diesem Wartesaal trifft Mounia zufällig Atraf: Sie haben sich seit den Zeiten von Ponte Galeria nicht gesehen, als sie ihm ihr Handy geliehen hatte, um in Tunesien anzurufen, das Telefonat, um der Mamma in Mounastir zu sagen, dass sie ihm seinen Ausweis schicken soll, damit er mittels einer Bescheinigung des Konsulates beweisen kann, dass er wirklich minderjährig ist. In Linosa angekommen in den chaotischen Tagen des Brandes auf Lampedusa, Tagen, in denen keine Organisation die Ausschiffung überwacht hat, hatten sie ihm nicht geglaubt. Auch in Agrigento, im Hospital, ließ sich nicht nachweisen, dass es sich um einen Minderjährigen handelte; tatsächlich war er sehr groß und robust, um für einen Minderjährigen durchzugehen. So ist er als Minderjähriger in einem Zentrum zur Identifikation und Ausweisung gelandet, eingeschlossen. Und dank des Telefonates mit Mounias Handy kam das Fax von der Mamma von Atraf: „Er ist wirklich 17 Jahre alt und hat Tunesien verlassen, nachdem sein Vater gestorben war.“ Und jetzt ist er frei.

Das Wiedersehen zwischen den Tunesiern endet nicht: Ibrahim nennt sich auch 5.April. Der Tag, an dem er angekommen ist, ist auch der Tag der Vereinbarung zwischen Tunis und Rom, ab dem kein Tunesier mehr in Italien eine Bleibeerlaubnis aus humanitären Gründen erhalten hat, also: die vom 5.April sind um Haaresbreite gerettet.

Auch er fand einen Minderjährigen wieder, einen von denen, die das Gefängnis nicht zu spüren bekamen, eher haben sie Bekanntschaft gemacht mit den langen Überführungen auf den Schiffen, die seit seit April von Lampedusa aus wer weiß wohin gefahren sind. Jetzt lebt Shihab in Frosinone, von Sidi bu Sid nach Frosinone, hat die 18 Jahre vollendet; aber er hat an einem nationalen Boxwettbewerb teilgenommen und hofft, dass die Gemeinschaft, in der er sich befindet, ihm hilft, die Erlaubnis zu erneuern. Um zu bleiben.

Weil Kinder, Frauen, Jugendliche, Männer nicht fragen, ob sie bleiben können... Und von ihnen ist 2011 genug gesprochen worden. Von dem Zeitpunkt an, als die Revolution zugelassen hat, dass sie die eigenen Grenzen verlassen bis zu dem Zeitpunkt, als das Zentrum von Lampedusa brannte. Jetzt scheinen sie alle verschwunden.

Einige scheinen es wirklich, andere sind einem Verfallsdatum oder einer Erneuerung (der Aufenthaltserlaubnis) ausgeliefert, einige genießen eine erworbene Erlaubnis, schließlich wieder andere sind nach Hause geschickt worden, auch weil kein neues Geschäft oder eine unvorhergesehene Vereinbarung dazu beitrug, dass sie sich jetzt auf dem italienischen Territorium aufhalten können.

Die Listen der Konsulate werden zu Staub, sie lassen von neuem ihre Geschichten zu Pulver werden: Sie sind verschwunden. Oder weiter gezogen von dem Empfang nach italienischer Art hin zu den Gassen zu Hause, die sie verlassen hatten: Aber ihre Leben und diese Spuren in Italien, am anderen Ufer des Mittelmeeres, sind überhaupt nicht untergegangen, werden da sein, bis sie gerettet sind.

Marta Bellingreri

Nicht alle Namen sind real, die der Minderjährigen sind geändert.
Unterzeichnen Sie den Aufruf der Migrantengeschichten für die verschwundenen Tunesier:
http://www.storiemigranti.org/spip.php?article995

(aus dem Italienischen von Rainer Grüber)