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Donnerstag, 8. September 2011

Lampedusa – seit Monaten Zurückweisungen

von Antonello Mangano für “terrelibere”
Seit Monaten vollzieht Italien Vertreibungen im Meer zwischen Lampedusa und Tunesien. Nach einem Anruf wird aus einer Rettung eine Vertreibung. Ein Saharoui-Flüchtling  kann nur um Asyl bitten, weil er sich ins Meer geworfen und dabei ein Bein gebrochen hat. Ein Tunesier muss das Boot verlassen, weil er einen Rollstuhl mit gebracht hat. Die Regierung riskiert eine Verurteilung durch Straßburg für die Vertreibungen von 2009. Maroni brüstet sich mit den Ausweisungen. Und auf Lampedusa sind die Nachrichten zensiert und die Insel wird verpanzert.
Lampedusa (AG) “Wir haben an die zuständigen Behörden geschrieben und unsere Besorgnis über die erfolgte Vertreibung zum Ausdruck gebracht. Unsere Position bleibt: Nein zu den Vertreibungen, “ sagt uns Laura Boldrini, Sprecherin des UNHCR, die sich um die Flüchtlinge kümmert. “Wir verlangen einfach nur den Zugang zum Staatsgebiet, die Prozedur der Identifikation,den Zugang zum Asylbewerbungs-Verfahrungen und – bei negativem Ausgang – die Maßnahme der Zurückweisung. Das Anliegen ist sehr klar: Wir verlangen lediglich die Anwendung des Gesetzes. Auch wenn wir wissen, dass Tunesier häufig Wirtschaftsflüchtlinge sind, muss das Überprüfungsverfahren in jedem Fall individuell erfolgen, dass das Gesetz keine kollektiven Maßnahmen der Vertreibung aus dem Staatsgebiet zulässt.” Vor einigen Tagen enthüllte eine besondere Episode, dass Italien die illegale Praxis der kollektiven Vertreibungen wieder aufgenommen hat. Ein Patrouillenboot des Zolls fährt in den Hafen ein und dann mit voller Geschwindigkeit wieder auf das Meer. Auf der Mole hält eine Polizeikette die Mitarbeiter der humanitären Organisationen zurück, mit Ausnahme eines Arztes von den Maltesern, der in das Boot steigt und feststellt, dass sich dort sieben Personen in prekären physischen Konditionen befinden. Auf dem Meer dagegen wurden 104 Migranten auf ein tunesisches Schiff verfrachtet. Unter den sieben Kranken zwei Frauen, ein Minderjähriger, ein Mann auf einer Trage sowie ein Querschnittsgelähmter, der direkt mit dem Rollstuhl losgefahren war. Eine Hilfsaktion – das Boot war havariert und lief voll Wasser – die zu einer Vertreibung wird nach einem Befehl, der vom Innenministerium kommt. Warum es sich dabei um illegale Praktiken handelt? Ein Ausländer hat das Recht, ein Asyl-Ersuchen zu stellen, dann entscheidet die italienische Kommission über Gewährung oder Ablehnung . Unserer Regierung wird schon ein Prozess gemacht wegen der Vertreibungen von 2009, als die Flüchtlinge aus den Kriegen am Horn von Afrika wieder nach Libyen  zurück geschickt wurden, entsprechend den Abmachungen zwischen Berlusconi und Gaddhafi. Das Verfahren wird aufgerollt wegen Verstößen gegen die Genfer Konventionen und die Europäische Konvention über die Menschenrechte. Man erwartet das Urteil . Auch in diesem Fall wurden bilaterale Abkommen getroffen, aber mit der provisorischen tunesischen  Regierung, die nie durch eine Wahl legitimiert wurde. Die Tunesier werden für “Wirtschaftsflüchtlinge” gehalten und hätten daher kein Recht auf Asyl. Aber gemäß dem Gesetz muss das Verfahren entsprechend der individuellen Geschichte erfolgen und nicht aufgrund ethnischer Herkunft. Und dann ist nicht gesagt, dass sich auf einem Boot aus Tunesien ausschließlich Tunesier befinden. Im Verlauf der zitierten Vertreibung sprang tatsächlich ein Mann während des Umsteigens in das andere Schiff über Bord, sowie er begriffen hatte, dass er wieder zurück geschickt werden würde. Beim Fallen hat er sich am Knöchel verletzt. Ihm wurde geholfen und die Marine-Einheit kam um fünf Uhr morgens zurück. Der Flüchtling erklärte dann, dass er aus der Sahara stamme, ein potentieller Anwärter auf Asyl, der nun nur Zugang zum Asyl-Verfahren erhält, weil er vor der Vertreibung flüchtete, indem er mitten in der Nacht ins Meer sprang. Das Volk der West- Sahara kämpft seit der spanischen Dekolonisation  um seine Unabhängigkeit und wird von Marokko verfolgt, das den kleinen Staat zwischen Wüste und Atlantischem Ozean nicht anerkennt.
Eine Praxis, die seit Monaten ausgeübt wird
Für alle anderen wird das Recht, um Asyl nachzusuchen, mit einem Blick gestrichen. Das Personal, das an diesen Hilfseinsätzen teilnimmt, erklärt uns, was in diesen Fällen geschieht. Wenn Befehle von oben kommen, erfolgt die Vertreibung. “ Wenn sie von Westen kommen, nehmen wir an, dass sie Tunesier sind. An der Hautfarbe kann man intuitiv erkennen, ob sie Maghrebiner sind. Wir unterscheiden die Gesichtszüge der Somalis von denen der Tunesier. “ Aber wie erkennt man einen Saharoui? Die tatsächliche Identifikation kann nur an Land erfolgen. Und so entscheidet ein Blick – oder ein verspäteter Anruf – über das Schicksal von Menschen. Alle befragten Quellen – von den humanitären Mitarbeitern über die Zeugen  bis zu  den Mitarbeitern der Hilfsaktion – bestätigen uns den Kontrast zwischen Gesetzen des Meeres (der Pflicht, menschliches Leben zu retten) und “römischen” Befehlen, die in diesem Fall mit einer Verspätung ankamen, welche es ermöglichte, wenigstens die sichtbar Kranken zu retten. Die Spannung zwischen der Pflicht zum Gehorsam und der Ethik von Männern, welche es sich zum Beruf gemacht haben, Menschen aus dem Meer zu retten, ist greifbar. Die Vertreibung vom 21. August ist kein isolierter Fall. Seit Monaten wird diese Politik verfolgt. Ein Boot wird meistens von den Patrouillen entdeckt, die täglich das Meer sondieren. Eine ständige Arbeit, in welche die Einheiten des Zolls,der Hafen-Kommandanturen und der Militär-Marine auf Mission vor der tunesischen Küste (zwei sich abwechselnde Schiffe und ein Atlantik-Flugzeug) verwickelt  sind . Die offiziellen Stimmen des Stabs des Verteidigungsministeriums sprechen  allgemein von “Überwachung für den Notfall der Immigration entsprechend der italienisch-tunesischen Übereinkunft”. Sowie es Gefahrensignale gibt (Schiff auf Abdrift oder leckendes Boot), wird die Prozedur SAR aktiviert (Suche und Rettung), nach der Migranten geholfen wird. Im gegenteiligen Fall werden die Migranten auf die Schiffe der Marine umgeladen und danach auf die tunesischen Patrouillen-Boote. “Ich könnte nicht sagen, inwieweit die Vertreibungen den Zufluss aus Tunesien bremsen”, sagen sie uns. “Vom Innenministerium sind es Fragen der öffentlichen Ordnung. Wenn die vorsehen, dass diese Personen nicht kommen dürfen, weil es da Motive oberhalb von mir gibt, dann geben sie uns meistens Indikationen.” Befehle, die es Maroni erlauben – wie vor einigen Tagen beim Meeting  in Rimini geschehen – sich mit den Zahlen zu brüsten (13.000 in sechs Monaten repatriiert, aber die Daten sind offensichtlich verfälscht durch die Vertreibungen) und sich vor der Basis der Lega als Bremse gegenüber der Immigration darzustellen. Vom 1. bis 21. August sind auf Lampedusa 4.637 Personen von der libyschen Route mit Booten angekommen und gerade 497 aus Tunesien. Angesichts idealer Meeres-Wetter-Bedingungen und einer Entfernung von wenigen Meilen handelt es sich dabei um eine lächerlich geringe Zahl. Am vergangenen 2. August nahm das Parlament ein von Maroni vorgeschlagenes Dekret an, das die Inhaftierung in einem CIE (Identifikations-Zentrum)  bis zu anderthalb Jahren Dauer erlaubt. Also: Um  die Identität eines Migranten festzustellen, können auf dem Meer wenige Minuten oder ein Blick ausreichen. Oder man braucht dazu 18 Monate in einer Haftanstalt und eine unendliche Sequenz von Dokumenten zwischen den Konsulaten. Viele “Gäste” der Identifikations-Zentren hatten bereits strafrechtliche Verurteilungen, also müssten sie eigentliich bereits ausreichend identifiziert worden sein. Und stattdessen werden sie weiterhin festgehalten.
Die verpanzerte Insel
Nach Lampedusa kamen und kommen Hunderte von Journalisten aus aller Welt. Die Suche nach und das Verifizieren von Nachrichten sind im Laufe der Zeit immer schwieriger geworden. Es ist praktisch unmöglich, mit den Migranten zu sprechen, die im Befestigungswall des Aufnnahme-Zentrums eingeschlossen sind, das sie theoretisch verlassen dürften. Die Struktur wird von Militärs geschützt und von einem check-point, als ob sie die geheimste aller Militär-Basen wäre. Nach dem Rundschreiben vom März, das den Zutritt nur humanitären Organisationen erlaubt, kann man die Migranten-Zentren nicht betreten. “Sie werden dort eingeschlossen, weil die Prozeduren so schneller abgewickelt werden. Wir haben nichts zu verbergen”, sagen uns die Verantwortlichen der Einrichtungsleitungen. Fakt ist, dass niemand weiß, was hinter den Schranken geschieht, und nach draußen gelangen nur die schlimmsten Nachrichten wie die vom Steinhagel von gestern, den die Tunesier veranstaltet haben, die sich gegen eine Re-Patriierung wehren. Die Migranten hatten das Zentrum verlassen und einen Protest an der Mole veranstaltet. Sie wurden wieder nach drinnen begleitet, wo sie die Revolte fort führten. Auf der Insel gibt keiner Erklärungen ab, weder von den Militärs noch von den Hilfsorganisationen. Alle reden nur informell – und das auch stundenlang – und verweisen uns dann an das offizielle nationale Presse-Büro, das einzige, das zu reden autorisiert ist. Die Effekte können mitunter kurios sein. In Rom bestätigt das Presse-Büro des Zolls die Zurücksendung, leugnet aber das Manöver am Hafen, das wiederum jedoch von den Film-Aufnahmen der Vertreter von Sky bestätigt wird und von den Fotos eines freelance. “Ich sage Ihnen das, was ich von Rom aus weiß… Ich weiß das, was meine Kollegen berichtet haben…” Diejenigen, die vor Ort gesehen haben, können nicht sprechen, diejenigen, die zu sprechen befugt sind, haben nicht gesehen. Auf Lampedusa wird die Wahrheit versteckt von einer Staats-Räson, die sich vermischt mit den Interessen von einigen wenigen Politikern. Die Legalität ist ausgesetzt und in Kraft sind Notfall-Maßnahmen. Zig  Militär-Jeeps und Absperrungen garantieren die Ruhe der lombardischen und venezianischen Touristen und die Unsichtbarkeit der Migranten. Die Militärs überwachen sogar das Lager der Boote der Migranten. Die internationalen Konventionen werden verletzt. Und niemand findet etwas daran auszusetzen – mit Ausnahme eines Sprechers des Arci und des Protestes des UNHCR, wovon wir zum ersten Mal berichten.

(aus dem Italienischen von Alexandra Harloff)