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Dienstag, 6. September 2011

Der Falke und das Kind

Von Alessandra Ballerini - Der Falke ist auf der Insel (sc. Lampedusa) angekommen, sitzt auf dem Arm seines Reisegefährten (der außerdem auch Eigentümer und Ausbilder ist), ein wenig erschöpft, aber sonst in gutem Zustand. Das Kind, ein Bündel von 3 Monaten, ist am 6. August auf Lampedusa an Land gebracht worden, gemeinsam mit seinen Eltern, mit seinem 16 Monate alten Brüderchen und seiner 7 Jahre alten Schwester.
Omar, das Kind, ist mit der Familie vor dem Krieg in Libyen weggelaufen, dem Land, in das seine Eltern entschieden hatten zu flüchten, nachdem sie aus Dafur und Ciad geflohen waren. Es gibt Leben, es gibt Familien, die nichts gemacht haben als wegzulaufen. Leiden und Weglaufen. Omar, das Kind ist 50 Stunden auf dem Boot gewesen bevor sie auf der Insel anlandeten und auf der Reise hat er unter Dreihunderten Männer und Frauen beten und fluchen sehen, hat eingezwängte und zertretene Körper gesehen, und er hat Blut gesehen. Er hat gesehen, wie sein Vater niedergestochen wurde, hat gesehen wie seine Angreifer versucht haben, ihn umzubringen mit Fäusten und Klingen bis ein Hubschrauber das Boot nicht mehr beleuchtet hat und Männer in Uniform sie in Sicherheit gebracht haben. Der Falke ist eine geschützter Art, Falke, der Pilger. Ein Raubvogel, stolz und kostbar, und perfekt abgerichtet von dem jungen Tunesier, der ihn mit sich führte. Der Falke, kaum dass er im Zentrum Contrada Imbriacola angekommen war (wo ungefähr tausend Flüchtlinge eingesperrt und angehäuft sind), wurde sofort versorgt und gepflegt: Ihm wurde ein persönlicher Raum zugeteilt, für ihn wurde spezielles Essen bereitet, damit er seine neue Behausung auch nicht einen Augenblick verlassen bräuchte. Omar, das Kind, schläft seit dreißig Tagen auf einer Schaumgummimatratze, auf die Erde geworfen, in einem Raum, den er sich mit anderen Leidensgefährten teilt. Omar ist ein sudanesischer Säugling, geflohen aus Libyen; auch er müsste, als Säugling und als Flüchtling, zu mindestens zwei schützenswerten Kategorien gehören. Aber er ist kein Raubvogel. Für den Falken hat man in kürzester Zeit eine angemessene Unterkunft gesucht und gefunden, weil offensichtlich die Contrada Imbriacola kein angemessener Ort ist, nicht einmal um dort einen Raubvogel schlafen zu lassen. Und so wurde in Windeseile seine Überführung in eine „geschützte Unterbringung“ angeordnet, damit auch nicht eine Feder von der Haft in der CPSA etwas verspürt. Der Falke wurde in die Obhut von Fachleuten gegeben und vom Arm seines jungen tunesischen Freundes (und legitimen Besitzers) gerissen. So blieb der Junge alleine und verzweifelt zurück, eingeschlossen in der Contrada Imbriacola. Er ist ein tunesischer Flüchtling, der offensichtlich nicht zu einer geschützten Art gehört und folglich weder einen würdigen Empfang und noch viel weniger die Freiheit verdient. Nicht nur, dass er der Kameradschaft seines Raubvogels beraubt wurde, er konnte sich auch nicht mehr an dem Widerschein der Wohltaten und Privilegien freuen, die dem Falken zugestanden worden waren: und so vergisst er das Zimmer und wird zurückgeworfen unter die hunderten anderen Flüchtlinge im „Käfig“ für Erwachsene in dem großen Käfig Contrada Imbriacola. Und dort treibt er sich herum, der Waise des Falken und befragt jeden nach Nachrichten. Um ihn zu beruhigen, hat ihm die Polizei erzählt, dass, wenn es ihm gelingt eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, dass dann der Falke (dessen Position auf italienischem Boden schon perfekt geregelt ist) ihm wieder gegeben werden würde. Er hat mich gefragt, ob das wahr sei und warum niemals jemand unter der Telefonnummer antwortet, an dem der Falke zuhause ist? Ich habe auch versucht anzurufen. Niemand nimmt ab. Ich habe mir den Kopf zerbrochen, einen fantastischen Grund zur Wiedervereinigung des Falken (mit regulärem Aufenthalt) und dem Tunesier (irregulär, in Abschiebehaft gehalten) zu erdenken. Aber ich fürchte, nicht viele juristische Präzedenzfälle in dieser Sache zu finden. Omar, das Kind, feiert heute seinen ersten Monat Haft in der Contrada Imbriacola, zwischen Polizisten, Dreck und Insekten. Ich habe geschrieben und die Unrechtmäßigkeit der Haft dieses Säuglings und seiner Familie allen Behörden angezeigt, aber ich habe keine Antwort bekommen. Nicht einmal als der Kleine, der mitten in der Nacht von einer Mitarbeiterin des Lampedusa-Empfangs abgeholt wurde, weil die entschieden hatte (ohne nach der Zustimmung der Mutter zu fragen) den Säugling zu baden, am rechten Bein mit kochendem Wasser verbrüht und schwer verletzt wurde, nicht einmal da hat jemand bedacht, dass das Zentrum, der Käfig, nicht nur für Raubvögel ein ungeeigneter Ort ist sondern auch für einen Säugling. Omar, das Kind, bleibt dort, im Käfig. Die Mutter fixiert mich lange, fragt mich, wann ihre Gefangenschaft endet: Sie ist müde und wütend. Sie will sich draußen um ihre Kinder kümmern. Und sie hat Angst. Angst, dass ihre Kinder krank werden oder verletzt werden in einer der zahlreichen Revolten, die wöchentlich im Zentrum ausbrechen. Angst vor Steinwürfen, den Knüppeln und den Rasierklingen, mit denen die Flüchtlinge, auch die noch nicht Erwachsenen, sich aus Protest den Körper verletzen, in der törichten Hoffnung, ein wenig Mitleid hervorzurufen. Und Angst vor den Schleusern, die versucht haben, ihren Mann zu ermorden und die seit einigen Tagen mit eingeschlossen sind in demselben Käfig. Omar, der Säugling, erkennt sie zu seinem Glück nicht wieder; aber seine Geschwister, als sie aufs Neue die bösen Menschen gesehen haben, die ihrem Papa hatten Schlechtes tun wollen, sind unter Schluchzen weggelaufen. Ich übergebe Kadija, der Mutter von Omar, alle Briefe, die ich für sie geschrieben habe und ich erkläre ihnen, dass ein Bevollmächtigter, ein guter Mensch, sich um sie kümmern wird, dass neben den anderen Sachen, sie auch Opfer und Zeugen von schweren Straftaten sind und dass sie auch aus diesem Grund beschützt werden müssten. Ich versichere ihr, dass bald, wenn Gott will, Inschallah, sie verlegt werden. Es gefällt ihnen, dass ich ehrlich spreche, dass ich sie nicht belüge, indem ich eine Sicherheit vorspiele, die ich nicht habe. Und sie wiederholt mir, Inschallah, wenn Gott will. Und so ruft sie zu Gott, dass auch er sich belädt mit der Illegalität und der Missorganisation der Contrada Imbriacola und all dessen, was sich im Innern abspielt. Diese Nacht schläft der Falke einen ruhigen Schlaf, nachdem er ein ausgesuchtes Essen verspeist hat, und besucht wurde und verhätschelt wurde von liebevollen Experten-Händen, vielleicht nur, dass er ein wenig leidet in Erinnerung an den Jungen, der ihn aufgezogen hat. Diese Nacht muss Omar, das Kind, kämpfen gegen den Juckreiz einer Verbrennungswunde, gegen die Insektenstiche, die Steinwürfe und Klingen und das Geschrei der anderen Gefangenen. Im nächsten Leben wird es Omar, wenn er als Flüchtling geboren wird, angenehm sein, als Raubvogel geboren zu werden.

Alessandra Ballerini, Anwältin für Terre des Hommes (aus dem Italienischen von Rainer Grüber)