Stellt Euch vor, Fischer oder Radaraufnahmen melden Euch Flüchtlingsboote und Ihr habt die Aufgabe, eine Katastrophe aufgrund eines Schiffsbruch, Durst und Hunger auf offenem Meer zu verhindern. Es beginnt eine Rettungsaktion unter Einsatz von entsprechenden Mitteln, Menschen und öffentlichen Geldern.
Stellt euch vor, diese Menschen retten zu müssen. Menschen, die wie bei einem Glücksspiel mit ihrem Leben spielen und in der Hoffnung, nicht bei der ersten Welle unterzugehen, auf die Nachsicht des Meeres spekulieren. Stellt Euch vor: Nachdem Ihr einige der Menschen aufgrund schwerer Verletzungen oder Wassermangels ins Krankenhaus gebracht habt und einige auf dem Friedhof der Insel begraben wurden, kommt jemand daher und sagt Euch, dass jedes aus Libyen kommende Boot bereits bekannt war und von der Flotte der NATO, die die libysche Küste kontrolliert, gesichtet, registriert und katalogisiert wurde. Schließlich handelt es sich um den derzeit meist beobachteten und befahrenen Meeresabschnitt und es ist kaum vorstellbar, dass der NATO nicht bekannt ist, welche Boote die libysche Küste erreichen und verlassen. Von der Vorstellung kommt man zur bitteren Feststellung, dass jede Tragödie durch einen humanitäre Korridor der NATO zum anderen Ufer oder durch rechtzeitiges Reagieren auf S.O.S. Signale der Boote, die manchmal schon Wochen auf dem Meer treiben, vermeidbar gewesen wäre. Man muss feststellen, dass die internationale Hilfeleistung unterlassen wird und die Boote und Menschen im Slalom um die militärischen Fregatten fahren, um unter großer Anstrengung endlich das libysche Meer zu verlassen. Allein im Jahr 2011 sind 1.674 Menschen im sizilianischen Kanal verunglückt, seit 1994 insgesamt 5.962 (Fortress Europe). Die Angaben berücksichtigen auch die 25 Toten, die vor ca. 10 Tagen in einem Flüchtlingsboot auf Lampedusa entdeckt wurden.
Eindrücke von Lampedusa
Die Verunglückten geistern noch auf dem sogenannten „Friedhof der Boote“ herum, ein spontan entstandenes „Monument“ aus zertrümmerten, aufeinander gestapelten Flüchtlingsbooten. Ein Monument, dass mit der Zeit wächst und viele unterschiedliche, ganz individuelle Geschichten erzählt. Bei etwas näherer Betrachtung der verwahrlosten Boote kann man auch noch persönliche Gegenstände finden. Im Haus des Vereins Askavusa werden sie ausgestellt: Korane, Bibeln, Familienfotos, Geldbörsen, Glücksbringer, Kleidungsstücke, viele Schuhe, leere Essensbüchsen, Taschenlampen, Töpfe, leere Zigarettenpackungen mit arabischen Aufschriften… Diese Eindrücke haben im „Gebet für den Frieden im Mittelmeer“, organisiert vom Priester der Insel, Don Stefano Nastasi, einen Namen bekommen. Bei dieser Gelegenheit wurden die Namen von einigen Verstorbenen oder Verschwundenen, deren Identität oder Geschichte rekonstruiert werden konnte, vorgelesen. Ohne Namen bleiben hingegen die Gräber auf dem Friedhof. Hier kann man nur einen „Namen“ der Identifizierung, eingeritzt in Zement, lesen: „Einwanderer“ oder noch grotesker „Kadaver“. Auf anderen Grabstellen findet man nur ein Kreuz, für viele der Verstorbenen nicht einmal im Sinne ihrer religiösen Orientierung. Zur Erinnerung an das Leid der 25 Verstorbenen, die vor etwa 10 Tagen im Stauraum eines Bootes erstickten, wurde ihnen eine Videoinstallation im Museum an der Piazza del Castello gewidmet: man betritt eine kleine dunkle Kabine, in der nur ein kleiner Lichtstrahl, der den Qualm eines Motors durchdringt, zu sehen ist. Gefühle der Enge im Raum, der Unbeweglichkeit und des Zwangs sollen den Besucher einen Augenblick lang den langen qualvollen Tod der 25 Menschen nachempfinden lassen…
Julika Brandi & Giulio Montemauri für das Forum Antirazzista di Palermo