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Montag, 6. Juni 2011

Verteidigungsrechte in Lampedusa und neues Aufnahmebusiness

Am 4. Juni 2011 gegen 9.30 Uhr begaben sich die Anwälte Marino und La Russa vom Gericht Agrigent zum Ersthilfe- und Erstaufnahmezentrum (CPSA) in Lampedusa, um einige tunesische Staatsangehörige zu treffen, von denen sie in den vergangenen Wochen ordnungsgemäße Generalvollmachten erhalten hatten.
Am Eingang des Zentrums wurden sie vom diensthabenden Polizeibeamten sowie dem Leiter des Zentrums, Dott. Galipò, aufgehalten, die sie nach ihrer Genehmigung vom Präfekten fragten. Nachdem sie ohne Erfolg ihre Ernennungsurkunden vorgezeigt hatten, die von 16 seit Wochen im Zentrum festgehaltenen Personen unterzeichnet waren (und ordnungsgemäß von einem Beamten der Stadt Lampedusa beglaubigt worden waren), wandten sich die beiden Anwälte an die Präfektur in Agrigent. Obwohl die beiden Verteidiger auf die Unantastbarkeit des Rechts auf Verteidigung hinwiesen und betonten, dass sie keinen Zugang zum Zentrum, sondern lediglich die Möglichkeit verlangten, die Verteidigung ihrer Mandanten wahrzunehmen, die im Übrigen in einem von der IOM zur Verfügung gestellten Büro (und damit außerhalb des Lagers) erfolgen sollte, verwies Dott.ssa Vaccaro, vom Kabinett der Präfektur auf das bekannte Rundschreiben vom 1. April 2011 und forderte die Anwälte auf, einen formellen Antrag beim Innenministerium zu stellen. Um 11.33 Uhr schickten die Anwälte ein Fax mit einem „Antrag auf ein Verteidigungsgespräch im CPSA Lampedusa“ an die Geschäftsstelle des Kabinetts der Präfektur Agrigent und in Kopie an die Abteilung für bürgerliche Freiheiten und Einwanderung beim Innenministerium und an das IOM in Rom, in dem sie die extreme Dringlichkeit des Antrags darlegten. Während die Präfektur Agrigent, in der Person von Dott. Diomede, sich inzwischen telefonisch beeilte, die Unantastbarkeit des Rechts auf Verteidigung zu betonen (und ausschloss, dass eine Genehmigung gemäß den Angaben des erwähnten Rundschreibens erforderlich sei) sowie den rein formellen Charakter einer notwendigen Genehmigung, verlangte das Innenministerium von den IOM-Mitarbeitern in Lampedusa Kopien aller Vollmachten, damit sie diese überprüfen und kontrollieren könnten. Erst um etwa 19.15 Uhr am selben Tag kam die Genehmigung der Präfektur Agrigent, die den beiden Verteidigern das Verteidigungsgespräch gestattete, jedoch ausschließlich mit denjenigen im Zentrum festgehaltenen Tunesiern, deren zum Zeitpunkt der Erteilung der Generalvollmacht angegebenen Personalien mit den Angaben identisch waren, die die Polizeibehörde beim Eintreffen im Zentrum aufgenommen hatte. Somit wurde denjenigen Tunesiern das Recht auf Verteidigung verwehrt, die bei der Identifizierung gegenüber der Polizei Personalien angegeben hatten, die später bei der Erteilung der Vollmacht an die Verteidiger nicht bestätigt wurden. Unter ihnen befindet sich ein Asylbewerber, der seit mehr als 20 Tagen im CPSA Lampedusa in dem von der Polizei abgegrenzten Bereich festgehalten wird. Für diesen Tunesier werden wir im Laufe des Tages eine neue Vollmacht unterzeichnen lassen und dann bis morgen ein Gespräch mit dem Mandanten planen. Aufgrund der Aussagen der Polizeidienststelle des Zentrums, deren zuständiger Beamter in den vergangenen Tagen kategorisch auf die (juristische?!) Unmöglichkeit verwiesen hatte, dass diejenigen Häftlinge, die ihre Verteidiger aus den oben genannten Gründen nicht treffen konnten, eine neue Generalvollmacht ausstellen könnten, scheint dies kein einfaches Vorhaben zu sein.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass 7 der Tunesier ihre Anwälte wegen nichtübereinstimmender Personalien nicht treffen konnten, 5 konnten ihr Recht auf Verteidigung in Anspruch nehmen, 2 gehörten zu denjenigen Tunesiern, die am vergangenen 30. Mai nach einem Selbstmordversuch mit dem Hubschrauber in ein Krankenhaus in Catania gebracht worden waren, und 2 waren am vergangenen 27. Mai und 2. Juni mit Flügen vom Flughafen Punta Raisi zurückgeschoben worden.
Wir warten noch auf Nachrichten von MSF über die beiden Tunesier, die ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Beide haben Rechtsanwältin Ottaviano als Mitverteidiger. Sollten sie sich noch in Catania aufhalten, wäre ein Besuch vom Mitverteidiger angebracht. Wir haben Nachricht von einem der beiden zurückgeschobenen Tunesier: in den vergangenen Tagen haben wir von seiner Familie erfahren, dass der 26-Jährige unter Schock steht. Er klagt über psychische und physische Probleme und gibt an, von den italienischen Sicherheitskräften brutal angegriffen und geschlagen worden zu sein. Wir wissen noch keine Einzelheiten über den Vorfall, aber die Delegation von Borderline Europe, die nächste Woche nach Tunesien fahren wird, wird über die Kontakte zur Familie versuchen, den Tunesier zu treffen und Genaueres über den Vorfall zu erfahren. Auf meine Nachfrage, mir per Fax eine Kopie der Anordnung zu schicken, die ihm bei der Zurückschiebung bekanntgegeben wurde, wurde mir gesagt, dass ihm nach der Unterzeichnung kein Exemplar ausgehändigt worden war. Daher müssen die Vertrauensanwälte in den nächsten Tagen bei den zuständigen italienischen Behörden (Polizeipräsidium Agrigent oder Palermo) Kopien der Rückschiebungsanordnungen anfordern, um die Recht- und Ordnungsmäßigkeit der von den zuständigen Behörden durchgeführten Maßnahmen zu überprüfen. In informellen Gesprächen mit Zuständigen vor Ort konnte ich folgendes in Erfahrung bringen: die Beförderung der Migranten mit Fähren ist mittlerweile das normale Vorgehen. Die IOM wurde aufgefordert, ein Team auf die Schiffe zu schicken (das erste Mal wurde dies vergangene Woche erprobt), um den Verteilungsmaßnahmen durch die Sicherheitskräfte beizuwohnen. Kabinen sind lediglich Frauen und Familien vorbehalten. Die Männer schlafen tagelang auf Sesseln, wenn sie Glück haben, oder ansonsten auf dem Boden. Ein Tag dieser „Kreuzfahrt“ kostet den italienischen Staat die stolze Summe von 140.000 Euro.
Neuigkeiten gibt es auch in Bezug auf die Zweitaufnahme: Connecting People hat offiziell einen Riesenauftrag erhalten, um allein in Sizilien 4.000 Plätze für die Zweitaufnahme bereitzustellen. Letzte Woche hat außerdem Gabrielli, Notstandsbeauftragter des Zivilschutzes, in einer Pressekonferenz angekündigt, dass das neue System der Zweitaufnahme von Teams überwacht werden soll, die von den verschiedenen Trägern eingesetzt werden, die unter anderem aus Vertretern vom UNHCR, ANCI (Verband der italienischen Gemeinden) und UPI (Vereinigung der italienischen Provinzen) bestehen. Den verschiedenen Bestimmungen, die im Beschluss des Präsidenten des Ministerrats OPCM Nr. 3933 vom 13. April 2011 enthalten sind, lässt sich entnehmen, dass die Mindeststandards für jede Aufnahmeeinrichtung die gleichen sind wie für die Aufnahmenzentren C.A.R.A., jedoch mit dem Unterschied, dass sich die zur Verfügung zu stellenden Plätze in verstreut liegenden Strukturen (Schlafsäle, Hotels etc.) befinden können. Dies geschieht bereits in Apulien, wo kleine Gruppen von 5 bis 6 Asylbewerbern beispielsweise in von der Caritas betriebenen Unterkünften untergebracht wurden, wo ihnen ein Bett und Verpflegung zur Verfügung gestellt wird, sich jedoch niemand um die verwaltungsrechtlichen Belange ihres Status kümmert. Es wäre interessant, die Einzelheiten der gesamten Maßnahme von dem in Sizilien zuständigen Träger, Dott. Lo Monaco, zu erfahren, sowie mit jemandem vom zentralen System SPRAR (Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge) zu sprechen, um herauszufinden, ob das gute alte Modell endgültig erledigt ist.

Germana Graceffo, Borderline Sicilia