In den Jahren 2004 bis 2009 habe ich mich mehrmals im Team der Nichtregierungsorganisation MSF nach Lampedusa begeben, abgeordnet zur Aufnahme und Musterung an den Molen und zur Weiterbehandlung in den Zentren.
Wenn auch bereits früher vieles geändert worden war infolge einer Politik der Zurückweisung, so existierte doch bis zum Sommer 2009, als MSF die Mission auf der Insel abschloss und endgültig dem öffentlichen Gesundheitsdienst ASL übergab – dem naturgemäßen und legitimen Inhaber – , eine abgesicherte Handhabung bei der medizinischen Betreuung. Und nicht nur das, es gab, wenn dies auch zu hinterfragen gewesen wäre, eine klare Verteilung der Rollen und der Funktionen in der Hierarchie aller Mitwirkenden im Lager; und den Migranten wurde das Recht auf Gesundheit und Betreuung zugestanden. Die Zentren standen „unter Beobachtung“ durch die Medien, auch wenn diese Beobachtung häufig vorübergehend Einschränkungen unterlag und der vorherigen Zustimmung seitens der Präfektur bedurfte. Heute sieht es so aus, als ob von alldem die Spuren auf Lampedusa verschwunden sind und die Situation in hohem Maße abschreckend wirkt: eine stark militarisierte Insel (Ordnungskräfte, Heer, CRI-Militär) und alle Phasen bei der „Aufnahme“ liegen fest in den Händen der Polizei. An den Molen wird kein Aufnahmeverfahren mehr durchgeführt (trotz der Anwesenheit von ASL und mehreren Gesundheitsorganisationen), auch nicht innerhalb der Zentren. Daraus ergibt sich (wie uns übrigens berichtet wurde), dass welches Krankheitsbild auch immer, akut oder latent vorhanden, trotz des Risikos von schweren Rückfällen von niemandem eingeschätzt oder einer Untersuchung unterzogen wird. Das gleiche gilt für die Frauen, Opfer von Gewalt, die innerhalb des Zentrums einem Klima der Freizügigkeit ausgesetzt sind, ohne sich dagegen schützen zu können. Die Aufnahmesituation auf Lampedusa wurde zu einem Problem der öffentlichen Ordnung, ohne dass Regierungsorganisationen, die zur Wahrung der Rechte der Migranten nur in unzureichendem Maße vor Ort sind, sie kanalisieren konnten – so die Aussagen von NGO’s und jener zivilen Gesellschaft, die sich angesichts der massiven Präsenz von Tunesiern auf der Insel zu Wort meldete. Wenn überdies die Besuche der Politiker aufeinanderfolgen, auch von Politikern jener Sorte, die sich nicht scheuen, auf öffentlichen Versammlungen über Einwanderung und Aufnahme Schmähreden zu halten, so werfen sie Öl ins Feuer der Wut der Einheimischen, die Einbußen für den Tourismus in der Sommersaison befürchten. Zurzeit erscheint die Situation in der LORAN-Basis am schlimmsten, wo seit über einem Monat 180 unbegleitete Minderjährige, zwischen 15 und 18 Jahre alt, völlig auf sich allein gestellt ausharren. Etwa 40 weitere Flüchtlinge wurden am 30. Juni mit der „Exelsior“ weiter verschifft, die mit unbekanntem Ziel ablegte. Innerhalb der Loran wechselten Proteste und Hungerstreiks einander ab, als Folge des desolaten Zustands der Flüchtlinge und als Folge dessen, dass sie keinerlei Antwort auf ihre Anfragen erhielten. Die Anfragen drehten sich darum, Hausschuhe zu bekommen, festes Schuhwerk, wenn auch in getragenem Zustand, geschweige denn die Möglichkeit, den Stützpunkt zu verlassen, der nach wie vor auf voller Länge von gefährlichem Stacheldraht umgeben ist. Prekäre hygienische Bedingungen, keinerlei Zeitvertreib: es gibt kein Fernsehen, keinen Platz zum Fußballspielen (abgesehen davon ist das gesamte Gelände vor dem Stützpunkt ständig der glühenden Sonne ausgesetzt), keine Bücher, kein Telefon mit Festnetzanschluss; nichts gar nichts. Neben der Polizei ist einzig der Arzt der Kooperative ständig vor Ort; überdies fehlt jemand, der die Funktion eines Vermittlers übernehmen könnte. Wie es heißt, hat legambiente ein Projekt unterbreitet, um die jungen Männer tagsüber an den Strand zubringen, doch wurde ihrem Gesuch keine Antwort zuteil. Im Lager Imbriacola sind derzeit 574 Personen untergebracht, davon 211 Minderjährige (180 in Loran) und 42 Frauen. Weitere 1000 Personen wurden mit der „Excelsior“ (am 30. Juni) verschifft, die die Häfen von Neapel, Cagliari und Genua ansteuerte. Es sind noch minderjährige Tunesier auf der Insel; diejenigen, die vorgehabt hatten, nach ihrer Ankunft gleich weiterzureisen, sind jedoch in der angespannten Lage mit der Polizei zusammengestoßen. Ein Polizist und ein junger Tunesier wurden verletzt. Als Folge dieses Zwischenfalls wurden 24minderjährige Tunesier ebenfalls mit der „Excelsior“ weitergeleitet. Verschiedenen Berichten zufolge leben die Migranten (und besonders die Männer) im Lager unter absoluter Kontrolle der Polizei und in einem Klima, in dem jederzeit etwas passieren kann. Das Essen, das von einem externen Catering-Unternehmen angeliefert wird, ist eintönig und von schlechter Qualität, die hygienischen Bedingungen erscheinen äußerst mangelhaft. Nur wenn sich der Besuch irgendeiner Persönlichkeit abzeichnet, erfolgen die „Putzaktionen“. So wurde vor der Ankunft des Praestigiacomo am 5. Juli das Lager im wahrsten Sinn des Wortes „weißgetüncht“. Vor allem aus Libyen kommen immer noch zahlreiche Migranten in großen Booten an und obwohl man sagt, dass die Mehrheit der Migranten weiterhin auf See umgebootet wird, kommt es auch vor, dass Boote direkt an der Mole ankommen (so geschehen am 29. und 30. Juni). Nachdem die Polizei ihre Maßnahmen (Abzählen und Verhör von einem „Ausgesuchten“ aus der Gruppe) beendet hat, lassen sie sie in Busse steigen und in die Zentren hinauffahren. Nicht so häufig, aber immer wieder, kommen kleine Boote aus Tunesien an (4. Juli, etwa 40 Männer).
Licia Pera