Die Politik der Ausnahmesituation hat unzählige rechtliche Eingriffe diktiert, aufgrund derer seit Monaten verschiedene Präfekturen die Öffnung von außerordentlichen Aufnahmeeinrichtungen und Erstaufnahmezentren auch für unbegleitete Minderjährige gestattet. Dies führt noch weiter von der Möglichkeit weg, den Jugendlichen den größtmöglichen Schutz zu gewähren. So wurde die "Aufnahme für große Zahlen von Migrant*innen” eingeführt, eine gute Gelegenheit für viele skrupellose Betreiber, die in Sizilien, wie überall anders auch, für ihre Geschäfte fruchtbaren Boden finden. Seit Ende Juni entstehen in allen Provinzen Neue solcher Einrichtungen und die Bestehenden sind schon wieder überfüllt. Eine möglichst kurze Aufenthaltsdauer sollte lediglich der Identifikation und der Einleitung des Aufenthaltverfahrens zur dienen. Es wird eine minimale Basisunterstützung geboten für die große Anzahl Geflüchteter. Aber tatsächlich treten die Erstaufnahmezentren an die Stelle der Zweitaufnahmestellen, und deren niedrige Qualität schadet der zukünftigen Laufbahn der Migrant*innen in Italien.
Eine dieser Erstaufnahmeeinrichtungen ist das Zentrum für Minderjährige "La casa del migrante" im Ortsteil Verzella, etwa 7 km weit weg von der Gemeinde Castiglione di Sicilia, mit etwas mehr als 3000 Einwohnern. Es liegt in einem waldigen Gebiet zwischen dem Ätna und Alcantara und ist ohne Auto schlecht erreichbar.
Wir erfahren von diesem Empfangszentrum im Gespräch mit einigen Migrant*innen in Catania: "Einer meiner Freunde wurde an einen weit entfernten Ort versetzt, wo es sehr kalt ist. Vielleicht ist das gar nicht in Sizilien." Wir setzen uns mit ihm in Verbindung und er berichtet sogleich, dass es ihm an Schuhen und Kleidern fehle und dass er vollkommen isoliert sei: "Ich bin vor zwei Wochen hier angekommen. Ich habe nur meine Plastikschuhe. Wir sind weit ab von allem, es gibt kein Ladengeschäft." Er erzählt uns, er lebe zusammen mit 40 anderen Männern und drei Frauen aus Nigeria, die zurückgeblieben seien, als drei ihrer Kameradinnen geflohen seien, "wir alle wollen weg von hier, aber wir sind so isoliert, dass nicht einmal das möglich ist."
Wir bleiben mit ihm in Kontakt und ein paar Wochen später besuchen wir die Einrichtung nach vorheriger Vereinbarung mit dem Verantwortlichen einer der beiden Betreiber. Wir erfahren, dass es sich dabei um die Kooperative Azione Sociale, die schon verschiedene andere Aufnahmezentren in der Provinz Ragusa und bis Juli 2016 auch den Hotspot in Pozzallo betreibt und die Kooperative Ippocrate aus Enna. Die Einrichtung besteht aus zwei Gebäuden. Eines ist sehr groß und das andere kleiner. Zuvor diente der Gebäudekomplex als Pflegeheim für ältere Menschen, davon ist noch Einiges sichtbar im Mobiliar und auf der Tafel am Eingang. Wir stellen uns den beiden diensttuenden Angestellten sofort vor, die uns ein Bild von der Situation vermitteln. Das Zentrum wurde im September eröffnet. Am Anfang waren 6 minderjährige junge Frauen aus Nigeria da und von da an wurden nur noch junge Männer aufgenommen. Drei der jungen Frauen sind weggegangen und so sind es zurzeit 57 junge Männer und die drei zurückgebliebenen Frauen. Gestern erst sind zehn Jugendliche aus dem Hafen in Catania eingetroffen. In den letzten Monaten sind die Jugendlichen direkt nach der Anlandung hierher gebracht worden, außer einem, der aus einem andern Zentrum hierher versetzt wurde. Eine Erklärung dafür geben sie uns nicht, er ist aber der einzige, der einen amtlichen Vormund hat. Ihre Herkunftsnationen sind: Nigeria, Gambia, Senegal, Mali, Ghana, Guinea Conakry, die Elfenbeinküste, Eritrea und Somalia.
Einige der Jugendlichen aus Eritrea und Somalia wurden in ein "Spezialprogramm" in Palermo aufgenommen (es wurde uns nicht klar, worum es sich genau handelt). Die spontanen Fluchten auf eigne Faust hätten in letzter Zeit aufgehört. Die Belegschaft besteht aus etwa zehn Angestellten, darunter eine Psychologin, Nachtwächter und ein Mediator. Extern werden ein Sozialarbeiter und ein juristischer Berater zugezogen. Bei der Ankunft werden Artikel zur persönlichen Hygiene, Kleider zum Wechseln, Hausschuhe und Schuhe ("die wir haben") verteilt. Wir werden im Lauf unseres Besuches noch mehrmals Gelegenheit haben, dieses Thema zur Diskussion zu stellen.
Einmal im Monat werden Taschengeld und Telefonkarten verteilt. Es wurden auch einige Male Alphabetisierungskurse durchgeführt, Kontakte mit einer Schule vor Ort für Italienischkurse sind im Gange. Laut den Angestellten hätten die Jugendlichen hätten keine besonderen gesundheitlichen Probleme. Gruppenweise werden sie in einer Arztpraxis in Catania untersucht. Das nutzten einige bis noch vor ein paar Monaten als Gelegenheit zur Flucht.
Für alle ist das Verfahren zur Zuteilung eines Vormundes eingeleitet. Die Angestellten gestehen uns, dass sie anfangs die Komplexität der Prozeduren nicht verstanden hätten. Sie waren nicht über die wichtigen und wesentlichen Unterschiede in der Behandlung von Minderjährigen und Erwachsenen informiert worden.
Das ist schwerwiegend, wir raten ihnen, sich sofort mit dem Rechtsberater in Verbindung zu setzen, wir betonen die Dringlichkeit der Ergreifung der richtigen juristischen Schritte. Wir erkundigen uns auch nach der Situation der drei jungen Frauen und wie ihr Alltag innerhalb des Zentrums organisiert ist. Es scheint, dass vor einigen Monaten Vertreter*innen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sich mit den Migrantinnen unterhalten haben und über die Möglichkeit einer Integration in Projekte zu deren besonderen Schutz.
Bis heute genießen die jungen Frauen keinen besonderen Schutz außer der Einschränkung und Kontrolle von wiederholten Anrufen der gleichen Nummer auf ihrem Mobiltelefon, das ihnen vom Zentrum zur Verfügung gestellt wird.
Wir machen auf die Risiken der Situation aufmerksam und wir empfehlen, sofort Maßnahmen zu ergreifen, auch wenn uns ständig wiederholt wird, dass die jungen Frauen, die im September hierher gekommen seien, ohnehin für eine Versetzung vorgesehen sind. Wie die Sozialarbeiter*innen berichten, wurde das Zentrum bisher von keiner anderen Organisation besucht.
Als wir vor das Büro treten, um die weiteren Räumlichkeiten zu besichtigen, verlangt eine Gruppe der Jugendlichen mit Nachdruck um ein Gespräch mit den Angestellten. Während unseres Rundganges haben wir wiederholt vorgeschlagen, mit den wartenden Jugendlichen zu reden, was aber ständig ignoriert wurde. Unter ihnen, die meisten in Gummisandalen oder Flip Flops, sind einige, die erzählen, dass sie diese Nacht angekommen seien und bis jetzt noch nichts bekommen hätten. Obwohl sie ihre Not schildern, müssen sie warten. So beeilen wir uns bei der Besichtigung der Zimmer im Hauptgebäude. In jedem hat es vier oder fünf Krankenhausbetten und eine Toilette. Viele der Jungen liegen auf ihrem Bett, andere halten sich im nassen Korridor auf und beklagen sich über die fehlende Sauberkeit. Im Aufenthaltsraum steht ein Fernseher, vor dem Esssaal liegt eine große Terrasse. Die jungen Frauen wohnen in einem kleinen eigenen Haus. In allen Räumen ist es kalt.
Endlich kehren wir zu den Jungen zurück, die seit einer Stunde vor dem Büro auf Kleidung und Hausschuhe warten. Es sind zwanzig, die alle französisch reden. Wir versuchen zu übersetzen, denn die Angestellten verstehen kein Französisch. Aber sie scheinen zu wissen, worum es geht. Es werde nach Schuhen gefragt, aber es hätte keine mehr, denn viele hätten nicht gepasst oder den Jungen nicht gefallen. Das gleiche bei den Sweatshirts und den Hosen. Dazu meinen die Jungen, dass nicht alle Schuhe bekommen hätten und einige wochenlang vertröstet wurden. Nach zwei Wochen hätten einige Schuhe bekommen, aber nicht alle, die hätten immer noch Flip Flops und es sei kalt. "Hier gibt es nichts: keine Schuhe, keine Kleider, keine Schule. Sie versprechen uns etwas und halten es nicht. Auch gestern haben sie uns Schuhe versprochen. Wir müssen uns beklagen, sonst geht das ewig so weiter."
Wir wissen, dass vor zwei Wochen nach einer Protestaktion die Polizei gerufen wurde, die mit dem Verantwortlichen gesprochen haben. Auch heute, nach etwa einer halben Stunde fahren drei Autos der Carabinieri auf, die von den Angestellten während unserer Besprechung gerufen worden waren. Es treffen auch andere Sozialarbeiter*innen ein, unter ihnen eine Frau, zu der die Jungen ein gewisses Vertrauensverhältnis zu haben scheinen. Niemand von ihnen spricht mehr als ein paar Wörter Französisch oder Englisch. Zurück im Büro findet eine hastige Verteilung von restlichen Schuhen statt, vor dem Büro hören wir weitere Proteste auch von den zuletzt Angekommenen, die immer noch in einer Ecke warten. Im Gespräch mit dem leitenden Polizeibeamten der Carabinieri berichten wir über die Informationen durch die Betreiber und die Jugendlichen während der letzten Wochen. Es gesellt sich in Mann zu uns, wahrscheinlich ein Sozialarbeiter, der dem Carabiniere vorschlägt, vier oder fünf der auffälligsten Jungen in die Kaserne mitzunehmen um für die Anderen ein Exempel zu statuieren. Wir erinnern ihn daran, dass das nicht zu den Aufgaben von Polizei und Betreibern gehöre und dass eine Maßnahme, die darauf abzielt, einen zu bestrafen um hundert zu erziehen, entgegen aller ethischen, erzieherischen, gesetzlichen und Fürsorgeprinzipien ist, die die Betreiber von Aufnahmezentren einzuhalten haben. Für den Moment scheint es, dass die erwähnte Praxis keine Anwendung findet, aber wir vermuten, dass unsere Annahme nicht fern von der Realität liegen könnte, und die Logik des “einen zu bestrafen um hundert zu erziehen” in unserer Abwesenheit womöglich von den Angestellten umgesetzt wird.
Uns werden auch Unterschriften vorgelegt, die die Jugendlichen anscheinend als Empfangsbestätigung des verteilten Materials hinterlegt hätten, zusätzlich zum Hygiene-Kit. Diese Unterschriften wurde in jedem Fall um Einiges später als die jeweiligen Ankunftsdaten im Heim hinterlegt. Und die Unterschriften belegen auch keineswegs ein tatsächliches Verständnis für die Bedürfnisse der Jugendlichen, denn die Sprachbarrieren zwischen ihnen und den Mitarbeiter*innen sind viel zu groß. Schlussendlich wird versprochen, dass alles, was fehle, bis zum Abend verteilt würde. Die Lage entspannt sich und die Carabinieri verlassen das Zentrum.
Anschließend unterhalten wir uns noch lange vor dem Zentrum mit einigen in der Mehrzahl englischsprachigen Migranten. Im Unterschied zu ihren frankophonen Kameraden, die lautstark ihre Verzweiflung äußern, scheinen sie deprimiert und in sich gekehrt in ihren Befürchtungen.
Wir erfahren etwas über ihren Alltag, die ermüdenden Stunden des immer gleichen Tagesablaufs innerhalb des Zentrums zwischen Schlafzimmer, Fernsehraum und der Beschäftigung mit dem Mobiltelefon. Manchmal spielen sie Fußball. Es herrscht der Eindruck von totaler Lähmung, wo die eigenen Interessen und ungehörten Bedürfnisse keine Bedeutung mehr haben. "Ich weiß nicht, was mich erwartet, wann ich meine Dokumente bekomme, wie lange ich noch hierbleiben muss." "Die Betreiber sprechen alle nur Italienisch. Wir verstehen sie nicht und alleine können wir die Sprache nicht erlernen." "Ich kann in letzter Zeit nicht mehr schlafen und oft denke ich, dass kann doch nicht Italien sein." "Das Gespräch zu suchen nützt nichts. Sie merken nur, dass wir da sind, wenn wir unterschreiben, um die Mahlzeiten einzunehmen."
Keine*r erwähnt die Auseinandersetzung von vorher, bis ein Nachbar sich zu uns gesellt und einem Jugendlichen eine Jacke gibt mit den Worten, er sehe ihn immer nur in einem Sweatshirt vorbeigehen… "Auch das Wasser ist kalt im Zentrum, und oft läuft es nur am Morgen. Wir haben Geld bekommen, aber wir können nirgends Kleider oder Esswaren kaufen, alles ist zu weit weg. Wenn wir eine Frage haben, ist die einzige Antwort, dass wir bald transferiert werden ohne weitere Erklärungen." "Ich will in die Schule und Fußball spielen", sagt L., der offensichtlich jünger ist als die anderen und Englisch spricht. "Ich bin sechzehn Jahre alt. In Gambia sprach ich drei Sprachen. Ich hoffe, dass ich die nicht vergesse." Wir schweigen dazu, vollkommen alleine auf der einzigen Straße, die die verstreuten Nachbarhäuser miteinander verbindet, bis ein heftiges Gewitter uns auseinandertreibt, jede*r auf den eigenen Weg.
Heute erhalten wir eine Sms von einem der Jugendlichen: "Gestern habe ich endlich die Schuhe bekommen. Ich kann es kaum erwarten, mit ihnen weit weg zu gehen von hier."
Lucia Borghi
Borderline Sicilia
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne