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Freitag, 21. Oktober 2016

Westsizilien: das Versagen auf Kosten der Hoffnungssuchenden

Die hohe Zahl an Unterbringungen für unbegleitete Minderjährige in der Provinz von Agrigento (mehr als 40), macht ihre Beobachtung umso schwieriger. Viele der sogenannten „hoch spezialisierten“ Erstaufnahmeeinrichtungen für Minderjährige sind höchstens auf Nichtfunktion spezialisiert. Die kritischsten Situationen findet man in Licata, Palma di Montechiaro und Porto Empedocle, jedoch sind die Meldungen, die uns erreichen, unzählige.
Einige der Mitarbeiter*innen dieser Einrichtungen scheinen nicht einmal zu wissen, was ein Formular C3 (Formular zur Asylantragstellung) ist. Von der Wichtigkeit und Nützlichkeit der Präsenz einer*s Tutors*in oder eines gesetzlichen Vertreters ganz zu schweigen. Die chronische Abwesenheit von professionellen Personen führt dazu, dass die Jugendlichen der Gleichgültigkeit der Träger ausgesetzt sind. Glücklicherweise gibt es einige (wenige) Mitarbeiter*innen, die es schaffen, in diesem Dschungel zu überleben und versuchen, die eigene Arbeit mit Würde auszuführen.

Das Grassieren von diskriminierenden institutionellen Praktiken und von Bewohner*innen von Gemeinden, die die auf den Straßen herumlungernden Migrant*innen nicht ausstehen können und denken, diese seien nur nützlich, wenn sie harte und schlecht bezahlte Arbeit machen, erzeugt den Widerspruch, dass ein*e ausländische*r Minderjährige*r (aber nicht nur) ausschließlich dann akzeptiert wird, wenn er*sie sich ausnutzen lässt!
Und wehe, es beschwert sich jemand, wenn die Duschen aufgrund von Wassermangel nur wenige Stunden am Tag zugänglich sind, wenn das Essen zu wenig oder von geringer Qualität ist oder wenn es einem über Monate nicht möglich ist, die eigenen Angehörigen zu erreichen.

In manchen Fällen entstehen die Vorurteile einiger Mitarbeiter*innen einfach aufgrund eines Haarschnitts, und übertreffen die Vorurteile die auf religiösen Unterschieden oder auf der Hautfarbe basieren: „Vom ersten Tag an, den der in der Unterkunft verbracht hat, wusste ich, dass ich mit ihm Probleme haben würde. Das sieht man doch schon an diesem Haarschnitt!“ Es spricht Bände, dass der besagte Mitarbeiter diplomierter Ökonom ist, aber in der Unterkunft als Mediator arbeitet.

In Erwartung der nötigen Erlaubnis, diese Unterkünfte zum besseren Verständnis der Schieflage, die solchen Dynamiken zu Grunde liegt, zu besuchen, hat Borderline Sicilia die zuständige Präfektur und die Mitarbeiter*innen von Save the Children (die nur Zugang zu den von den Präfekturen kontrollierten Erstaufnahmezentren haben, nicht jedoch zu denen, die im „Kompetenzbereich“ der Gemeinden liegen) über die Vorfälle informiert. Somit besteht die Hoffnung, dass die momentan potenziell ansteigende Anzahl der Flucht von diesen Zentren stehen bleibt, sowie das Level des Ärgers und die anhaltenden Proteste.

Nie endende Proteste, in den CAS*, den Hubs* und den Hotspots, denn obwohl sich manche Mitarbeiter*innen bemühen, die Löcher des Systems zu stopfen, ist dieses mittlerweile durchsiebt. In den Hotspots von Milo (Trapani) und Contrada Imbriacola (Lampedusa) gibt es Zimmer, die de facto als CIE* benutzt würden, in denen jedoch illegaler Weise aus dem Maghreb stammende Migrant*innen festgehalten werden, die auf ihre Rückführung warten. Letzte Woche sind von Lampedusa aus 43 Tunesier*innen rückgeführt worden, nachdem sie erst mehr als 10 Tage unter ständiger Beobachtung und Isolation im Hotspot verbracht hatten, um dann schließlich auf einen Polizeibus verfrachtet, von zwei Streifenwagen begleitet zum Flughafen von Palermo „Falcone e Borsellino“ gebracht und mit dem Flugzeug wieder nach Tunis zurückgeschickt zu werden.

Es erreichen uns auch Nachrichten über illegitime Vorgehensweisen aus dem einzigen Hub auf Sizilien, Villa Sikania in Siculiana (Agrigento), wo 200 Eritreer*innen seit circa 10 Monaten auf die Bestimmung einer Versetzung warten, die nunmehr nichts weiter als eine Illusion zu sein scheint. Andere Migrant*innen, die von Lampedusa aus nach Villa Sikania kommen, bleiben dort für einige Tage oder Wochen, um dann nach Norden versetzt zu werden.

Das Bild der hunderten, im Hub vergessenen Eritreer*innen (die nicht in den letzten Monaten geflohen sind), ist der Schnappschuss des europäischen Versagens.
Ein Versagen auf Kosten derjenigen, die Hoffnung suchen.

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

*CAS (centro di accoglienza straordinaria): außerordentliches Aufnahmezentrum
*CIE (centro di identificazione ed espulsione): Abschiebungshaft
*Hub: „Sammelpunkt“, Verteilzentrum für Asylsuchende

Übersetzung aus dem Italienischen von Antonia Cinquegrani