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Mittwoch, 22. Juni 2016

Unbegleitete Minderjährige im Hotspot von Pozzallo. Auf der Route der „Nicht-Aufnahme“

„Ich bin vor einem Monat angekommen, nachdem ich im Sudan und monatelang in Libyen war. Bei meiner Ankunft wurde ich in einem großen Raum mit etwa hundert anderen Menschen eingesperrt. Viele davon waren in meinem Alter, andere älter. Es waren auch Frauen und Kinder dabei. Sie haben mir Wechselkleidung und eine Telefonkarte gegeben und gesagt, dass ich bald in ein Zentrum für Minderjährige verlegt werde. Ein Monat ist nun vergangen und ich bin immer noch hier.“ Die Geschichte von Y., einem 16-jährigen Eritreer, beschreibt die Realität, die hundert unbegleitete Minderjährige erleben. Wie er werden sie unrechtmäßig für Wochen oder Monate im Hotspot von Pozzallo festgehalten. Dutzende von unbegleiteten Minderjährigen kamen mit der letzten Schiffsanlandung am Hafen von Ibleo an. Sie befinden sich immer noch in einem Zustand von Chaos, Durchmischung, Überfüllung und psychischer Belastung im Zentrum, ohne eine geeignete Unterkunft erhalten zu haben.


Viele von ihnen sind am 28. Mai angekommen, Überlebende des Schiffbruchs, in dem dutzende Menschen ihr Leben ließen: Für einen kurzen Moment haben Zeitung und Fernsehen auf ihre Situation aufmerksam gemacht, nur um sich dann gleich wieder auf die Suche nach neuen Schlagzeilen zu begeben. Und die Behörden scheinen sich genauso wenig für den Schutz der Verletzlichkeit er Minderjährigen eingesetzt zu haben wie für ihr höheres Interesse, in dessen Namen sie rechtlich verpflichtet sind zu handeln. Im letzten Monat wurden 100/120 unbegleitete Minderjährige im Zentrum registriert, darunter eine Gruppe von 20 Kindern, die sogar unter 15 sind und erst nach einigen Tagen verlegt wurden.  

Wir trafen sie mehrmals während sie in Pozzallo umherstreiften. Sie trugen Zettel mit Telefonnummern mit sich herum und waren auf der verzweifelten Suche nach jemanden, der für sie einen Anruf tätigen könnte. Müde versuchten sie ein paar Worte Englisch zu sprechen, die sich mit Tigrinya und Somali vermischten. Die Gleichgültigkeit der Menschen hier fanden wir schauerlich, vor allem, weil es sehr viele und sichtbar junge Kinder waren. Nur eine Gruppe lokaler Aktivist*innen koordiniert wie schon immer in der Vergangenheit das Sammeln von Kleidung, hört den Kindern zu und sensibilisiert die Mitbürger*innen. 
Die Zeugenaussagen der unbegleiteten Minderjährigen, die wir in Pozzallo trafen, haben den Kern der Anzeige gebildet, die vom VereinBorderline Sicilia gemeinsam mit ASGI, im Bereich des Projekts Openeurope in Partnerschaft mit Oxfam und der Diaconia Valdese eingereicht wurde. Sie wurden an die Staatsanwaltschaft am Gericht für Minderjährige in Catania sowie an die Staatsanwaltschaft des Gerichts von Ragusa übermittelt. Es ist zudem geplant Save the Children und das Hohe Kommissariat der UN für Geflüchtete über die Lebensbedingungen der Minderjährigen zu unterrichten. Als wir gestern Morgen in Pozzallo umherliefen, begegneten wir viel weniger Jugendlichen. Dies zwar nicht als Folge von Umsiedlung in taugliche Unterkünfte, sondern weil der Großteil der Minderjährigen von selbst gegangen ist, da sie jedem möglichen illegalem Handel und Ausbeutung ausgeliefert waren.  

“Als wir angekommen sind waren wir minderjährige Eritreer*innen zu 80, heute sind nur noch 8 im Zentrum übrig.“ sagt G. „Viele sind geflohen, und meinten, sie wollen ihre Reise nach Rom oder in eine andere Stadt fortsetzen, andere wissen es noch nicht. Wieder andere, noch sehr junge, sind auf eigene Faust losgegangen.“ Die Minderjährigen beschweren sich über das Fehlen von Kleidung, da es nur einmal Wechselkleidung bei der Ankunft gibt; das Fehlen von Shampoo, sie sind gezwungen, sich nur mit Wasser zu waschen, das fast immer kalt ist; und darüber, dass es keine Möglichkeit gibt, sich im Notfall an einen Arzt zu wenden, denn „die einzige Antwort ist: Sie müssen warten.“ Einige beklagen sich über Hautprobleme, für die sie keine Heilmittel bekommen. 
Das Fehlen von Plätzen in den Zentren für Minderjährige kann den verlängerten Aufenthalt von unbegleiteten Minderjährigen in diesen Orten nicht rechtfertigen. Gesetzlich müssen die Minderjährigen direkt nach ihrer Ankunft in Erstaufnahmezentren für Minderjährige untergebracht werden und dann an die SPRAR* übergeben werden. Zudem werden Gesetze im Hinblick auf den Aufenthalt in rechtlich nicht geeigneten Gebäuden gebrochen, die Minderjährigen leben im Hotspot unter schlechten Bedingungen. „Wir sind alle zusammen in einem einzigen Zimmer. Sie haben uns Informationszettel gegeben, aber wir wollen unsere Eltern anrufen können.“ Bis vor einer Woche gab es noch immer einige, denen es nicht gelungen war, mit ihren Familien verständlich zu kommunizieren. Und es darf hierbei nicht vergessen werden, dass wir von Überlebenden eines Schiffsbruchs sprechen!

Die Rechtfertigung der Behörden ist die, die wir nun schon seit Jahren hören, nämlich der Platzmangel für die unbegleiteten Minderjährigen. Bei dieser Auslegung wird das Phänomen nicht als Teil eines unzureichenden Aufnahmesystems verstanden. Diese Auslegung ruft zu einer dringenden Überarbeitung der gesamten Migrationspolitik der letzten Jahre sowie zur Notwendigkeit auf, einen legalen Zugang für Geflüchtete sowie die Öffnung humanitärer Korridoren zuzulassen. Es handelt sich um einen Vorwand, um zweierlei Maß und Maßnahmen zu legitimieren für Italiener*innen und für Menschen ohne die Staatsangehörigkeit, wenn es um Grundrechte geht. Fakten, an die man sich nicht gewöhnen kann, werden als schicksalhaft oder unveränderlich erklärt.

Die Notwendigkeit einen Rechtsstaat wiederherzustellen und menschlicher zu Handeln ist eine Verantwortung, der sich niemand entziehen kann. Von dessen Möglichkeit überzeugt zu sein ist wahrscheinlich einer der Ausgangspunkte, und dabei vor der Rhetorik derer zu fliehen, die sich für ohnmächtig erklären, nur, um andere Interessen zu verteidigen. „Ich bin sehr enttäuscht von Italien: Man hat mich gerettet, aber jetzt finde ich mich hier wieder, ohne jegliche Rechte. Auf jeden Fall habe ich viel Hoffnung, weshalb ich entschieden habe, hier zu bleiben. Denn manchmal müssen und können sich Situationen ändern.“ 

Lucia Borghi 
Borderline Sicilia

*SPRAR: Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 - 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchteten dienen. 

Übersetzung: Lara Simon