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Mittwoch, 29. Juni 2016

Anlandungen in Agrigento und Palermo: “Wo ist mein Mann? Helfen Sie mir, bitte!!”

Am Samstag, 25. Juni kamen mit dem Schiff der Küstenwache “Diciotti” 886 Migrant*innen in Palermo an, unter ihnen ca. 150 Frauen, alle sehr jung, und 96 Minderjährige. Die aus Nigeria, Gambia, Elfenbeinküste, Guinea und Senegal stammenden Migrant*innen sind nur einige Stunden in der sizilianischen Hauptstadt geblieben. Nur 13 kamen aus Eritrea, unter ihnen 3 Mädchen, die sich bewusst als volljährig ausgegeben hatten, trotz der genauen Informationen, die durch die IOM* vermittelt wurden.

Die “Diciotti” – Foto: Alberto Biondo

Die Anlandung war von einem großeb Durcheinander gekennzeichnet, weil das Hauptaukenmerk auf der Suche nach einem potentiellen Sündenböck lag: dem mutmaßlichen Schleuser. Zum Schluss wurden mindesten 3 Migranten als mutmaßliche Schleuser identifiziert und das stellte der palermitanischen Polizei, die eng mit der Küstenwache und Frontex zusammengearbeitet hat, völlig zufrieden und war ein weiterer Beitrag zur Ergänzung der ministerialen Statistiken, mit denen Italien in Europa punkten will. Aus diesen Statistiken geht hervor, dass immer mehr Minderjährige als mutmaßliche Schleuser festgenommen werden und diese Tendenz weiterhin steigend ist. In Palermo ist sogar ein Rekord aufgestellt worden, auf den man nicht stolz sein sollte. Hier wurde der jüngste mutmaßliche Schleuser festgenommen – ein gerademal Sechzehnjähriger aus dem Senegal, der zusammen mit zwei weiteren mutmaßlichen Komplizen zur Zeit im Gefängnis sitzt, während andere Verdächtige, bis weitere Beweise vorgelegt werden, in Aufnahmezentren untergebracht wurden. Die hohe Zahl an Tatverdächtigen beweist, dass die von Frontex in Zusammenarbeit mit der Polizei durchgeführten Befragungen nicht das Ziel erreichen den Begriff „Schleuser“ genauer zu definieren. Wer ist ein Schleuser? Ein krimineller Schlepper? Ein Mitreisender, der sich dadurch einen Rabatt des Preises für die eigenen Überfahrt erkauft hat? Ein Mitreisender, der mit Gewalt dazu gezwungen wurde, das Schiff zu steuern, auf dem er selbst hätte sterben können?  Oder der einzige Mensch an Bord, der das Schiff steuern konnte, nachdem die Schlepper es verlassen haben? Es gibt keine Gewissheit und oft ist die Grenze zwischen Täter oder Opfer sehr vage. Tatsache ist jedoch, dass in diesem Fall 5 mutmaßliche Schleuser zur Auswahl stehen, aus denen der eine wirkliche, echte Schleuser, oder vielleicht doch immer noch nur der vermutliche Schleuser auserwählt werden muss. Und vielleicht, wie schon so oft, werden die anderen 4 zu Zeugen.


Anlandungen in Palermo – Foto: Alberto Biondo
Die Erwachsenen sind in verschiedene italienische Regionen (Lombardei, Toskana, Piemont und Kampanien) verlegt worden, aber zuerst, aufgrund einer absurden Logik und des Zufalls (es fehlte der Begleitschutz für die Busse), wurden diejenigen, die später nach Piemont und Kampanien gefahren werden sollten, ins Polizeipräsidium gebracht, um dort identifiziert zu werden und sind deswegen erst spät in der Nacht abgefahren. Auch die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge mussten zuerst identifiziert werden. Manche waren im Krankenhaus, um sich bestätigen zu lassen, dass sie wirklich minderjährig sind. Am späten Abend sind sie dann zwischen Notaufnahmezentren der Caritas und palermitanischen Aufnahmezentren, die schon wegen der ständigen Geldprobleme völlig am Limit arbeiten und aus denen die Jugendlichen nach wie vor ausbrechen, verteilt worden (36 Jungen in Palermo und 16 Mädchen in Monreale).
In der letzten Zeit ereignet sich in Palermo ein neues Phänomen: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge halten sich auf der Straße oder in der Nähe des Bahnhofs auf, sie kommen aus anderen Städten nach Palermo und sind wahrscheinlich aus den Aufnahmezentren, wo sie untergebracht waren, ausgebrochen, aus welchem Grund auch immer. Auch in diesem Fall gelingt es der Gemeinde nicht, die unbegleitet minderjährigen Flüchtlinge zu unterstützen und zu begleiten und es sind wieder Mal die Ehrenamtlichen, die sich persönlich dafür einsetzen, dass die Jugendlichen nicht in die Fänge der Kriminalität geraten.
Eine weitere schwerwiegende Problematik bei dieser Anlandung war die Trennung von Familien (Eltern und Kinder, Eheleute, Geschwister). Die Geschichte, die wir erzählen möchten, ist die von Lilian (der Name ist erfunden), die mit einem Neugeborenen ankam und von ihrem Ehemann getrennt wurde, als sie vom Schiff ausstiegen. Aus gesundheitlichen Gründen kam Lilian als erste vom Schiff und wurde zuerst von den anwesenden Ärzten untersucht und sofort danach zum Hotspot Milo (Trapani) gebracht, obwohl sie sich weigerte und auf ihren Mann warten wollte. Als alle aus dem Schiff gekommen waren, fragte Osman (auch dieser Name ist erfunden) wiederholt und eindringlich nach dem Verbleib seiner Frau, aber niemand konnte oder wollte ihm zuhören und so wurde er in die Toskana gebracht. Borderline Sicilia hat den Hinweis zur Kenntnis genommen und schon eine Anfrage an das Rote Kreuz gestellt, um die Familie wieder zusammen zu bringen.
Das gleiche Schicksal hatten zwei Geschwister aus dem Senegal erfahren, die sich aus purem Zufall in Milo wiedertrafen.
Im Hotspot in Trapani herrscht Überfüllung, nachdem 500 Migrant*innen dorthin verlegt wurden und die Situation dort auch zuvor schon extrem prekär war, auch weil viele Migrant*innen längst in andere Zentren hätten verlegt werden sollen und das Personal unterbesetzt ist (das Ordnungsamt hat nur 2 Mitarbeiter*innen, die sich um Migrationsfragen kümmern und die Verantwortung für 3.000 Migrant*innen in der gesamten Provinz Trapani tragen).
Wie aus den Zeugenaussagen von Migrant*innen in Palermo und Trapani in den letzten Tagen zu hören ist, sollen mehr als 100 Migrant*innen aus dem Hotspot Milo geflohen sein. Diese Migrant*innen sollen mit dem holländischen Schiff von Frontex angekommen und noch nicht identifiziert worden sein. Sie hätten zuerst protestiert, weil sie behaupteten, das holländische Militär hätte ihnen ihr Hab und Gut weggenommen und nicht zurückgegeben. Die Migrant*innen hätten laut und eindringlich Erklärungen gefordert, die der Betreiber von Milo nicht hätte geben können und der Protest mündete dann in einen Massenausbruch. 

Ankunft in Agrigento – Foto: Alberto Biondo
Bei der Ankunft in Porto Empedocle mussten 150 Personen von dem Schiff der holländischen Marine, das nicht bis in den Hafen fahren konnte, erstmal auf die Schnellboote der  Küstenwache umsteigen, die zwischen Schiff und Kai pendelten. Sie sind dann auf dem Hafengelände mit Wasser und Essen versorgt und dann zum Polizeipräsidium gebracht worden, wo sie identifiziert wurden.
In Palermo, wo die Präsenz von Frontex im Hafen immer größer und bedrohlicher wird, wird die Auswahl der „Wirtschaftsflüchtlinge“ nicht mehr anhand der von ihnen abgegebenen Erklärungen getroffen, sondern direkt anhand ihrer Nationalität. Übrigens ist die Lage in Agrigento nicht anders! Es scheint so zu sein, dass bei geflüchteten Personen aus dem Senegal, Nigeria oder Mali automatisch „Arbeit“ beziehungsweise „Armut“ als Grund der Migration eingetragen wird, obwohl viele Geflüchtete klar sagen, dass sie Schutz beantragen wollen.

Die Frage “Wo ist mein Mann?” klingt noch in meinen Ohren nach und das angsterfüllte Gesicht von Lilian hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Wir wünschen, dass sie und Osman sich den vielen Hindernissen zum Trotz wiederfinden und wir werden uns dafür einsetzten, dieses System, das nur Opfer produziert, zu verändern.

Alberto Biondo
Borderline Sicilia Onlus

*IOM: Internationale Organisation für Migration


Aus dem Italienischen übersetzt von A. Monteggia