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Mittwoch, 12. August 2015

Soviel Heuchelei und Verwirrung, eine einzige Gewissheit: Der Tod – Agrigento

Wir sind auf unserer Reise in der chaotischen Stadt Palermo und bei der Unfähigkeit der lokalen, genauso wie der nationalen Politiker, angemessene Antworten zu diesem Phänomen zu geben, hängen geblieben. So nehmen wir die Fahrt wieder auf in Agrigento, wo die Lage gar nicht glänzend aussieht, sondern eher finster:  Alles scheint von den Machthabern verborgen, die Nachrichten berichten nur über besonders dramatische Fälle, der Rest wird verschwiegen. Agrigentos Situation ist besonders kritisch.
Die Provinz (den Bezirk Sciacca ausgenommen) zählt mehr als 40 Aufnahmezentren für minderjährige Flüchtlinge: 1.300 Jugendliche. Ein verlockendes Business, da das Tagegeld von 35€, das der Dienstleister bekommt, auf 45€ steigt, wenn es um Minderjährige geht. Allein in Agrigento gibt es 20 Aufnahmezentren für Minderjährige, aber trotz dieser großen Anzahl gibt es nur eine einzige Abendschule für eine erste Alphabetisierung.

Das größte Problem besteht im chronischen Mangel an freiwilligen Vormündern. In den Zentren bleiben die Jugendlichen vier bis fünf Monate ohne Vormundschaft – mit der Konsequenz, dass die wichtigsten und notwendigsten Aktivitäten nicht durchgeführt werden können. Stellt euch vor, dass z.B. in gesundheitlichen Notsituationen die zuständigen Mitarbeiter in den Zentren als Vormund eingesetzt werden. Dies bringt aber klare Widersprüche mit sich, da die Figur des Vormunds und des Mitarbeiters gegensätzliche und sich ergänzende Rollen verkörpern, so dass ein wirklicher Schutz nicht mehr gewährleistet werden kann. Bis vor kurzem hat das Gericht von der ehrenamtlichen Unterstützung von Anwälten und Sozialarbeitern Gebrauch gemacht, um das bürokratische Verfahren für die Minderjährigen zu beschleunigen. Heutzutage beschweren sich die Vormünder, dass sowohl die Gerichte als auch die kommunale Verwaltung und das Sozialamt sie nicht unterstützt hätten.

Darüber hinaus beklagen sich die Minderjährigen, dass sie sich wegen des Mangels an Mediatoren und Psychologen nicht mit den zuständigen Mitarbeitern der Zentren verständigen können. Ein professioneller Mediator wird nur in Erwägung gezogen, wenn Situationen in den Zentren besonders kritisch werden. Wie werden Fördermittel investiert? Wer kontrolliert die Strukturen? Wer hört den Jugendlichen und deren Vormündern zu, die ganze Bücher über die undurchsichtigen Dynamiken innerhalb der Zentren schreiben könnten? - Die Antwort ist immer die gleiche: niemand. Auch weil man sich an Notzustand und dem daraus resultierenden bürokratischen Chaos besser bereichern kann. Nach langer und vergeblicher Hoffnung ist die Lösung für viele Minderjährige zu fliehen, die Zentren zu verlassen, denn– wie uns ein Vormund erzählt – „die Minderjährigen erleben Italien nicht; sie sind total von der Realität entkoppelt, und wir sind schuld, weil es keinen Integrationsprozess gibt und niemand darüber Kontrolle hat. Ganz im Gegenteil - es gibt sogar ein heimliches Einverständnis zwischen denjenigen, die auf Kommunalebene kontrollieren müssen, und den zuständigen Mitarbeitern für die Minderjährigen“.

Die minderjährigen Flüchtling verlassen die Zentren, wie D., ein Mädchen aus Senegal. Sie wurde nach der Ankunft von ihrem jüngeren Bruder getrennt. Die Mitarbeiter berücksichtigen häufig nicht die Perspektive der Angekommenen, die wie Nummern behandelt werden, und hören wenig zu. D. hat angefangen ihren Bruder zu suchen: Zunächst war er in einem Zentrum untergebracht, dann wegen schwerer Gesundheitsprobleme im Krankenhaus, aber letztendlich hat sie es dank ihrer Hartnäckigkeit und ihrer Hoffnung, zusammen mit dem einzigen Mitglied ihrer Familie zu leben, geschafft, ihn wiederzufinden. Bürokratische Hindernisse gaben ihnen keine Möglichkeit zusammen zu leben. So hat D. sich entschieden, zusammen mit dem Bruder wegzugehen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, das ihnen bis jetzt verweigert wurde. Auf wen wird D. sich verlassen? Wie wird sie die skrupellosen Profiteure bezahlen, in deren Hände sie sicherlich geraten wird, um ihren Traum zu verwirklichen? Wir werden das nie erfahren, aber wir sind sicher, dass Menschenschmuggler sich bei den europäischen Politikern für die Gesetze bedanken, die ihnen ihre grausame Arbeit erleichtern.

In Agrigento gibt es nicht nur Minderjährige, sondern auch Familien und Erwachsene, die Gäste in den 12 CAS* in der Provinz Agrigento geblieben sind, nachdem die von Omnia Academy geleiteten Zentren in Naro und Favara aufgrund von Nichteinhaltung der rechtlichen Vorgaben geschlossen wurden. Die Flüchtlinge werden von CSPA** in Lampedusa nach Agrigento versetzt. Sie werden von Dutzenden von Polizisten von Montag bis Freitag mit der Fähre, die von Montags bis Freitags täglich anlegt, begleitet. Wir gehen davon aus, dass der Reeder ziemlich viel daran verdient.


Nachdem sie in Porto Empedocle angekommen sind, ohne Mediatoren und ehrenamtliche Helfer, werden die Flüchtlinge nach Villa Sikania (in Siculiana) versetzt, ein riesiges Zentrum. Nach ein paar Wochen, oder Monaten, werden sie weiter entweder in andere Zentren in Sizilien oder – mangels Plätzen in unserer Region – nach Nord- und Mittelitalien versetzt.

Unsere Reise ist noch nicht beendet. Die Fortsetzung folgt von Trapani.
    
Alberto Biondo
Borderline Sicilia

*CAS: Außerordentliches Aufnahmezentrum
**CPSA: Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge auf Lampedusa

Aus dem Italienischen von Miriam Burbarelli