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Donnerstag, 11. Juni 2015

Newsletter Borderline Sicilia – MAI 2015

Inhalt:
  • Die Zahl der Anlandungen wird nicht weniger und von den Toten will niemand sprechen.
  • Die “schwarzen Löcher” in der Aufnahmemaschinerie werden von jenen getragen, die keine Alternative haben.
  • Die neuen Beschlüsse der Europäischen Kommission:  wie weiter in der europäischen Migrationspolitik?
  • Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission über die CARA*, die Aufnahmezentren für Asylbewerber und die CIE*, die Abschiebehaftzentren
  • Die Beobachtungsstelle Rassismus und Fremdenfeindlichkeit meldet aus Scordia: Senegalese mit Messerstichen im Gesicht verletzt. 

DIE ZAHL DER ANLANDUNGEN WIRD NICHT WENIGER UND VON DEN TOTEN WILL NIEMAND SPRECHEN
Allein während des letzten Maiwochenendes sind circa 3600 Migranten in Lampedusa und in den Häfen Siziliens in Trapani, Palermo, Porto Empedocle, Augusta, Catania und Pozzallo gelandet. Unter ihnen auch 17 unterwegs Verstorbene. Im Lichte der letzten Beschlüsse der Europäischen Kommission fragen wir uns, was diese Menschen, die keine andere Wahl als die Flucht haben, hier erwartet. 

Wer nach Italien kommt und auf Demokratie und Respekt vor dem menschlichen Leben hofft, kann auch an Land sterben. 
Von den immer zahlreicheren Opfern der Katastrophen bei der Überfahrt erfahren wir aus den Medien. Aber es sterben täglich auch Migranten in unserem Land, ohne dass darüber berichtet wird. Die Heuchelei derer ist beschämend, die sie unsere Brüder nennen, es aber gleichzeitig vorziehen, diese Todesfälle schnell zu vergessen – die die wirklichen Fluchtgründe und die aktuelle Situation der Flüchtlinge nicht verstehen wollen – genauso wenig wie unseren Anteil als Weltbürger an ihrem Schicksal. 

Unter diesen zahlreichen unsichtbaren Toten ist auch ein Jugendlicher aus Pakistan. Er ist auf der Straße zwischen Pian del Lago und dem Aufnahmezentrum auf dem Fahrrad angefahren worden und seinen Verletzungen erlegen. An seiner Gedenkfeier war kein einziger offizieller Behördenvertreter anwesend. Diese sind sich ihrer Mitverantwortung und der Konsequenzen nicht bewusst, welche ein System hervorbringt, das die Aufnahmezentren weit abgelegen einrichtet, und die nur durch schlecht unterhaltene Straßen mit den urbanen Zentren zu erreichen sind. Das ist eines der unzähligen Beispiele für die Unterscheidung zwischen Menschen der Kategorie A und B und dafür, dass man sich nicht einsetzt für die Rechte und Integration der Flüchtlinge. 

Das Anwenden verschiedener Massstäbe scheint auch die Diskussion über die Bergung des Wracks und der Opfer des Schiffsunglücks vom 18. April zu prägen. Deswegen lancieren verschiedene Vereinigungen, unter ihnen Borderline Sicilia, folgenden Appell:
die Verwandten müssen ihren Toten eine würdige Bestattung bereiten können; die Umstände für das Schiffsunglück müssen geklärt werden und die Organisatoren dieser Reisen in den Tod müssen zur Verantwortung gezogen werden. 

DIE “SCHWARZEN LÖCHER” IN DER AUFNAHMEMASCHINERIE WERDEN VON JENEN GETRAGEN, DIE KEINE  ALTERNATIVE HABEN
Das gleiche System, das den Toten im Meer den Rücken kehrt ist auch dabei, die „Aufnahmemaschinerie“ auf prekäre Weise zu reorganisieren. Sie erhöhen die Transfers der neu ankommenden Migranten in andere Regionen; eine höhere Transparenz seitens der Präfekturen für die Beauftragung des Betriebes eines Zentrums wird angestrebt. So werden neue Kooperativen als Betreiber der Aufnahmestrukturen zugelassen. Oft haben diese jedoch weder Erfahrung noch Kompetenzen auf dem Gebiet der Immigration. Zudem beginnen die neuen Territorialkommissionen ihre Arbeit mit einer nicht zu rechtfertigenden Langsamkeit und Verspätung. All das geht auf Kosten der Migranten, die in Unsicherheit und Sorge über ihre Zukunft immer leichter Opfer der illegalen Märkte werden.

Die Erschwernisse wegen des Mangels an Mitteln und die Verspätungen der Rückerstattungen machen den Kommunen und Aufnahmezentren zu schaffen, die dadurch zu massiven Ausgabekürzungen gezwungen sind. Viele Betreiber erhalten seit Monaten keinen Lohn, was ihre Arbeitsmotivation nicht erhöht. Die Migranten erhalten oft nicht einmal ihr vom Gesetz zustehendes Taschengeld. In dieser Kettenreaktion der finanziellen Interessen bezahlen die Flüchtlinge, die keine Alternative haben, den höchsten Preis. 

In dieser Misswirtschaft der finanziellen Mittel, der auf ein Minimum reduzierten Dienstleistungen und des Mangels an Kontrolle haben Spekulanten ein leichtes Spiel. Das trifft auf Mitglieder der “Omnia Academy” zu, ein Unternehmen, das verschiedene Empfangszentren in der Region von Agrigent betreibt, darunter auch das in Favara. Gerade hier sind polizeiliche Untersuchungen in Gang. Es besteht der Verdacht, das einige der Mitglieder an Betrügereien und Delinquenz beteiligt sind. Die Betreiber hätten Abgänge aus den Zentren nicht gemeldet und so Finanzierungen bezogen, die ihnen nicht mehr zustanden.

Sehr verschieden davon ist ein Management, das als Ziel den Schutz und die Rechte der Migranten hat. Die Kooperative Don Bosco 2000, die Betreiberin der Zentren CAS und SPRAR* in Piazza Armerina  haben einen hohen Standard in den Zentren und bestreben damit die Integration der Gäste in die Gesellschaft, in der sie leben. Trotz aller Trägheit des bürokratischen Systems streben sie eine würdige Aufnahme an, die die Autonomie für ein zukünftiges, neu aufzubauendes Leben fördert. 

DIE NEUEN BESCHLÜSSE DER EUROPÄISCHEN KOMMISSION: DIE NOTWENDIGKEIT SICH ZU ENTSCHEIDEN
Die neuen Beschlüsse der Europäischen Kommission zielen auf die Stärkung von Frontex und auf die Festlegung von Quoten und ziemlich fragwürdigen Kriterien für die Verteilung der Migranten in Europa.
Die Versprechen für die Revision der Dublin Vereinbarungen bleiben vage und jene, denen es gelingt, setzen ihre Reise fort. Viel zu Wenige sprechen von den unmenschlichen Umständen auf den Fluchtwegen auch durch Europa, und wenn, dann um die schlechte europäische Politik anzuprangern und den italienischen Anteil daran vergessend, den unsere “Aufnahmemaschinerie” darin spielt.

Einige Europaabgeordnete haben eine Interpellation eingereicht betreffend der Vorkommnisse im CSPA* Pozzallo, dem Erstaufnahmezentrum nach der Ankunft. Im April seien Flüchtlinge mit Gewalt und Elektroschocks gezwungen worden, ihre Fingerabdrücke zu hinterlassen. Eine wichtige Massnahme um einen beunhigenden Vorfall ans Licht zu bringen, der zeigt, wie überfällig die Dublin Abkommen sind und wie ihre Anwendung in strukturelle oder manifeste Gewalt umschlagen kann. 

Aber die erste staatliche Massnahme als Reaktion auf die Situation ist die Eröffnung eines neuen Frontexsitzes in Catania. Ein Vorgehen, das zeigt, dass Sizilien militarisiert und die Festung Europa abgeriegelt werden soll. Es werden Investitionen in einer Stadt wie Catania getätigt, die gleichzeitig die Mittel für die Integration der Flüchtlinge herunterfährt. Der Appell von humanitären Vereinigungen, dass eine Veränderung der internationalen Migrationspolitik und ein neues Recht für europäisches Asyl dringend ist.

DIE PARLAMENTARISCHE KOMMISSION ÜBER CARA UND CIE IN SIZILIEN: DAS ZENTRUM IN MINEO IST NICHT VEREINBAR MIT DER MENSCHENWÜRDE
Die zuständige parlamentarische Kommission für die CARA und CIE kommt nach Sizilien und beginnt ihren Besuch in Mineo, dem grössten Aufnahmezentrum Europas. Dort, vor dem Zentrum, hat zum Anlass des 1. Mai eine antirassistische Vereinigung zusammen mit einigen Migranten eine Versammlung organisiert. Das Misstrauen und die Zurückhaltung der Flüchtlinge sich zu äußern, zeigt die Schwierigkeit, ein System der Vergeltung und Ausbeutung aufzudecken, die verbunden sind mit den Lebensbedingungen innerhalb des Aufnahmezentrums. Die lokalen Medien neigen dazu, das zu ignorieren. 

In der Anhörung vor der parlamentarischen Kommission präsentieren die Vertreter der MEDU, der Ärzte für Menschenrechte, die seit Monaten im Zentrum von Mineo tätig sind, einen Bericht, der darlegt, dass die Organisation und die Überbelegung tödliche Konsequenzen haben für das Leben der Migranten. In einer Struktur mit mehr als 4000 Migranten statt der 2000 vorgesehenen, bekommen verwundbare Personen nicht mehr die nötige Unterstützung. Weitere Faktoren, welche die psychophysische Gesundheit der Flüchtlinge beeinträchtigen, sind: das Fehlen der nötigen Dokumente für die Aufnahme ins nationale Gesundheitssystem, die Abgelegenheit des Ortes und die Warteschlangen ohne Ende für jeden Belang ihres täglichen Lebens.  

Auch der Abgeordnete der Partei Sel, “Linke, Oekologie und Freiheit”, begleitete die parlamentarische Kommission auf ihrem Besuch. Er prangerte die absolute Unzulänglichkeit innerhalb des Aufnahmezentrums an und forderte die totale Transparenz der Administration seitens der Betreiber 

Die sizilianische Sektion der ASGI, der Vereinigung für juristische Studien der Immigration, verfasst einen Brief an alle lokalen und nationalen Institutionen, der Aufklärung verlangt über die Kritiken und Unterlassungen das Aufnahmezentrum und die Wiederherstellung eines legalen Managements, sowie die Gewährleistung der Sicherheit der Migranten fordert. ASGI hofft auf die Rückkehr zum früheren Modell der kleinräumigen Unterbringung und mit national gültigen Regeln zum Wohle und zur bestmöglichen Integration der Migranten. 

BEOBACHTUNGSSTELLLE RASSISMUS UND XENOPHOBIE: IN SCORDIA WIRD EIN JUNGER SENEGALES ANGEGRIFFEN
In Scordia bei Catania wurde ein Senegalese aus dem lokalen SPRAR beim Verlassen eines Nachtlokals mit einem Messer von Unbekannten niedergestochen. Sein Gesicht musste mit 19 Stichen genäht werden. Offenbar haben die Angreifer Geld verlangt. In einem Klima von Xenophobie und gesellschaftlicher Zerrissenheit werden die Frustrationen oft an den Schwächeren und Verwundbaren ausgelassen.   

*CARA - Centro di accoglienza per richiedenti asilo: Aufnahmezentrum für Asylsuchende
*CIE - Centro di Identificazione ed Espulsione: Abschiebehaft
*SPRAR - Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge,
kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 - 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Flüchtlinge dienen.
*CSPA - Centro di Soccorso e prima Accoglienza: Zentrum zur Ersten Hilfe und Erstaufnahme. 

Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Tassé Tagne
 

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