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Dienstag, 10. Februar 2015

Wiedereröffnung unter neuer Führung: Erstaufnahme-Zentrum für Minderjährige in Villa Montevago bei Caltagirone

Seit Oktober 2014 ist das Erstaufnahme-Zentrum für Minderjährige in Villa Montevago bei Caltagirone wieder geöffnet. Nach den Vorfällen des letzten Sommers - mezzomagazine - wurden die jungen Flüchtlinge, verbittert wegen der Wartezeiten und Bedingungen, eilig in nahgelegene Zentren verlegt und die Einrichtung wurde geschlossen (siciliamigranti).
In den darauf folgenden Monaten war es die Genossenschaft La vita è adesso (Jetzt ist das Leben), die nach großen Renovierungsarbeiten, die Führung des Zentrums übernahm. La vita è adesso wurde von ehemaligen Mitgliedern der Genossenschaft La forza della vita (Die Kraft des Lebens), welche das Zentrum zuvor geleitet hatte, gegründet.

Neue Mitarbeiter, neue Regeln und ein Abkommen mit dem Sozialdienst in Augusta. Nach der Wiedereröffnung kann das Zentrum den Großteil der in der Provinz Syrakus ankommenden Minderjährigen aufnehmen. Die anderen Einrichtungen der Gegend sind noch immer am Limit ihrer Auslastung. So zum Beispiel das Zentrum in Priolo und vor allem das Zagare in Melilli wo sich noch immer an die hundert Minderjährige zusammen mit Erwachsenen, welche bereits zuvor im Zentrum waren,  eine Unterkunft teilen.
Villa Montevago liegt in der Peripherie der Stadt Caltagirone und ist mit dieser und mit dem nahegelegenen Krankenhaus durch zahlreiche Buslinien verbunden. Ich komme am späten Vormittag eines Wochentags ins Zentrum und finde ungefähr 30 junge Männer im Hauptraum vor, die gerade ein Fußballspiel im Fernsehen verfolgen. Nebenan  findet ein organisatorisches Treffen der Mitarbeiter statt, und der Verantwortliche, Dr. Spinello lädt mich ein daran teilzunehmen. Wie mir Spinello darauf mitteilen wird, besteht das Team aus zehn Mitarbeitern, darunter fünf Psychologen und Erzieher, eingestellt als erzieherische Mitarbeiter und aus weiteren Hilfskräften die sowohl für die Reinigung als auch für die Essensausgabe zuständig sind. Der Verantwortliche und Psychologe kümmert sich um die Organisation und Supervision aller Tätigkeiten. Es mangelt nicht an Vorschlägen wenn auch die Organisation noch am Anfang zu stehen scheint und nicht dort, wo sie nach vier Monaten stehen sollte: Unsicherheit herrscht bezüglich der Wartezeit und den falls notwendig zu kontaktierenden Bezugspersonen. Die Essenslieferung trifft ein und die Frage nach der Versorgung mit Speisen wird von Spinello vorgezogen. Er präzisiert: „Anfangs gab es viele Beschwerden über die Qualität des Essens, aber dann wurde das Menü mit den Bewohnern abgesprochen und es läuft nun entschieden besser.“ Tatsächlich scheinen die jungen Männer das Essen zu schätzen, oder besser gesagt, als ich etwas später mit ihnen spreche höre ich heraus, dass die Versorgung mit Lebensmitteln hier keine große Beunruhigung darstellt. „Hauptsache wir bekommen nicht immer nur Pasta,“ antwortet einer.
Spinello erläutert mir einstweilen die aktuelle Lage: „Zum heutigen Tag befinden sich 74 Bewohner im Zentrum. Die meisten stammen aus Gambia, Senegal und Mali, einige aus Ägypten und der Elfenbeinküste und einer der Minderjährigen ist bengalischer Abstammung. Die Bewohner welche am längsten hier untergebracht sind, sind Ende November angekommen. Die Letzten hingegen kamen vor ungefähr zehn Tagen im Hafen von Augusta an und dann zu uns. Unser Hauptziel ist es ihnen einen Aufenthalt, der 90 Tage nicht überschreitet, zu garantieren so wie es das Gesetz vorsieht und wie es bis jetzt der Fall war. Allerdings ist ein Aufenthalt nicht länger als drei Monate ein wirklich schwieriges Unterfangen und wir müssen uns mit der heiklen Frage der Vormünder beschäftigen. Letztlich waren wir fast gezwungen die Verordnung der Staatsanwaltschaft des Jugendgerichts in Catania anzunehmen. Dabei stimmte das Gericht zu, dass Mitarbeiter der Strukturen selbst als Tutor der Minderjährigen tätig sein können.“ Der Verantwortliche zeigt mir ein Dokument, das an die wichtigsten Zentren für Minderjährige der Provinz gesendet wurde und im ganzen Distrikt, auch in Ragusa und Syrakus, gültig ist. „Für uns ist das ein Rückschritt,“ so der Koordinator. Seiner Meinung nach ist eine derartige Praxis nicht effizient, „Bezüglich der Vormünder sind wir bereits in Verhandlung mit Arci, um jedem Minderjährigen innerhalb kürzester Zeit einen Vormund garantieren zu können. Von den derzeitigen Bewohnern haben elf bereits einen. Ich selbst als Psychologe und Koordinator führe mehrere Gespräche mit den einzelnen Personen und für jeden führe ich ein Protokoll, das sie auch auf ihren späteren Verlegungen begleiten wird, in der Hoffnung, dass es den Einrichtungen, in denen sie zukünftig unterkommen werden, nützlich sein wird.“
Die Direktive, erlassen von der Staatsanwaltschaft am Jugendgericht Catania vom letzten Dezember, erweist sich als  x-te Maßnahme, diktiert vom Notstand. Sie ist schädigend und weist Mängel an einer Reihe von Grundrechten auf. So ist im Text tatsächlich von einem unstillbaren und anhaltenden Strom von ausländischen unbegleiteten Minderjährigen entlang der sizilianischen Ostküste die Rede. Am Ende werden die Aufnahmezentren autorisiert, die Rolle und Rechte des Vormunds auszuüben, bis die Minderjährigen einen persönlichen Vormund zugesprochen bekommen. Diese Abweichung findet ihre juristische Rechtfertigung in Art. 402 des Zivilgesetzbuchs, auf den sich die Staatsanwaltschaft bezieht. Ein positiver Effekt, die Wartezeit bis zur Eröffnung des Verfahrens wird verkürzt. Doch die Außerkraftsetzung hat vor allem negative Nebeneffekte. Sie eliminiert die einzigen außenstehenden und unabhängigen Bezugspersonen, der die ausländischen Minderjährigen im Laufe ihres Asylverfahrens begegnen. Die Direktive legitimiert außerdem den Interessenkonflikt zwischen den Betreibern der Zentren und der Funktion des Vormundes und riskiert sämtliche Anklagen und Kritiken von außen, die oft von Vormündern kommen, zu verschweigen. Somit würde die erste Pflicht der Vormünder, die Minderjährigen zu schützen, verletzt werden.
Es muss unterstrichen werden, dass diese Regelung zeitgleich und unter demselben Licht in Kraft tritt, unter dem auch Untersuchungen über die Verwaltung der zur Aufnahme bestimmten Gelder laufen. In Anbetracht dessen wäre es wohl passender, die externen Kontrollen zu verstärken statt sie gegen Null zu kürzen. Im weiteren Gespräch mit Spinello kommt heraus, dass auch die Zusammenarbeit mit den Sozialassistenten dringend und unbedingt verbessert werden muss. „Leider haben wir keine internen Sozialarbeiter und die der Gemeinde Augusta kommen höchstens einmal im Monat vorbei.“ Spinello fährt fort: „Das ist ein weitere Punkt an dem wir immer in Zusammenarbeit mit Arci arbeiten wollen und ebenso wie an einer angemessenen juristischen Beratung.“ Wir machen einen Rundgang durch die geräumige und frisch sanierte Einrichtung. Mehrere Räume werden gemeinschaftlich als Gebetsraum oder Fernsehsaal genutzt. Dort finden außerdem soziale Aktivitäten statt, die auch durch den Einsatz der Mitarbeitern von Save the Children zu Stande kommen. Die Minderjährigen schlafen in beheizten Zimmern, die mit Stockbetten ausgestattet sind und alle um die 12 Plätze bieten. Während meines Besuchs sind viele noch immer im Bett, andere sind im Zentrum unterwegs oder vor dem Fernseher. Die meisten der Bewohner besuchen nachmittags Italienisch-Kurse in den Zentren Eda in Caltagirone und trainieren mit den städtischen Fußballmannschaften.
Der Zeitrahmen der Verlegungen in andere Zentren bleibt ein heikler Punkt. „Hier geht es mir nicht schlecht,“ sagt mir M., den ich später im Fernsehraum treffe. „Das Problem ist, sie haben mir versprochen, dass ich innerhalb von drei Monaten in eine kleinere und besser ausgestattete Einrichtung verlegt werde. Ich befürchte allerdings, dass es nicht dazu kommen wird. Ich bin seit kurz nach Weihnachten hier und ich habe Jungs umsiedeln sehen, die schon vor mir da waren, aber auch welche, die zusammen mit mir angekommen sind. Das verstehe ich nicht.“ Während unseres Gesprächs folgt eine Gruppe von Bewohnern eilig dem Koordinator in den Hof. „Sie sprechen über Verlegungen,“ erklärt mir M. weiter. „Auch dieses Mal muss ich warten.“ Ich frage M. ob er einen Vormund habe und ob er mit ihm oder einer anderen Person über das Asylverfahren und seine Papiere gesprochen habe. „Nicht wirklich. Das Essen hier ist in Ordnung und die Mitarbeiter sind freundlich, aber sie sprechen nicht mit uns über unsere Papiere und ich weiß auch nicht was ein Vormund ist.“ Dieselbe Aussage höre ich auch von einem anderen Jungen aus Gambia. „Sie sagen uns, dass wir höchstens drei Monate bleiben werden, deshalb verstehe ich nicht wieso wir noch warten müssen.“ Diesbezüglich frage ich einige von ihnen, was es mit den friedlichen Protesten im Zentrum auf sich hat, über die vor kurzem in den Medien berichtet wurde. Dabei interessiere ich mich besonders für den Vorfall von vor einer Woche, als laut Medien einige Bewohner der Villa versucht haben sollen, das Zentrum selbst zu verwalten, indem sie die Eingangstore blockierten und so den Mitarbeitern den Zugang verweigerten. Die Nachrichten über unregelmäßige und friedliche Proteste im Zentrum wird von den Minderjährigen als unaufschiebbare und notwendige Demonstration ihrer unerträglichen Frustration gesehen. „Wir tun nichts Böses. Wir fordern lediglich, nicht betrogen, sondern wie versprochen verlegt zu werden.“ Auch Spinello möchte zu diesem Thema noch einiges präzisieren: „Es handelte sich dabei um einen Einzelfall, bei dem einige Bewohner dem Koordinator den Eintritt verweigert haben. In ihren Augen ist er es, der die Verlegungen organisiert und somit ist auch er für die verlängerte Wartezeit einiger Bewohner verantwortlich. Aber es war ein friedlicher Protest, der sich gleich und im Guten aufgelöst hat. Das lässt sich auch daran erkennen, dass sich einige Migranten, jene welche die Blockade initiiert hatten, am folgenden Tag zusammen mit den Mitarbeitern des Zentrums ins Büro der Sozialdienste von Augusta begeben haben wo ihnen erklärt wurde wieso es zu den zeitlichen Verzögerungen, verursacht von verwaltungstechnischen und organisatorischen Problemen, kommt. Dieses Treffen war sehr wichtig, auch weil die Migranten, die daran teilgenommen hatten, daraufhin ihren Leidensgenossen im Zentrum die wahren Ursachen für die verspäteten Verlegungen nennen konnten.“ Es kommt einem der Gedanke, dass die Erklärungen, welche bis dato gegeben wurden nicht ausreichend waren. Aber die Zeit läuft, auch die unendliche Wartezeit dieser Jugendlichen. Bevor ich mich verabschiede unterhalte ich mich noch eine Weile mit einigen jungen Migranten aus Mali. Geschichten, Anekdoten, Scherze über die täglichen Unannehmlichkeiten jener, die kein italienisch sprechen. Sie machen einen ruhigen Eindruck, aber sie wirken auch sehr zurückhaltend während sie darüber sprechen. Ich bevorzuge es ihre Geduld mit meinen Fragen nicht zu sehr auszunutzen. „Ich bin vor drei Monaten hier angekommen und seit diesem ersten Tag denke ich nur an meine Papiere und daran, diesen Ort wieder zu verlassen. Das ist alles was ich zu sagen habe. Zurzeit ist das alles, was ich zu meinem Leben zu sagen habe.“ Eine Feststellung, gegen die es keinen Widerspruch gibt. Eine Festestellung aus dem Mund eines 16 Jahre alten Jungen, der in der Wüste und auf dem Meer sein Leben riskiert hat, um ein Land zu erreichen von dem er glaubte, es sei frei. Und der jetzt, trotz allem, versucht seine Bestimmung nicht zu verlieren, aber wie lange wird er noch durchhalten können?

Lucia Borghi
Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner