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Mittwoch, 24. Dezember 2014

Schutz und Sicherheit für aus Wüsten und Containern geflüchtete Jugendliche im Wohnheim von Mazzarino

Repubblica.it - von Concetta Santagati
MAZZARINO – Es sind „Überlebende“, die gezwungen waren, über ihre Landesgrenzen zu gehen, da sie ein Leben als ehrliche und freie Menschen „gewählt“ hatten. Seyed Shoaib (21-jähriger Afghane) hätte sich von den Taliban anwerben lassen können, um so seinen Onkel (den Bruder seines Vaters, der bei einem Verkehrsunfall auf dem Weg in die Schule, in der er unterrichtete, umkam), der ihm Tag und Nacht zusetzte, zufriedenzustellen. Zan (23 Jahre, aus der Côte d'Ivoire) wollte Unternehmer werden.

Er hatte in der Côte d'Ivoire einen großen Landbesitz, aber während der schrecklichen Bürgerkriegsjahre zwischen den größten Ethnien des Landes hatte sich ein Betrüger und Krimineller (von einer Ethnie, die der seinen entgegenstand) beim Tod seines Vaters all seine Güter angeeignet, stieß ihn ins Elend und verjagte ihn. Shoaib und Zan und mit ihnen viele andere Jugendliche haben ein widriges Schicksal gemein, eine politisch-soziale Situation, die jedem Prinzip der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit und der Demokratie entgegensteht. Und sie haben eine „Wahl“ getroffen, auch dank ihrer Mütter, die die wahren Protagonistinnen ihres Schicksals sind und die darauf bestanden haben, dass sie diese bedrohlichen Orte verlassen sollten.

Die Liebe ihrer Mütter. Es ist die Liebe ihrer Mütter, die sie dazu gebracht hat, sich heute ein neues Leben in Mazzarino aufzubauen, tausende Kilometer von ihrer Kultur, von ihren Ursprüngen, von ihren Bindungen und Traditionen entfernt. Angesichts all dessen, angesichts der Jugendjahre, die sie als Flüchtlinge verbracht haben auf gefährlichen, teuren und erschöpfenden Wanderschaften, in denen sie herangewachsen sind in Wüsten und auf Meeren, in Booten und Containern, inmitten von Unheil (Gewalttätigkeiten, Ängsten, Alpträumen und Hunger), konnten sich die Jugendlichen, die von dem Verein „I Girasoli“ („Die Sonnenblumen“) aufgenommen wurden, nicht vorstellen, in ein „Heim“ zu kommen, in dem sie endlich Schutz und Sicherheit finden könnten und von wo aus sie erneut beginnen könnten zu hoffen und zu leben: Mazzarino. Shoaib und Zan bekommen glänzende Augen, wenn sie von ihrem Leben sprechen, aber sie öffnen sich gern, um alle wissen zu lassen, dass sie es geschafft haben dank des SPRAR-Projekts (System des Schutzes für Asylsuchende und Geflüchtete), das von dem Verein „I Girasoli“ verwaltet wird (Betreiber der Einrichtung des Projekts „Mazzarino, Willkommensstadt“, die seit 2007 minderjährige unbegleitete Asylbewerber aufnimmt).

Jenes leichte Zittern der Hände. Während unseres Gesprächs macht mich Shoaib auf ein leichtes Zittern seiner Hände aufmerksam (Zeichen seines Kindheitstraumas, als er zusah, wie sein bester Freund ermordet wurde, der beschlossen hatte, jenem Taliban-Onkel zu folgen, der ihm einfach keine Ruhe ließ), aber er versichert mir, dass das schon viel besser wurde, seitdem er in Mazzarino ist. Gegenüber solchen Geschichten verhalten sich „I Girasoli“ unaufgeregt, ohne übertriebene Reaktionen. Kein besondere Behandlung, nur die, die sich aus einer guten Aufnahme, Integration, Bildung, Berufsausbildung ergibt. Das sind die goldenen Regeln, die die gute Praxis der „I Girasoli“ auf nationaler und europäischer Ebene aufgestellt haben und genau aus dieser Existenz des Zentrums in Sizilien entsteht der „Willkommenskit“, der von der „Autorità Garante per l'infanzia e l'adolescenza“ (Behörde zum Schutz der Rechte von Kindern und Jugendlichen) hochgehalten wird.

Das „Heute“ von Zan. Heute arbeitet Zan, der sich zum „Schweißer“ ausbilden ließ, seit 5 Jahren in einer Firma vor Ort, er würde Mazzarino nie für einen anderen Ort eintauschen, er hat sich sogar eine Wohnung gekauft, hat eine italienische Freundin und versteht den sizilianischen Dialekt. Er findet Gefallen an körperlicher Arbeit und am lokalen Radio. Shoaib mit seinen in Dubai und Griechenland gesammelten Erfahrungen ist ein geschickter Bäcker, dem es gelungen ist, einen Ausbildungskurs zu besuchen und ein bisschen Geld zur Seite zu legen, er treibt gern Sport und träumt davon zu studieren. Aber da ist auch Shopon, Angestellter in der Backstube einer renommierten Konditorei, so wie Papi, der einen zeitlich befristeten Arbeitsvertrag in einem Gastronomiebetrieb in Mazzarino bekommen hat, und was soll man zu Noufou sagen, der sich am Institut Ettore Maiorana in Piazza Armerina zum Tourismusexperten ausbilden lässt und der heute nach einem zweijährigen Kurs zum Kulturmediator zu arbeiten begonnen hat.

Widerstand gegen die Schikanen der Bürokratie. Die Kulturmediatoren Alì, Jamil und Karì haben auf eine Kebabimbissbude gesetzt, Karì ist sogar eine Familienzusammenführung gelungen, er konnte seine Frau und die beiden Kinder zu sich holen. Aber auch für „I Girasoli“ gab es Schwierigkeiten und auch sie waren verzagt angesichts der Schikanen durch die Bürokratie, des schwierigen Zugangs zu Dienstleistungen, der Verzögerungen der finanziellen Mittel, der diversen Heucheleien unterschiedlicher Personen. Auch sie haben die „Wahl“ getroffen, eine bewusste Aufnahme zu leisten. „Wir wollen nicht einfach nur die Wohlfahrt spielen“, beteuern die Leiter des Zentrums Cettina Nicosiano, Michele Liuzzo und Calogero Santoro genauso wie die dort Angestellten, „wir begnügen uns nicht damit, ein Dach über dem Kopf zu geben.“ Wenn die Aufnahme in Mazzarino so aussehen würde, bliebe sie nur reines Wohlfahrtswerk ohne positive kulturelle Auswirkung, für das Wachstum der Stadt und die Verbeserung der Lebensbedingungen der Jugendlichen. Das Agieren der „I Girasoli“ ist auch für die Region von Bedeutung, bietet soziale und Beschäftigungsvorteile und neue Chancen für Wachstum und Veränderungen in der Region nicht nur für Ausländer, sondern auch für alle schwachen, randständigen Bevölkerungsgruppen.

Ein Modell für den Empfang. Von dem Zeitpunkt der Gründung vor 7Jahren bis heute hat der Verein ungefähr 600 Minderjährige aus Asien und Afrika aufgenommen und auch für die, die mittlerweile in Europa verstreut sind, bleibt Mazzarino ein Zuhause, ein Ort, nach dem sie Heimweh haben und wohin sie als freie Bürger zurückkehren, sobald sie können und sei es auch nur für wenige Tage. So ist das Aufnahmemodell bei „I Girasoli“, entschuldigt das Wortspiel, das, was man unter einer Modellaufnahme versteht. Es genügt, einen kleinen „Sprung“ von hier wegzumachen, um zu verstehen, wie die Dinge laufen. Von hier aus sind Köche, Gärtner, Pizzabäcker, Verkäufer, Schweißer, Kulturmediatoren weggegangen, aber vor allem als „freie Bürger“, Träger einer starken Rechtskultur, die eine schwierige Vergangenheit haben und fähig sind, den Zustand von Dingen in Frage zu stellen wegen ihres Glaubens in andere Menschen. Sicher ist es schwierig, Vertrauen ins Leben und in die Welt zu behalten, wenn einem als Kind so viel Unrecht zustößt, das so schwer zu ertragen und zu erinnern ist. Sie sind keine Helden, sondern Menschen. Kurzum, die Happy-End-Geschichten dieser Jugendlichen (egal, ob sie in Mazzarino geblieben sind oder woanders leben) werden von jungen Menschen erzählt, die verfolgt wurden, nicht etwa, weil sie eine Straftat begangen hätten, sondern weil sie auf ihrem Recht bestanden haben, von einem besseren Leben zu träumen, ihre Würde nicht antasten zu lassen, ihr am-Leben-Sein nicht zu riskieren.


Aus dem Italienischen von Jutta Wohllaib