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Freitag, 12. Dezember 2014

Hauptstadtmafia - Mineo an vorderster Front?

„Flüchtlinge fühlen sich in Mineo wie im Gefängnis“
Die Versuchung, diesen Artikel mit “wir haben es ja gesagt” zu beginnen ist groß, aber  müßig. Genau so müßig ist es, sich zu empören, vor allem wenn diese Empörung, wie es meist geschieht in Italien, verpufft, sobald die Aufmerksamkeit für den Skandal der „Mafia Capitale“ in Italien nachlassen wird. Noch unnötiger für die Leidenden ist die bewährte und dem herrschenden System nützliche Jagd nach dem Sündenbock. Aktuell sind die Anwärter für diese Rolle allen voran Luca Odevaine. Zu ihm wird sich unserer Meinung nach der Untersekretär der regionalen Landwirtschaftsbehörde Giuseppe Castiglione gesellen. Wir könnten weiter berichten, wie gross und welche die Verantwortlichkeiten der eben genannten in der Gründung, der Geschäftsführung und der Befürwortung des  Aufnahmezentrums für Asylsuchende in Mineo sind, aber wir unterlassen das in diesem Bericht.

Zudem klagen wir das Business, das mit der Aufnahme der Asylsuchenden betrieben wird,  seit Jahren an. Wer sich informieren will, wird leicht fündig: es steht eine grosse Zahl von Artikeln, Recherchen und Dokumenten zu diesem Thema zur Verfügung. Wir widerstehen also der Versuchung noch einmal zu beschreiben, wie der damalige Ratspräsident Berlusconi und der Minister des Innern Maroni dieses Ghetto konzipierten: zum Vorteil des Unternehmens  Pizzarotti & Co. Spa (Besitzer der Residence degli Aranci) ,und dass bei jeder neuen Ausschreibung immer das gleiche Unternehmen mit neuem Namen (Consorzio cooperative sociali Sisifo / Consorzio Sol. Calatino / Senis Hospes s.c.s / Cascina Global Service S.r.l. / Comitato provinciale della Croce Rossa Italiana und eben auch  Pizzarotti & c. s.p.a.), die Bewerbungsauschreibung  gewann und als Betreiber ausgewählt wurde.
Wir möchten den Blick viel mehr auf “die Anderen” richten. Auf die Opfer. Es sind Viele. Tausende.  Und sie tragen Vor- und Nachnamen. Sie befinden sich in einer Art Vorhölle, die, wie um sie zu verspotten, von einem  Orangenhain umgeben ist. Dort sollten sie Gäste auf der Durchreise sein, nicht Gefangene. Sie sind nur verpflichtet, die Nacht dort zu verbringen, während des Tages können sie sich frei bewegen. Diese “Freiheit” relativiert sich erheblich, wenn wir bedenken, dass das nächstgelegene Dorf, eben Mineo, 11 km entfernt ist, und dass die Verweilzeit im Empfangszentrum für Asylsuchende die vorgesehenen Fristen bei weitem übersteigt. Und das ist der Kernpunkt des Skandals “Aufnahme” in Italien, für den Mineo nur das Aushängeschild ist. Die Wartefristen für die Anhörung vor einer der zuständigen Kommissionen, für die Anerkennung des Anspruchs eines Flüchtlings auf internationalen Schutz, sind abnorm. Die Asylbewerber warten durchschnittlich ein Jahr auf das Urteil, das ihr weiteres Schicksal bestimmt. Den vielen negativen Bescheiden folgen logischerweise die Klageverfahren und auch auf deren Verhandlung vor Gericht muss viele Monate gewartet werden. Die Folge davon ist klar. Die Desorganisation und Ineffizienz liegen an der Instrumentalisierung des Systems, denn die Verlängerung der Verweildauer der Asylbewerber im Zentrum ist zum Vorteil der Betreiber dieses Zentrums.
Ausgehend von den Verantwortlichen, den Akteuren guten und weniger guten Willens, den Komplizen  und Nichtwissenden müssen wir uns nicht lange fragen, wer die Unterlegenen in diesem Geschehen sind. Es sind die Tausenden Asylsuchenden, die bisher nach Mineo gebracht wurden und die aktuellen etwa 4000 dort wohnenden. Die Gesichter wechseln, aber ihr Schicksal bleibt das gleiche. Seit der Eröffnung bis heute haben die „Gäste“ des Aufnahmezentrums mehr als 10 Demonstrationen organisiert. Allen diesen Demonstrationen liegen grundsätzlich die gleichen (oben erwähnten)  Forderungen, die Wartezeiten auf Behördenentscheide zu verkürzen, zugrunde. Wir erinnern uns an die Demonstration vom 19. Dezember 2013, als über 600 Asylbewerber ab morgens 6 Uhr die Strasse von Catania nach Gela besetzten und von dort auf den Dorfplatz von Palagonia zogen. Auch an dieser Demonstration war die Verweildauer ein Thema. Zudem standen die Demonstranten unter einer besonderen Spannung an jenem Tag. Ihre Wut und Entschlossenheit war die Folge des Selbstmordes von Mulue Ghirmay, eines erst 21 jährigen Asylbewerbers, der sich wenige Tage zuvor in einem Zimmer des Zentrums erhängt hatte. An dieser Veranstaltung, der eine öffentliche Versammlung auf dem Hauptplatz von Palagonia vorausging (trotz der Polizeipräsenz und der Spekulationen von Medien und der üblichen Xenophoben)  hörte man zum x-ten Mal die gleichen (aber trotzdem unerwarteten) Versprechen für eine Erhöhung der Zahl der Kommissionen für die Anhörung der Flüchtlinge und für die Reduzierung der Bewohnerzahl im Aufnahmezentrum. 
Seit damals hat sich wenig oder nichts geändert. Die Leiter des Zentrums betreiben weiterhin ihre Propaganda mit beachtlichen Mitteln der Kommunikation, die sie aufgebaut haben: Blog, soziale Netzwerke, die Fussballmannschaft CARA MINEO, den Dokumentarfilm „ICH BIN ICH UND DU BIST DU“, der an allen institutionellen Veranstaltungen und Begegnungsorten gezeigt wird, jetzt gerade an den Schulen Catanias und deren Provinz und an vielen andern Orten. Zur gleichen Zeit fragen sich die Asylsuchenden, wie lange es noch dauern kann, bis sie ein selbstständiges Leben beginnen können. 

Gleichzeitig mit den Ermittlungen erachten wir es für unabdingbar, dass konkret auf die Forderungen der Asylbewerber, die sich im Aufnahmezentrum befinden, eingegangen wird:
- die Erhöhung der Anzahl der für den internationalen Schutz der Flüchtlinge zuständigen Kommissionen, damit mehr Anhörungen pro Woche möglich werden
- die Herabsetzung der Wartezeiten in Klageverfahren der Flüchtlinge im Falle von ablehnenden Entscheiden der Asylkommission
- die Ausstellung einer namentlichen Bescheinigung und einer Aufenthaltserlaubnis für die Zeit des Asylverfahrens
- die Überprüfung und Abschaffung der aktuellen, vollkommen willkürlichen Praxis, das Taschengeld von 2,50 Euro jeden zweiten Tag durch eine Packung Marlboro Zigaretten zu ersetzen.
Mittel- und langfristig ist es aber notwendig, das ganze italienische „Aufnahmewesen“ zu überdenken. Die Einrichtung von grossen Empfangszentren hat jedenfalls kläglich versagt. Vor allem  die ungenügende Anzahl von Plätzen und das sich wiederholte Berufen auf den „Notfall“ hat zwei parallele Systeme hervorgebracht. Denn das zur Gewohnheit gewordene viel zu lange Verbleiben in den nicht geeigneten Notfallaufnahmezentren CAS erfüllt die vorgeschriebenen Minimalstandards bei weitem nicht. Es wäre noch viel anderes nötig, aber, wie eingangs erwähnt, liegt die Priorität in diesem Artikel auf den Opfern unseres korrupten und chaotischen Aufnahmesystems:
·      Auf den Flüchtlingen, denen die Schuld zugewiesen für unnütze Ausgaben eines Staates in permanenter ökonomischer Krise wird.
·      Auf jenen, die in Mineo, ohne es zu wissen, zum Hauptbestandteil des grossen „Aufnahmebetriebs“ geworden sind, der die Bilanzen von Calatino Sud Simeto wieder saniert hat.
·      Auf jenen, die kriminalisiert und zur Zielscheibe des Hasses und der wachsenden Ungeduld der Bürger Italiens geworden sind.
·      Auf jenen, die während des Wartens auf ein ihnen zustehendes Recht Jahre ihres Lebens verlieren.
·      Auf jenen, die ihr Leben verloren habe.

Elio Tozzi,
Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne