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Mittwoch, 30. April 2014

Pozzallo wird zum neuen Vorposten Europas: „Wir können nicht anders, als gastfreundlich zu sein“

Redattore Sociale – Seit Januar sind im 19 Tausend Einwohner Städtchen Pozzallo mehr als fünf Tausend Menschen an Land gegangen, eintausend allein heute. In der selben Stadt gibt es keine Familie, in der sich nicht ein Familienmitglied aufgemacht hat, um auf dem Meer zu arbeiten. „Wir sind müde. "Mare Nostrum" rettet Leben auf Hoher See, aber sie müssten die Menschen auch an Land weiter versorgen.“
POZZALLO (RG) – Der neue Vorposten Europas ist ein Ort mit 19 Tausend Einwohnern. Hier, an der äußersten Spitze der Provinz Ragusa, treffen neu angekommene Migranten auf Menschen, die seit Generationen ihr Glück auf dem Meer versuchen. In jeder Familie in Pozzallo hat sich zumindest eine Person aufgemacht, um auf Schiffen zu arbeiten. „Fast ein Viertel unserer Bevölkerung ist an Bord gegangen,“ sagt Bürgermeister Luigi Ammatuna. „Wir wissen was es heißt, seine Heimat zu verlassen, um zu leben, deshalb können wir nicht anders als gastfreundlich zu sein. Pozzallische Gemeinschaften gibt es auf der ganzen Welt von Amerika bis nach Australien.“

Für die Einwohner dieser südsizilianischen Gemeinde bleibt das Meer der beliebteste Arbeitsplatz. Die Einschreibungen für das Schifffahrtsinstitut nehmen ständig zu. „Hier gibt es wenig Möglichkeiten, deshalb ist die Versuchung an Bord zu gehen groß, vor allem momentan, in Zeiten der Krise,“ sagt Giovanni Colombo, ehemaliger Stadtratsabgeordneter, dessen Bruder auf Kreuzfahrtschiffen arbeitet. 

An dieser Küste sind seit Januar mehr als 5.000 Menschen an Land gegangen, 1.000 allein heute. Drei Schiffe der Militärmarine haben im Hafen von Pozzallo angelegt und die Carabinieri von Modica konnten bereits vier mutmaßliche Schleuser identifizieren. 

Man spricht von nichts anderem im Geburtsort von Giorgio La Pira. So auch auf dem kleinen Platz, Sindaco Santo, vor dem Rathaus, wo eine Gruppe von Rentnern diskutiert: „Sie sind wie wir, sie brechen auf um Arbeit zu finden,“ sagt ein älterer Herr, der selbst einst nach Amerika ausgewandert ist. „Die kommen um zu stehlen. Wir haben Angst hier,“ sagt ein anderer. Forza Nuova hat die Welle der Angst ausgelöst, als sie im letzten Sommer vor dem Erstaufnahme-Zentrum Flugblätter verteilte mit dem Slogan: „Die Einwanderung wollen die, die sich nicht erleben.“

Etwa 50 bestätigte Fälle von Krätze im Erstaufnahme-Zentrum haben die Bevölkerung in den letzten Tagen beunruhigt. Der Sanitätsdienst der Provinz hat allerdings beschwichtigt: „15-20% der ankommenden Migranten leiden unter der Krankheit, sie ist jedoch wenig ansteckend und bis heute wurden keine sekundären Fälle bei Mitarbeitern, Ordnungshütern, Ärzten oder Krankenpflegern registriert,“ wie man in einem Schreiben des Sanitätsbetriebs von Ragusa nachlesen kann. 

Das Notizbuch, welches die Ankünfte festhält, wird ständig aktualisiert. Die Situation ist beschwerlich,“ so Virginia Giugno, die im Zentrum arbeitet. Sie wirkt erschöpft, nachdem sie erfahren hat, dass heute ein weiterer Tag der Ankünfte sein wird.  „Das Problem ist weitaus größer als unsere Kapazitäten.“

Gestern erreichte das Militärschiff Libra mit 364 Migranten an Bord, darunter drei schwangere Frauen und fünf Minderjährige, den Hafen von Ragusa. Bis zur gestrigen Nacht waren im Erstaufnahme-Zentrum von Pozzallo 443 Migranten und in der Einrichtung in Comiso, einem ehemaligen Agriturismo umfunktioniert zum Aufnahmezentrum, 190 Personen untergebracht. Heute wird sich das ändern, wie man am Hafen hört: „es ist notwendig nach einer neuen Lösung zu suchen, welche Platz für weitere Ankömmlinge schafft.“ „Der Notstand wird nicht anerkannt,“ erklärt Nello Lo Monaco vom Zivilschutz von Ragusa. „Aber das ist ein Notstand und wir brauchen eine Politik die sich der Situation anpasst. Mein Büro hat nur 42 Mitarbeiter und diese müssen sich um viele andere Angelegenheiten kümmern. Wir sind zu wenige.“

Im Büro des Bürgermeisters von Pozzallo herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Das Telefon klingelt pausenlos und das Gefühl der Machtlosigkeit wächst. „Minister Angelino Alfano sollte sich unsere Bemühungen mit eigenen Augen anschauen. Die Operation Mare Nostrum leistet sehr gute Arbeit, indem sie auf Hoher See Menschenleben rettet, aber sie müsste auch an Land aktiv werden, denn wir können so nicht weiter machen“.

Luigi Ammatuna hat auch den Ministerpräsidenten, Matteo Renzi, nach Pozzallo eingeladen. In einem Brief schrieb er: „Das provisorische Aufnahme-Zentrum am Hafen, gedacht zur kurzzeitigen Unterbringung (2-3 Tage) von maximal 176 Personen, wurde zu einem dauerhaften Aufnahme-Zentrum umgewandelt, in dem häufig 400–500 Personen untergebracht sind. Die Lage vor Ort bereitet den Einwohnern Unannehmlichkeiten und Probleme, aber, um Missverständnisse zu vermeiden, es fehlt ihnen nicht an Gemeinschaftssinn und Menschlichkeit.“ Zwischen den Zeilen kann man vor allem eines ablesen, die Sorge um die Sommersaison. Unter den Tourismusunternehmern herrscht etwas schlechte Laune und sie sind bereits auf Kriegsfuß, da Pozzallo 2013 nicht mehr mit der blaue Flagge ausgezeichnet wurde, im Gegensatz zu den zehn vorherigen Jahren. Die Touristen die im Zentrum des Städtchens unterwegs sind, scheint es allerdings nicht zu kümmern, was zwei Kilometer entfernt im Hafen-Hangar passiert. „Die Migranten stören uns nicht, im Gegenteil, es würde einige Dienste mehr für sie brauchen,“ erklärt ein Touristenpaar aus Rom.

In Pozzallo sind sich alle einig: „Wir sind gastfreundlich, aber Rom muss reagieren.“ „Man sagt, die Bewohner von Pozzallo würden jeden Hafen der Welt kennen,“ schreibt der Autor Nicola Colombo in seinem Roman L'acqua e il sale di Pinò (Wasser und Salz aus Pinò), in dem er Geschichten vom Meer, Schiffbrüchen und Hoffnung erzählt. „Wir können den Schmerz unserer Brüder verstehen. In ihren Augen sehen wir den Blick vieler unserer Mitbürger, die auf der Suche nach Hoffnung die Welt bereisten. Gleich wie sie wissen wir, was das Salz in der Suppe ausmacht.“

- Giorgio Ruta 

Arci (Vereinigung): „Genug mit der Panikmache, die Ängste und Rassismus erzeugt.“

Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner