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Donnerstag, 30. Januar 2014

Am Internationalen Tag des Gedenkens in Milo

Am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts sind wir nach Trapani gefahren, um dort den Zustand der CAS (Centro di Accoglienza Straordinario, Außerordentliche/Informelle Aufnahmezentren), des CIE (Centro di Identificazione ed Espulsione, Abschiebungshaftzentrum) und des CARA (Centro di Accoglienza per Richiedenti Asilo) zu kontrollieren. Eine der Geschichten, die dieser Tag erzählt, handelt von Konzentrationslagern, von Folter, Horror und Vernichtung....leider sind die Unterschiede zum CIE in Milo nicht groß.
Das Paradoxe dieses Unorts ist, dass es trotz der Aufhebung des Vertrages für den bisherigen Betreiber “Oasi” bis heute nicht gelungen ist, eine andere Betreiberfirma zu finden, die sich der heißen Kartoffel annimmt und das 'Konzentrationslager' verwaltet (die Ausschreibung hatte die Kooperative Glicine di Bagheria gewonnen, diese hatte sich aber dann zurückgezogen), Milo aber trotzdem noch geöffnet ist.
So wird das Zentrum heute immer noch vom Konsortium “Oasi” verwaltet, dem die Betreiberschaft vor 4 – 5 Monaten entzogen wurde, mit Angestellten, die seit dem Monat November keinen Lohn mehr erhalten und die deshalb letzte Woche für 10 Tage gestreikt haben, mit beschämenden und unzivilisierten Konsequenzen für das Zentrum, das sich vorher schon in mangelhaftem Zustand befand.
Das Konsortium “Oasi” ist nicht mehr in der Lage, das Zentrum zu betreiben und es fehtl an allem, von der Kleidung bis zum Erstausstattungskit und Medikamenten (auch lebendsnotwendige), und das Essen ist sehr schlecht....das absolute Chaos. Ein beliebiges Büro würde unter diesen Voraussetzungen bei einer Kontrolle der hygienischen Standards für immer geschlossen werden, in diesem Zentrum halten sich dagegen immer noch 180 Personen auf, die Tag um Tag gedemütigt werden. In Milo haben fast alle der hier Festgehaltenen Anzeichen psychologischer Probleme gezeigt (in einigen Fällen auch gravierende) und es ereignen sich oft Selbstmordversuche.

Wir haben festgestellt, dass es hier Menschen gibt, die laut der Menschenrechtskonvention nicht in Milo festgehalten werden dürften, aber es scheint uns auch seitens der Präfektur eine gewisse Unfähigkeit vorzuherrschen, wichtige Entscheidungen zu treffen. Diese will das Zentrum eigentlich zur Sanierungszwecken schließen (das ist jetzt die Taktik), während das Innenministerium daran festhält, Milo nicht zu schließen. Eine gravierende Verletzung der Menschenrechte hat sich in Trapani zugetragen, als 78 Menschen aus Gambia im CIE und 65 weitere im CARA eingeschlossen worden sind, nachdem sie in zwei unterschiedlichen Schiffen, eines in Pozzallo, eines in Augusta, in der ersten Januarhälfte angelandet waren. Was war das Entscheidungskriterium, eine Gruppe im CIE und die andere im CARA unterzubringen? Wir möchten das verstehen, weshalb wir auch um ein Treffen mit der Präfektur gebeten haben.
Die Gambier im CIE von Milo haben von der unterschiedlichen Behandlung erfahren und genau am Internationalen Tag des Gedenkens einen Hungerstreik begonnen, sie haben alle Matratzen aus ihren Zellen geräumt und Erklärungen für diese Ungleichbehandlung verlangt, die offensichtlich immer noch nicht gegeben wurden. Um den Horror der getroffenen Entscheidungen zu vervollkommnen, hat einer der in Milo untergebrachten Gambier nur noch eine Niere und bräuchte dementsprechend besondere Pflege und Behandlung, aber da es in Milo sogar an Spritzen und Anti-Grippemitteln fehlt, können wir uns vorstellen, dass sich sein Gesundheitszustand verschlechtern wird. Ein auch ernstzunehmendes Problem: in Milo befinden sich wahrscheinlich drei Minderjährige (Save the Children ist informiert und wird dies überprüfen).
Heute ist Milo ein Unort, in dem - wie in den Konzentrationslagern – Existenzen vernichtet werden.
Gerade Milo, eines der neueren CIE (Centro di Identificazione ed Espulsione, Abschiebungshaftzentrum), ist der Beweis des Scheiterns dieses Systems, das Italien (und Europa) umgesetzt haben: ein Ort, an dem die Seele der hier durch Zwang und bis zu circa zwei Jahren Festgehaltenen stirbt. Es ist offensichtlich, dass die Menschen in Milo verrückt werden, und nicht nur die Migranten, auch die Angestellten und die Ordnungskräfte haben Probleme; auch diese wissen, dass die einzige Chance der Migranten sich zu retten die Flucht ist (die letzte ereignete sich vor drei Tagen aus dem Zentrum).
Wir haben unseren Tag des Gedenkens mit dem Besuch einiger CAS (Centro di Accoglienza Straordinario, Außerordentliche/Informelle Aufnahmezentren) fortgesetzt, die die Präfektur von Trapani eröffnet hat und weiterhin eröffnet, um Tausende Migranten, die sich im trapanesischen Gebiet befinden, unterzubringen: Es lassen sich 1.650 Migranten zählen, die auf fast alle trapanesischen Dörfer aufgeteilt sind, mit den Konsortien/Kooperativen “Badia Grande” und “Insieme” als Betreiber. Auch Vulpitta hat wieder die Tore geöffnet, oder besser gesagt der hintereTeil des Geländes nahe des berühmt-berüchtigten CPT (Centro di Permanenza Temporanea, frühere Abschiebungshaftzentren), das später für einige Zeit ein CIE wurde. Immer noch in der Obhut desselben Betreibers wurde der Teil, in dem sich auch ein Altenheim befindet, ein CAS.

Unser heutiges Monitoring in Trapani endet mit dem Besuch des CARA von Salinagrande, wo im Moment 302 Menschen beherbergt werden (es ist an dieser Stelle zu unterstreichen, dass Salinagrande seit diesem Sommer auch ein CDA (Centro di Accoglienza, Aufnahmezentrum) ist, umgewandelt in nur einer Nacht, um Lampedusa zu entlasten und die Eritreer, die sich geweigert haben ihre Fingerabdrücke zu geben, ins CARA zu bringen. CDA sind Zentren für Migranten, die nicht über Papiere verfügen und keinen Asylantrag stellen wollen, Anm. der Redaktion). Salinagrande ist natürlich immer überfüllt, deshalb wird – wie fast das gesamte Jahr über – die Turnhalle mit fast 40 Betten als großer Schlafsaal genutzt. Das Problem ist, dass die Turnhalle groß ist und die Kälte und Feuchtigkeit machen es den hier “Beherbergten” unmöglich zu schlafen oder sich zu erholen, dies bestätigt auch das Personals des Zentrums. Auch mit zwei Decken lässt sich die Kälte nicht bekämpfen, die Temperatur in der Turnhalle ist sehr niedrig.
Wir haben bei unserem Besuch wahrgenommen, dass der Willen der Direktion des Zentrums die Konditionen für die Migranten zu verbessern, spürbar ist, aber die Probleme, denen das CARA ausgesetzt ist, machen es unmöglich ernsthaft und anständig zu arbeiten. Es gibt infrastrukturelle Probleme, die ständig für Unannehmlichkeiten sorgen, weil beispielsweise die Wasserleitungen veraltet sind und regelmäßig kaputt gehen, mit der Konsequenz im Sommer kein Wasser zu haben, oder nur kaltes im Winter.
Unterdessen bleiben viele andere und ernsthafte Probleme: zunächst die Wartezeit für die Erteilung eines Aufenthaltstitels; die Ausländerbehörden werden mit Anträgen überschwemmt und brauchen sehr lange, die Wartezeiten für die Anhörung vor der Kommission sind ebenfalls sehr lang (mehr als ein Jahr).
Die Kommission von Trapani ist in einem Zustand “der Erschöpfung”, in der Tat werden “neue” Termine erst für September oder Oktober vergeben und es warten immer noch 500 Migranten auf einen Anhörungstermin. Das bedeutet, dass diejenigen, die heute in Italien ankommen und nach Trapani gebracht werden, erst im Jahr 2015 die Möglichkeit bekommen, angehört zu werden!
Außerdem finden derzeit keine Aufnahmen ins System des SPRAR (Sistema di protezione per richiedenti asilo e rifugiati, freiwilliges, kommunales Unterbringungssystem, das vom Staat zentral verwaltet wird) statt, und so befinden sich in Salinagrande Menschen, die bereits vor zwei Monaten ihre Aufenthaltserlaubnis bekommen haben und sich seitdem in einer Warteschleife befinden, bis sie an der Reihe sind.
Das erleichtert die Aufgabe des Betreibers, der jeden Tag Protesten und banale Streitigkeiten wegen Kleinigkeiten  ausgesetzt ist, nicht. Dazu kommt, dass es keine Beschäftigungsmöglichkeiten gibt, die den Aufenthalt im Zentrum lebenswerter gestalten könnten. Im Zentrum von Salinagrande sind derzeit nur Männer untergebracht (die Familien und die Frauen sind in verschiedene CAS (informelle Zentren) der Provinz verlegt worden) und die meisten von ihnen kommen aus Gambia, Somalia, Mali und Pakistan. Dank einer kleinen Investition durch die Präfektur wurde ein Gratis-Shuttle-Bus mit 50 Plätzen eingeführt, der zweimal am Tag aus und nach Trapani fährt. Angesichts der Tatsache, dass dieser nicht für alle Migranten ausreicht, hat die Direktion des Zentrums ein System eingeführt, in dem man sich einen Tag vorher für den Gratis-Shuttle vormerken muss, was vermehrt zu Unstimmigkeiten geführt hat und noch führt, da die Alternative, den Linienbus zu nehmen, kostenpflichtig ist.
Eine weitere Neuerung ist eine Prepaidkarte: Alle Beherbergten (oder fast alle) haben eine Prepaidkarte, auf der wöchentlich ein Betrag von 17,50 Euro gutgeschrieben wird, und können diese sowohl dazu benutzen, den Betrag abzuheben oder direkt damit in den Geschäften und Supermärkten zu bezahlen. Leider müssen wir festhalten, dass nicht alle Einzelhändler oder Verwalter von Supermärkten die Möglichkeit gewähren, mit der Karte direkt zu bezahlen, weil sie von der Hautfarbe des Karteninhabers “abgeschreckt” sind – ein klares Zeichen der Diskriminierung.
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Gesundheit der Migranten, sei es der seit langem (und auch vom Betreiber) angeprangerte Fakt, dass das CARA (Aufnahme-Zentrum) keine Zimmer oder abgetrennten Räume für die Beherbergung von Personen hat, die ernsthafte psychische oder physische Probleme haben, oder sei es die Tatsache, dass, wie in den CIE (wenn auch in einem ganz anderen Maßstab) weiterhin Probleme wie Depressionen vorherrschen, die nicht adäquat beobachtet und behandelt werden. Weitere erhebliche Schwierigkeiten ergeben sich mit dem ASP (Azienda Sanitaria Provinciale, Landesgesundheitsdienst) von Trapani, so dass es häufig vorkommt, dass die Bwohner des CARA direkt in die Krankenhäuser von Palermo gefahren werden.

Schlussendlich wollen wir die Situation derjenigen beleuchten, die eine Aufenthaltserlaubnis erneuern und deshalb vor der Kommission angehört werden müssen. Diesen Migranten steht kein Unterbringungsplatz und keinerlei Verpflegung zur Verfügung, als einzige Lösung bleiben verlassene Gebäude und alte Fabriken in der Nähe des CARA . In der gleichen Situation, nur in einer noch kritischeren Lage, befinden sich die Dublin-Rückkehrer, die zuerst die Tatsache verarbeiten müssen, wieder in Italien zu sein (dem Ausgangspunkt der Abreise), um dann zwischen einem verlassenen Haus und einer Zeltstadt hin- und herzuwandern, ein Leben zwischen der Ausbeutung auf dem Land und dem Putzen von Autofenstern an den Ampeln, immer darauf wartend, erneut von der Kommission angehört zu werden. Diese Odyssee endet erst, wenn sich ein freier Platz im CARA findet, so haben sie wenigstens einen Platz zum Schlafen, während die neue sehr lange Wartezeit auf die Anhörung vor der Kommission beginnt.  In der letzten Zeit wurden in Salinagrande 10 Verfahren in Dublin-Fällen eingeleitet. Wahrscheinlich für 10 Menschen, die das Glück hatten, Zugang zum Zentrum zu bekommen. Am Internationalen Tag des Gedenkens wurde einem Pakistaner politisches Asyl zuerkannt, und es war schön, seine Freudentränen zu sehen.
Einer unter Tausenden schafft es. Wenigstens am Internationalen Tag des Gedenkens.

Alberto Biondo
Borderline Sicilia Onlus


Aus dem Italienischen von Philine Seydel