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Freitag, 22. November 2013

Die Jagd nach dem Gold

Auch in der Provinz Palermo ist – wie bereits 2011 – die Unterbringung zum Geschäft geworden.
Wie die Präfekturen anderer sizilianischer Provinzen, hat die Präfektur von Palermo nun Übereinkommen mit den Vereinigungen, Kooperativen und Konsortien getroffen, die die an sizilianischen Küsten ankommenden Migranten für 30 Euro pro ankommender Person “begrüßen” und “beherbergen”. Nach dem Ort Piana degli Albanesi (4 Zentren) haben auch Geraci Siculo, Petralia Soprana und Blufi die Tore geöffnet (für Geraci ist es eine Rückkehr zur Vergangenheit, genau wie für die Zentren in Piana degli Albanesi).
In den Händen der palermitanischen Kommunen befinden sich etwa 300 Migranten, die auf ihre Anhörung warten, welche vielleicht in sechs bis acht Monaten stattfinden wird (optimistische Schätzung). In diesen Monaten verleben die Betreiber der Zentren glückliche Tage, während sie den “angebotenen” Betrag der Präfektur kassieren.
Dieses System hat bereits 2011 erhebliche Mittel vergeudet und auch dieses Mal wird es nicht den Anforderungen, die ein ziviles Land erfüllen sollte, genügen. Diese sollten nämlich auf die Intergration von den Menschen abzielen, die aus wahren Situationen der Hölle kommen.
Natürlich ist an dieser Stelle zu unterstreichen, dass nicht alle Zentren nur nach Profit streben. Aber dieses System begünstigt die Herausbildung von Zentren ohne einen professionellen Betreiber und ohne Interesse für die tatsächliche Aufnahme; stattdessen nur mit dem Interesse, die Kasse in Hotels klingeln zu lassen, die im Winter geschlossen haben. Außerdem begünstigt es Gesellschaften (Kooperativen, Assoziationen etc.) in Schwierigkeiten, die von der Unfähigkeit der Institutionen profitieren, die es nicht schaffen eine dauerhafte, ädequate Unterbringung zu gewährleisten.

In einigen Zentren haben wir Beschwerden gesammelt, auch von Betreibern selber, die bis heute noch keinen Vertrag mit der Präfektur unterzeichnet und eine Überbelegung zu verzeichnen haben; unter den Migranten sind Frauen, Minderjährige und Männer. Und während die ersten Ankommenden (vor allem aus Gambia, Nigeria und dem Senegal), die Ende September eintrafen, immer noch in diesen Strukturen auf die Kommission warten, flüchten die letzten Ankommenden (Sudanesen, Eritreer und Syrer) nach zwei Tagen Aufenthalt aus den Zentren, um ihren Migrationsweg weiterzugehen.
In fast allen Strukturen geben die Betreiber Taschengeld aus, die in einigen Bars, Cafés oder beteiligten Geschäften ausgegeben werden können (2,50 Euro am Tag), und bieten auch ein Bett zum Schlafen an (meistens komfortabel), sowie Mittag- und Abendessen (dies ist in unterschiedlicher Art organisiert, zum Beispiel gibt es in Piana degli Albanesi bei insgesamt vier Zentren zwei, in denen die Migranten auch selbst kochen können, während die anderen beiden Zentren einen Vertrag mit einer Cateringfirma – Nuova Cucina Siciliana – für 5 Euro pro Speise pro Migrant geschlossen haben). Um beim Frühstück einzusparen, bieten viele ein einfaches “self-made” Frühstück an, also mit Milch und Konfitüre, die von der Bevölkerung gespendet wurden und ein paar Scheiben Zwieback aus dem Supermarkt.
Die Situation in Trapani ist viel “ernster”, weil der Goldrausch hier verursacht hat, dass es in jedem Dorf der Provinz mindestens ein Zentrum mit Landwirten als improvisierten Mediatoren und Hausfrauen, die sich zwischen Arabisch und Englisch verwirren, gibt. Die einzige wirkliche Sprache, die gesprochen wird, ist aber der trapanesische Dialekt.
In der Provinz von Trapani, wo der Kuchen zwischen vielen verschiedenen Kooperativen geteilt wird, die größte Gewichtskraft aber beim Konsortium “Solidalia” und der Kooperative “Badiagrande” liegt, hatten wir die Gelegenheit mit zwei Mitarbeitern zu sprechen, die ihre Namen nicht bekannt geben wollten. Sie haben uns erzählt, wie der Goldrausch einige Kooperativen dazu verleitet, ohne Vertrag zu arbeiten, immer schlechter werdende Mahlzeiten auszugeben, und dass es für solche, die mit einer gewissen Ethik arbeiten wollen, sehr schwierig ist (sie haben uns erzählt, dass ein Mitarbeiter von Kollegen bedroht wurde, einfach, weil dieser seine Pflicht erfüllen wollte).
In einigen Fällen, wie in Selinunte und Bonagia, haben die Migranten stark gegen die Kondizionen der NICHT-Aufnahme protestiert, und auch in Vita gab es nicht unbedeutende Probleme. Einige Direktoren sehen die Menschen hinter dieser “Arbeit” nicht mehr, sondern nur das Geld. Die Resultate der schlechten Integration können alle sehen, die sie sehen wollen. An diesen Resultaten tragen die Präfekturen und die Politik den größten Anteil der Schuld.
Es sind nicht nur umgewandelte Hotels und Landgasthöfe, finanzielle Mittel werden auch für die Errichtung weiterer Zentren aufgewandt, die sich dann in in wirkliche “Bestrafungszentren” verwandeln. Beispielsweise wurde einer palermitanischen Firma (in Emmeci di Ganci, Dorf in der Provinz Palermo) gerade der Auftrag erteilt, einen ehemaligen Schlachthof in Mazara del Vallo für etwa 300 000 Euro zu einem Zentrum umzustrukturieren.
Das Geld ist im Umlauf, während die Schwierigkeiten zunehmen; die Unfähigkeit, eine adäquate Antworte zu finden, löste auch das Chaos im CIE (Centro di identificazione ed  espulsione, Abschiebehaftzentrum) von Milo aus. Hier sind 160 Personen hinter Gittern eingesperrt, mit einem Betreiber (“L'Oasi”), der in einigen Tagen die Zügel aus der Hand geben wird, nachdem ihm bereits seit mehr als einem Monat das Mandat entzogen worden ist, und den CIE an einen neuen Betreiber abgibt (um die Betreiberschaft von Milo  wetteifern das Konsortium “Glicine” aus Bagheria (Provinz Palermo) und die Kooperative “Dimensione Uomo 2000” aus Alcamo (Provinz Trapani)). Zudem ist die Situation in Milo angespannt, da viele neue Migranten aus den CIE in Mailand und Gradisca angekommen sind, weshalb der Druck im Zentrum hoch ist.
Ein System, das im Großen und Ganzen nicht funktioniert; ein System, das Geld verschwendet, aber nichts für Migranten bewirkt; ein System, das im CARA von Salina Grande mehr als 400 Menschen (darunter Frauen und Kinder) einsperrt, die dagegen protestieren, dass ihnen Wasser und medizinische Versorgung fehlt, wo die Matratzen in einem Raum, der einmal ein Speisesaal war (die Menschen sind gezwungen, immer in ihren Zimmern oder auf dem Boden zu essen) auf den Boden “geworfen” sind, und wo es große Schwierigkeiten gibt, schlafen zu können.


Ein System, das dazu bewegt, verlassene und gefährliche Mietskasernen wieder bewohnen zu
Eines der leerstehenden Abbruchhäuser,
bewohnt von Flüchtlingen
lassen (alle Asbest-verseucht), offensichtlich leerstehend. In diesen Mietskasernen und Wohnblöcken wohnen nicht nur die Migranten, die in Sizilien  umherziehen, um auf den Feldern zu arbeiten, sondern auch die Migranten, die in den letzten Monaten angekommen sind und die vorhaben das  C3 - Formular (für die Asylantragsstellung) auszufüllen. Sie werden seit Monaten von den Polizeirevieren hierher geschickt, weil es keine anderen Plätze gibt . . . Stellt euch die psychischen und physischen Kondizionen von Abdul vor, einem 55 Jahre alten Mann, der uns seine “Unterkunft” (der Mann muss draußen vor dem Zentrum für Asylsuchende leben, Anmerkung der Redaktion) gezeigt hat, der jeden Tag zur Polizeistation in Trapani gehen muss, um sich sagen zu lassen, dass es keinen anderen Platz gibt (eine Anmerkung: die kostenlosen Shuttle-Busse zwischen Salina und Trapani wurden nicht wieder eingesetzt, wie vor einem Monat versprochen wurde), mit unbehandelten, infizierten Wunden und Unterernährung (er bekommt ein wenig Essen von netten Landsleuten aus dem CARA).

Das ist das System der “Aufnahme”, das ist das System, das unsere Brüder und Schwestern sterben lässt ... und wir fragen uns und versuchen zu verstehen: Wer sollte diese Geldverschwendung kontrollieren? Wer sollte überprüfen, dass die Betreiber die Anforderungen erfüllen? Wer kontrolliert, wie das Taschengeld, die Zigaretten und Telefonkarten, sowie die Kleidung verteilt werden? Wenn die Institutionen und die Politik dieses System des Todes schaffen, wer kann noch ein Garant für Einhaltung des Rechts sein?
Ich bin nicht in der Lage, hierauf eine umfassende Antwort zu geben, aber ich bin mir bewusst, dass wir weiterhin unser Bestes geben werden, um die Verzerrungen dieses Systems sichtbar zu machen und den Menschen, die auf diesem Flecken Erde, den wir momentan bewohnen, ankommen, ihre Würde zu geben. Auch wenn wir von Seiten der Institutionen oft blockiert werden, die uns nicht die Erlaubnis geben, die Zentren zu besuchen und uns nicht mit offenen Armen empfangen, werden wir weiterhin präsent sein.


Alberto Biondo, Borderline Sicilia Onlus

Aus dem Italienischen von Philine Seydel