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Montag, 4. November 2013

Weitere Ankünfte auf Lampedusa, wo man den Toten gedenkt. Die Zeugenaussagen der syrischen Flüchtlinge

Es sind Tage der Ankünfte und des Gedenkens auf Lampedusa. An diesem langen Allerheiligen-Wochenende gab es an einigen symbolträchtigen Orten der Insel Gedenkveranstaltungen, an denen Lampedusaner und Migranten gleichermaßen und gemeinsam teilnahmen. Was aber die Zeremonien ebenso begleitet sind die inzwischen in regelmäßigen Abständen erfolgenden neuen Ankünfte, die an den Molen der Insel erfolgen.Es handelt sich um zahlenmäßig geringe Ankünfte: die erste erfolgte in der Nacht vom 2. auf den 3. November, genau einen Monat nach der Tragödie der Eritreer. Ein Schiff der Küstenwache erreichte gegen 3:30 Uhr mit 17 algerischen und zwei syrischen Migranten die Favaloro-Mole von Lampedusa, unter ihnen eine einzige Frau. Die Migranten gaben an, am Morgen zuvor von Tunesien aus losgefahren zu sein, nachdem sie einige Tage auf dem Boot im Hafen auf besseres Wetter gewartet hatten, um eine sichere Überfahrt zu garantieren. Das Boot soll dann nach ca. 20 Stunden Fahrt den Strand von Isola dei Conigli erreicht haben, einige Migranten hatten das Boot schon verlassen, bevor die Seenotrettungseinheit der Küstenwache erschien.

Ein Syrer, der auf dem Boot war, berichtet von den dramatischen Ereignissen, die ihn zur Flucht aus seinem im Krieg befindlichen Land getrieben hatten. Ein kultivierter Herr mit einem sehr guten Englisch, in dem er seine Geschichte erzählt: Er wurde drei Mal von den Milizen Assads verhaftet, wurde in der Haft mit Elektroshocks gefoltert und konnte das Gefängnis erst nach der Zahlung einer Kaution von 10.000 $ verlassen, die ihm sein Bruder geliehen hatte. Er spricht über die langen Monate in Tunesien, das er mit seiner Frau nach der Flucht aus Libyen erreichte. Er hatte versucht, einen legalen Weg nach Europa zu finden und ein Visum beantragt, doch dann sah er sich gezwungen, sich illegal nach Italien einzuschiffen.

Die zweite Anlandung erfolgte am 3.11. Abends, als gegen 22 Uhr ein Schiff der Küstenwache ca. 30 syrische Flüchtlinge an die Favaloro-Mole brachte, unter ihnen um die Frauen und circa sechs Kinder. Die Migranten waren zwei Tage zuvor von der libyschen Küste losgefahren. Sie hatten sich dann verfahren, da sie die Daten des GPS Gerätes nicht zu interpretieren wussten. Niemand von ihnen hatte Navigationserfahrung. Man hatte ihnen nur ein Handy und eine Schweizer Telefonnummer gegeben, die sie im Notfall kontakten sollten. Zudem hatten sie ein Satellitentelefon und einen „Wegweiser“ bei sich, welche Route sie nehmen sollten. Die Telefonnummer, so sagten sie, sei die des Roten Kreuzes in Genf. Sie hatten die GPS –Daten telefonisch durchgegeben. Das Boot wurde  in italienischen Gewässern in der Nähe von Lampedusa geortet. Das Rote Kreuz hatte ihnen dann die Nummer der Küstenwacht gegeben. Diese hatte nach dem Anruf der Migranten das Boot innerhalb ungefähr einer Stunde erreicht. Nach der Erzählung des jungen Syrers hat die Reise um die 1.500 $ pro Person gekostet, Kinder ausgenommen. Dafür mussten sie monatelang arbeiten und sparen, es handelt sich ja meist um das Doppelte, da der Preis für Familien bezahlt werden muss.

Der junge Mann berichtet von den langen Monaten der Arbeit und der Schinderei in Libyen, denn dort, so erklärt er, bist du als Ausländer laufend Drohungen, Übergriffen, Erpressungen und Diebstählen ausgesetzt. Oder auch dem Tode, so wie seine Nachbarn, die von libyschen Männern ausgeraubt und umgebracht wurden und die junge Tochter verschleppten. Doch niemand könne das anzeigen, denn dann würde man sich und seine Familie zum sicheren Tode verurteilen.

In Libyen gebe es keine Regeln, es herrsche ein Regime der Angst, der Drohungen, der ungestraften Gewalt gegen Ausländer, ausgehend von einer Gesellschaft, die in der Hand der organisierten Kriminalität sei, die sich nicht um die wehrlosen Amtsgewalt schere.

Es nütze überhaupt nichts, sich an die Polizei zu wenden, die antworteten eh nur “don’t worry” ohne jemals einzugreifen. Der junge Mann zeigt mir eine tiefe Verletzung, die als Todesdrohung zu verstehen gewesen sei, wenn er nicht sein Auto an die libyschen Erpresser abgeben würde. Der Gang zur Polizei war umsonst. Aufgrund der Verletzung musste er für zwei Monate ins Krankenhaus. Er war nach der Flucht vor dem Krieg in Syrien nach Libyen gekommen. In Syrien hat nichts mehr funktioniert und wer es sich erlauben kann, flieht. Aber Libyen habe sich als ein weiterer Alptraum erwiesen, und der einzige Ausweg sei, das Boot nach Italien zu nehmen, wo, so erzählt er, anfangs gar nicht hin wollte. Er wollte nicht nur wegen des Risikos, auf der Reise Schiffbruch zu erleiden, nicht fahren, sondern auch, weil libysche bewaffnete Banden längsseits der Boote gehen. Sie überwachen die Küste und schießen auf die Migranten. Ein Spiel der organisierten Kriminalität, in dem das Leben des Flüchtenden von den Vereinbarungen der Schlepper mit diesen Banditen auf See abhängt. Diese zögern nicht, das Feuer auf die Boote zu eröffnen, wenn sie ihre Quote in diesem lukrativen Menschenhandelsbusiness erhalten haben.

Viele Geschichten haben wir gesammelt, sie unterscheiden sich, doch die Verzweiflung, die sie auf die Flucht über das Meer treibt, eint sie. Einige Eritreer, die am 31.Oktober angekommen waren, berichten von der langen Reise aus der italienischen Ex-Kolonie, von den verschiedenen Etappen und den langen Wartezeiten. Über Äthiopien, den Sudan, dicht gedrängt in LKWs durch die Wüste, ohne sich setzen zu können, ohne Nahrung und Wasser für 5, 6 Tage. Ein junger Mann versucht die Gründe seines Weggangs zu erklären. Er spricht über die Ausbeutung in Eritrea, über die Zwangsarbeiten auf den Baustellen zur Errichtung von Staudämmen, Straßen, Brücken bei Löhnen, die gegen Null gehen und nicht genügen, um eine Familie satt zu bekommen. Es ist dennoch unmöglich, ein Visum für Europa zu erhalten, die einzige Möglichkeit sei die illegale Flucht.

Er berichtet über die libyschen Gefängnisse, in denen er für Monate eingesperrt war und die manchmal noch besser als die Freiheit seien, denn letztendlich seien sie wenigstens ein Ort, an dem man sich verstecken kann. Denn, so erzählt er weiter, das Leben in Freiheit in Libyen bedeute permanenter Bedrohung, Racheakten und Gewaltakten ausgesetzt zu sein, wie auch die Verletzungen an seinem Körper bezeugen. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als zu Hunderten in kleinen Räumen aufeinander zu hocken und darauf zu warten, nach Italien abfahren zu können. Es würden noch viele warten, ergänzt er.

Trotz dieser neuen Ankünfte verzögern sich die Transfers der Migranten aus dem Erstaufnahmezentrum der Insel immer weiter. Ca. 80 Migranten verschiedener Nationalität wurden am Freitag, den 1.11. transferiert. Im Erstaufnahmezentrum CSPA befanden sich bis gestern noch ca. 730 Flüchtlinge verschiedener Nationalität. Einige von ihnen sind gezwungen, im Freien oder in den Büros der Verwaltung zu schlafen, die ihnen zur Verfügung gestellt werden, um sich des Nachts gegen den Regen zu schützen, denn die Schlafräume für die Migranten sind überfüllt. Die Eritreer, die das Unglück vom 3.10. überlebt haben, haben die Insel auch noch nicht verlassen. Sie werden als Zeugen vom Gericht festgehalten, eine Untersuchung der Ereignisse läuft.

Die Mitglieder des von ihnen gegründete „Komitees“ sagen, die verstünden, aus welchen Gründen sie festgehalten würden und seien zur Mitarbeit bereit, wenn die Untersuchungen nicht zu lange dauern würden. Sie sind müde, in dem ewig überfüllten Erstaufnahmezentrum zu wohnen, gestresst von dem sich verlängernden Aufenthalt auf der Insel, einem Ort, den sie mit der Tragödie, die sie durchlebt haben, verbinden. Sie sind ungeduldig, wollen endlich ihr neues Leben in Italien beginnen und fordern eine Verlegung der Untersuchung und des Prozesses, wohin auch immer, damit sie die Insel verlassen können. Sie haben auf inoffiziellen Wegen erfahren, dass die Kommune von Rom bereit ist, sie aufzunehmen, dass Bürgermeister Ignazio Marino zugesagt hat, sie alle aufzunehmen. Aber man hat ihnen erklärt, dass es da ein rechtliches Problem gebe, und dass die Untersuchungen unter der Gerichtsbarkeit von Agrigento verbleiben müssten.

Sie wissen auch, dass sie den Familien und den Minderjährigen den Vorrang lassen müssten, aber inzwischen sehen sie die „new-comers“, wie sie sie nennen, auf der Insel ankommen und sie vor ihnen wieder verlassen, ohne dass man ihnen irgendeine Nachricht über ihre Abreise gibt. 

Gestern waren die Migranten, die sich auf der Insel befinden, Protagonisten eines langen Gedenktages. Sie haben die Beteiligung der lampedusanischen Bevölkerung wahr genommen, die gemeinsam mit ihnen in einer langen Feier mit Gesängen und Gebeten und symbolischen Ritualen der Toten gedacht und gebetet hat. Unter diesen war das Pflanzen von Bäumen zum Gendenken an die eritreischen Opfer des Schiffbruchs vor einem Monat in einem Naturschutzgebiet in der Nähe von Cala Galera das Bedeutendste. Zu Beginn der Initiative, die mit der Unterstützung von Legambiente (Naturschutzbund) realisiert werden konnte, sprachen die Bürgermeisterin Giusi Nicolini und der sizilianische Regionspräsident Rosario Crocetta, der einen Tag zuvor nach Lampedusa gekommen war, um auf dem Friedhof den Toten aller Schiffstragödien zu gedenken.

Die Bürgermeisterin Nicolini versprach, sich darum zu kümmern, dass alle Bäume einen Namen erhalten, den Namen der 366 Opfer, und sprach den Wunsch aus, mit diesem neuen Garten des Gedenkens denen das Leben zurückzugeben, denen es ungerechterweise entzogen wurde. Denn Lampedusa, so Nicolini, sei nicht eine wehrlose Beobachterin, sondern eine aktiver Zeugin, und das Mittelmeer solle ein Horizont der Zukunft und nicht ein Grenze werden, in der sich alles verfängt und stirbt. Präsident Crocetta hingegen sprach großes Bedauern über die Unfähigkeit Europas aus, die Schönheit und den Reichtum der Kulturen, die an unsere Türen klopften wie die des eritreischen Volkes, in dem sich die jüdische, christliche und muslimische Kultur vereinigten, zu erkennen. Aber Europa, so Crocetta weiter, bestehe nicht nur aus denen, die unfähig seien, den Ausländer zu verstehen. Wie überall auf der Welt, so auch in Italien, gebe es die andere Hälfte, die den Samen der Brüderlichkeit im Herzen trage, einem Gefühl, dessen Existenz Lampedusa uns bewiesen hat.

Auch der Präsident der nationalen Legambiente ergriff das Wort und wünschte, dass sich, von Lampedusa  ausgehend, die Haltung im ganzen Lande ändern möge, und dass das Parlament so schnell wie möglich diese unmenschlichen Elemente aus der Migrationspolitik tilgen mögen.

Die Begegnung wurde dann am Nachmittag an der Porta d’Europa fortgesetzt, wo die christlichen und muslimischen Vertreter der eritreischen Gemeinde und der lokalen Gemeinde eine ökumenische Zeremonie begingen, bei der in Italienisch und in Tingrinnya gelesen, gesungen und gebetet wurde. Inmitten eines aus Menschen gebildeten Halbkreises wurde ein Feuer entzündet. Bedeutend die Worte des Paters der Insel, Don Mimmo, der sich an die Überlebenden wendete und sie um Vergebung bat.

Am Ende dieses langen Tages des Gedenkens fand ein Moment der Begegnung, eines Festes mit Migranten und Lampedusanern statt, die auf dem Kirchplatz ein gemeinsames eritreisches Abendessen, Zigni, ein typisches Gericht aus Fleisch und gewürzter Sauce, einnahmen.

Ein Abendessen, das auch zur Auseinandersetzung, gemeinsamem Verstehen und dem Hören ihrer Bitten diente. Sie möchten etwas bessere Kleidung und vernünftige Schuhe, darum kümmert sich die Caritas gemeinsam mit einigen bekannten Markenproduktionsfirmen. Schon in den vergangenen Tagen wurde Kleidung verteilt und viele sind erschienen, um sich Jeans, Hemden und neue Schuhe zu holen, um die alten Sachen aus Plastik, die ihnen das Aufnahmezentrum zur Verfügung gestellt hat, abzulegen, um sich ebenso normal, gleich den Anderen zu fühlen. 

Schließlich hat die Bürgermeisterin allen Toten und Überlebenden eine Lorbeerkrone übereignet, die heute, am 4.11., dem Festtag der Armee, am Denkmal der durch die Mafia Gefallenen in der Piazza Libertà niedergelegt wird. Auch sie seien Opfer der Mafia, der Menschenhandelsmafia, unterstreicht die Bürgermeisterin und schließt mit dem Wunsch, dass Lampedusa sich als Teil eines gerechteren Europas fühlen möchte.

Die Redaktion von Borderline Sicilia Onlus dankt Francesco Vigneri, der mit großem Enthusiasmus und Können mit uns zusammengearbeitet und über die schwärzesten Monate in der Geschichte der Migration in Italien berichtet hat.


Aus dem Italienischen von Judith Gleitze