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Donnerstag, 17. Mai 2012

Zu Besuch in Serraino Vulpitta, der Mutter der Zentren für Identifikation und Abschiebung (CIE)

Von Alessio Genovese
Das Fußballfeld, das auf dem ehemaligen Parkplatz des Zentrums entstanden ist, ist menschenleer. Die vierzig „Gäste“ des Abschiebezentrums sind in den drei Bereichen des zweiten Stocks und erwarten unseren Besuch. Heute wird keiner von ihnen Fußball spielen können, denn zumindest heute muss alles so kontrolliert wie möglich ablaufen. Zumindest während des Besuchs der Abgeordneten Alessandra Siragusa von der Demokratischen Partei. Im ersten Stock erwarten uns der Vizepräsident und ein Mann des Polizeipräsidiums von Trapani mit der Direktorin des Zentrums.
Die ersten zwei Zimmer des Flurs mit der Nummer 14 sind leer, aber normalerweise befinden sich dort hinter Gittern und in Isolation die temperamentvollsten „Gäste“ oder Immigranten aus anderen italienischen Abschiebezentren und warten darauf, in die Heimat zurückgebracht zu werden.

Tatsächlich ist das Zentrum für Identifikation und Abschiebung in Trapani in den letzten Monaten so etwas wie ein Sammelbecken des Transits für Hunderte von illegalen Tunesiern geworden, die darauf warten, in die Flüge von Palermo nach Tunesien eingecheckt zu werden.

Laut dem zuständigen Arzt des Zentrums, der im Auftrag der Leitung, der Cooperativa Insieme, agiert, ist die Situation im Zentrum unter Kontrolle. Diejenigen, die spezielle Untersuchungen oder Behandlungen brauchen, werden in das Krankenhaus in Trapani gebracht und anschließend zurück zum Zentrum. „Es gab in der Vergangenheit Fälle von Tuberkulose und HIV, aber zur Zeit gibt es keine bedenklichen Fälle“, erzählt der Doktor. Schauen wir uns jedoch die Patientenakten der Notaufnahme an, so sehen wir, dass es bereits in den ersten neun Tagen im Mai dreizehn Notfälle gab. „Es sind immer die gleichen beiden Jungen, Reda und Muhammad. Jeden Tag, wirklich jeden Tag lassen sie sich ins Krankenhaus bringen“, sagt der Verantwortliche des Polizeipräsidiums.

Reda ist ein 19-jähriger Junge marokkanischer Abstammung, der aber mit seiner Mutter in Palermo aufgewachsen ist. Letzten Monat hat er zweimal versucht sich umzubringen. Er kann es nicht hinnehmen, dass er von seiner pflegebedürftigen und nun alleine lebenden Mutter getrennt wurde. Vor weniger als einem Monat wurde er gefunden, als er versuchte, sich mit einem Bettlaken an einem Balken im Badezimmer zu erhängen. „Es war vier Uhr morgens als wir ihn fanden“ sagt uns Wilson, ein albanischer Junge der seit zwei Monaten in Vulpitta ist, „dass er überlebt hat ist ein Wunder, denn er war bereits bewusstlos.“ Wilson ist ein richtiger Wirbelwind. Sein perfektes Italienisch hat er während fünf langen Jahren Gefängnis erlernt, als er für Drogenhandel das höchste Strafmaß erhielt. Heute hat er die Haft abgesessen und ist seit zweieinhalb Monaten im Abschiebegefängnis in Trapani. „Manche Nächte gehe ich ins Badezimmer und es kommt mir vor als wäre ich in einem Horrorfilm. Überall ist Blut, denn hier gibt es Jungen, die sich mit Eisen und Glas ritzen und es sogar essen. Sie versuchen euch zu erzählen, dass hier alles rund läuft, aber so ist es überhaupt nicht. Rena wurde mit Rivotril, einem starken Beruhigungsmittel, vollgepumpt. Schaut ihn euch doch an. Er hat geschlossene Augen. Ein 19-jähriger Junge, der die Augen geschlossen hält.“. Wilson sagte es bereits am ersten Tag, als er im Abschiebezentrum ankam: “Ich möchte zurück nach Hause, nach Albanien, nach Vlora. Dieser Ort ist die Hölle, ich will hier weg, aber stattdessen bin ich immer noch hier. Warum? Viele haben Angst mit euch zu sprechen, wenn die Polizei dabei ist, aber ich nicht. Weißt du was das Wachpersonal zu uns sagt, wenn derartige Dinge hier geschehen?“ Wilson schaut jetzt die Polizisten, die uns hierher eskortiert haben, an und schreit: „Sie sagen, wenn er sich einmal aufhängt, dann kann er sich auch ein zweites Mal aufhängen. Wenn er hundert Gramm Glas isst, dann kann er auch zweihundert Gramm essen. Sie machen sich über uns lustig, verstehst du? Wir haben Reda gerettet. Hier drinnen können die Menschen sterben und denen da ist das total egal.”

In Serraino Vulpitta ist die Situation auch schon mal über alle Maßen hinaus eskaliert. Es war die Nacht vom 28. auf den 29. Dezember 1999, als das erste Abschiebegefängnis Italiens brannte. Zur Zeit des Gesetzes Turco-Napolitano hießen die gegenwärtigen Zentren für Identifikation und Abschiebung noch Zentren des zeitweiligen Aufenthalts („Centri di permanenza contemporanea“). Das erste wurde 1998 in Trapani eröffnet. Bei dem Brand in jener Nacht, den einer der zwölf Immigranten in den verriegelten Zellen aus Protest gelegt hatte, starben sechs Menschen. Das geschah vor mehr als zwölf Jahren und mittlerweile sind in diesen Zellen Hunderte von Männern gewesen. Durch die Gebete und Hilferufe, die diese Männer über die Jahre an die Mauern gekritzelt haben, sprechen die Wände hier alle Sprachen. Und es besteht jede Nacht wieder die Gefahr, dass jemand dort drinnen "den Löffel abgibt".

Dass es immer schwieriger wird in diesen Zuständen zu arbeiten, das bestätigt uns auch die Direktorin des Zentrums. Die Verlängerung des Aufenthalts bis zu achtzehn Monaten hat die Situation auch für Mitarbeiter und Ordnungskräfte, die immer häufiger zu Einsätzen gerufen werden, um Fluchtversuche und Proteste einzudämmen, erschwert. Für diese sind sehr oft die prekären Hygiene- und Sanitärzustände sowie die mindere Qualität der Nahrungsmittel der Zündstoff. In Zeiten von Krise und Kürzungen werden die Genossenschaften bevorzugt, die ihre Produkte zu einem sehr geringen Preis anbieten. Die täglichen Ausgaben für einen „Gast“ sind auf 20 Euro gesunken, was sicherlich nicht genug ist, um einen minimalen Lebensstandard zu gewährleisten. Die Konsequenzen sind allgegenwärtig. Heute, während der Essensausgabe, hat die Abgeordnete Siragusa entdeckt, dass auf den ausgeteilten eingeschweißten Frischhalteverpackungen das Etikett mit dem Herstellungsdatum und den Inhaltsstoffen fehlt. „Wenn der Lastwagen, der diese Lebensmittel ohne Etikettierung transportierte, von der N.a.s. (= Nucleo Antisofisticazioni e Sanità dei carabinieri, hier: Betrugsbekämpfungseinheit im Lebensmittel- und Gesundheitsbereich) auf der Straße angehalten worden wäre, müsste die produzierende Firma sicherlich sofort schließen,“ meint die Abgeordnete.

Unser Rundgang geht unter den wachsamen Augen der Polizeikräfte weiter, die mehr als alles andere darauf bedacht scheinen, dass keine Fotos von den Gebäuden gemacht werden. Ein kleiner Menschenzug der „Gäste“ des Zentrums folgt uns. Jeder von ihnen hat eine Geschichte zu erzählen, Verwandte zu benachrichtigen und eine Partnerin draußen, die auf sie wartet. Es sind viele verschiedene Geschichten, deren einziger gemeinsamer Nenner es ist, ohne Dokumente auf italienischem Staatsgebiet zu sein. Und dann gibt es noch sehr viele, die wie Wilson nach einem abgesessenen Gefängnisaufenthalt hier landen. Am Ende ihrer Haft werden sie in das Abschiebegefängnis gebracht, wo sie eine erneute ungerechte und sinnlose Verurteilung erfahren müssen. In den Zentren für Identifikation und Abschiebung müssten die Menschen landen, die es zu identifizieren gilt, nämlich diejenigen ohne Dokumente, für die eine Zusammenarbeit mit den Konsulaten und Botschaften der Heimatländer notwendig wäre, nicht aber diejenigen, die in der Vergangenheit bereits identifiziert wurden. Das alles geschieht nach dem gleichen Prinzip, das die Existenz dieser Orte rechtfertigt, die zu oft zum Schauplatz von Gewalt und von Verletzungen der Grundrechte werden. Für uns bleiben das Orte, die sobald wie möglich geschlossen werden müssen. Die Tatsache, dass es zu solchen Vorfällen in ihrem Inneren kommt, ist eine physiologische Konsequenz, die auf die Entwicklung dieser Strukturen zurückzuführen ist. Darüber hinaus werden nicht selten Menschen, die vor Verfolgung und Krieg geflohen sind, im Abschiebezentrum eingesperrt, obwohl sie einen Asylantrag gestellt haben.

Eine kleine Gruppe von fünf Menschen steht abseits am Ende eines dunklen und schäbigen Raumes. Sie sind Ägypter und sind letztes Jahr am 1. Mai in Mazara del Vallo in der Provinz Trapani mit einem Fischerboot und 74 weiteren Landsleuten angekommen. Sie haben von Italien praktisch nur die Mauern von Vulpitta gesehen, wohin sie bereits wenige Tage nach der Landung gebracht wurden. Die Mehrheit ihrer Mitreisenden hat ein noch schlimmeres Ende gefunden. Sie wurden in die Heimat zurückgeschickt, in einem Flugzeug, das in aller Heimlichkeit um fünf Uhr morgens von Palermo nach Kairo flog. Sie haben nicht einmal die Gelegenheit gehabt, über das Recht auf Asyl informiert zu werden. Adel ist einer der fünf, die im Abschiebegefängnis gelandet ist und spricht nur ägyptisches Arabisch. "In Ägypten ist die Situation zu gefährlich für uns alle", sagt er uns, "ich bin ein koptischer Christ und meine Familie wurde bedroht, nachdem sie in einen Kampf mit den Salafisten verwickelt wurde. Diese kommen in unser Viertel am Stadtrand von Kairo und schießen und terrorisieren die Menschen." Adel hat das koptische Kreuz auf der Hand tätowiert, als Zeichen des Kampfes mit den baltagiya, den bewaffneten Banden, die Panik unter den Menschen verbreiten. Seine vier Begleiter sind ägyptische Muslime und stimmen mit ihm überein." Auch wir hatten Probleme mit Banden, deshalb sind wir alle geflüchtet. In Ägypten ist die Situation zu gefährlich um weiterhin dort zu leben. Das Schicksal unserer Familien hängt von dieser Reise ab, davon ob wir in Italien Arbeit finden oder nicht." Sie haben Asyl beantragt und geben an, es sei das erste gewesen was sie bei ihrer Ankunft gesagt hatten, aber wahrscheinlich ist ihnen dieses Recht erst unmittelbar nach der Anordnung zur Abschiebung mitgeteilt worden. Nur so kann ihr Aufenthalt im Abschiebezentrum gerechtfertigt werden. Ein Verfahren an der Grenze der Legalität, das sie dazu zwingt wer weiß wie lange in diesem Käfig eingeschlossen zu bleiben.

Erst heute bestätigt die Innenministerin Cancellieri in der Anhörung des Menschenrechtsausschusses des Senats, dass die Aufmerksamkeit für die Lebensbedingungen in den Gebäuden ein besonders empfindlicher Punkt sei, auf den sie besonders achte. Während diese Regierung aber den Bau neuer Abschiebezentren und die Angleichung der schon bestehenden Zentren finanziert, und zwar genauso wie die Politik der früheren Regierungen, müssen wir lautstark die Schließung der Zentren fordern. Es kann keine menschenwürdigen Lebensbedingungen an Orten geben, wo Haft bis zu 18 Monaten hingezogen werden kann und den Insassen die elementarsten Grundrechte verweigert werden.

(Aus dem Italienischen von Frederike Neuber)