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Mittwoch, 1. Februar 2012

Die Eltern der Verschwundenen: „Italien, hilf uns, unsere Kinder zu finden.“

Sie sind am 28. Januar nach Palermo gekommen, um nach ihren vermissten Angehörigen zu suchen.
Aus der Tageszeitung „Il Manifesto“, Enrico Montalbano und Laura Verduci

Am Samstag ist eine Delegation von Eltern der mehr als 200 tunesischen Jugendlichen, die nach Italien aufgebrochen und dann verschwunden sind, in Italien angekommen: „Wir möchten verstehen.“ Sie sind Verwandte der etwa 200 Jugendlichen, die im März mit vier Booten aufgebrochen waren - am 1., am 14., und zwei Boote am 29. März - und von denen jegliche Spur fehlt. Einige von ihnen haben zu Hause angerufen und gesagt, sie seien gerade angekommen oder könnten die Küste und italienische Schiffe sehen. Doch dann gab es keine Nachrichten mehr. In jenen Tagen wurden keine Schiffbrüche gemeldet.
Ihre Verwandten demonstrieren schon seit Monaten in Tunesien, um etwas über das Schicksal dieser Jugendlichen zu erfahren. Die tunesische Regierung hat die italienische Regierung um die Fingerabdrücke aller identifizierten Tunesier gebeten, die in jenen Tagen in Italien angekommen sind. In diesen Wochen laufen wichtige Verhandlungen. Inzwischen ist die Delegation nach Italien gekommen, um einige Haftzentren für Migranten zu besuchen, in der Hoffnung, dort Hinweise auf ihre Kinder und Geschwister zu finden.


Der vollständige Appel ist von storiemigranti veröffentlicht worden
ITALIENISCHE UND TUNESISCHE FRAUEN: BRIEF AN DIE JOURNALISTINNEN
VON KÜSTE ZU KÜSTE: LEBEN, DIE ZÄHLEN

Zur Zeit ist ein Appell der Angehörigen der vermissten tunesischen Migranten im Umlauf. Es ist bekannt, dass direkt nach der Revolution viele junge Leute nach Europa aufgebrochen sind und ihr Recht auf Reisefreiheit beansprucht haben. Von vielen von ihnen - 300, vielleicht 500 Personen - fehlt jede Spur.
Doch hier in Italien, und anfangs auch in Tunesien, hat fast niemand darüber gesprochen. Eine Nachricht, der keine Beachtung geschenkt wurde; währenddessen organisierten die Familien in Tunesien Demonstrationen und Sit-ins, die lange sowohl von den Institutionen ihres Landes als auch von den italienischen und europäischen Institutionen ignoriert wurden.
Vor einigen Wochen jedoch wurde das Schweigen in Tunesien gebrochen, und zwar dank der Tatkraft und Beharrlichkeit der Familien, die sich an dem Appell beteiligen und verlangen, dass die Fingerabdrücke, die für die Registrierung der Personen und die Behinderung ihrer Bewegungsfreiheit aufgenommen werden, in diesem Fall dazu verwendet werden herauszufinden, ob und wo ihre Kinder angekommen sind.

Hier in Italien haben wir, eine Gruppe italienischer und tunesischer Frauen, beschlossen, den Appell aufzunehmen und ihn auf verschiedene Weise zu unterstützen, indem wir ihm größtmögliche Verbreitung verschaffen und uns dafür einsetzen, dass das italienische Innenministerium der Forderung nach einer Überprüfung der Fingerabdrücke nachkommt, deren Ergebnis wir kontrollieren möchten.
Als Frauen und Journalistinnen bitten wir Sie, das Gleiche zu tun, den Appell bekannt zu machen und sich mit uns für dessen Verbreitung einzusetzen.
Das Transparent „Von Küste zu Küste: Leben, die zählen“ und (auf arabisch) „Wo sind unsere Kinder?“ wird am Samstag, den 17. Dezember, dem Jahrestag des Todes von Mohamed Bouazizi, der den Anstoß für die tunesische Revolution gegeben hatte, und zum Anlass des internationalen Tags gegen Rassismus und für die Rechte der Migranten ausgestellt. Am Samstagnachmittag werden wir bei der Ankunft der Demonstration am Hauptbahnhof in Mailand sein, um Unterschriften für den Appell zu sammeln. Am Sonntag, den 18., wird das Transparent beim Sit-in der Familien der vermissten Migranten am Platz der Menschenrechte in Tunis ausgestellt. Im Januar wird in Mailand ein öffentlicher Informationstag stattfinden, als Vorbereitung auf eine Initiative, die wir für den 14. Januar 2012, Jahrestag der Revolution, organisieren.
Der Wunsch der Angehörigen der vermissten tunesischen Migranten, ihre Kinder lebend zu finden, ist so groß, dass er Grenzen und Hindernisse überwindet und auch uns erreicht; und er kann uns nicht gleichgültig lassen, da er den Wunsch nach Freiheit in sich trägt, der diese Männer und Frauen auf ihrem Weg angetrieben hat.

Italienische und tunesische Frauen
Kontakt: venticinquenovembre@gmail.com; pontes@live.it

Weitere Informationen:
http://leventicinqueundici.noblogs.org/
http://leventicinqueundici.noblogs.org/?page_id=354 http://www.pontes.it/ http://www.espacemanager.com/chroniques/tunisie-ou-sont-nos-fils-un-cri-qui-n-a-pas-besoin-de-visa.html

Appell für die vermissten tunesischen Migranten:
Versuch mal dir vorzustellen: dein Bruder oder dein Sohn bricht auf und meldet sich nach seiner Abreise nicht mehr. Ist er nicht angekommen? Du weißt es nicht; er könnte im Ankunftsland verhaftet worden sein, denn dort ist nicht vorgesehen, dass man einfach losfährt und dann dort ankommt, und deshalb werden die Ankömmlinge verhaftet und in Haftlager oder Gefängnisse gesteckt. Du wartest einige Tage, siehst im Fernsehen Bilder von dem Ort, an dem er angekommen sein sollte, und hoffst, ihn zu sehen. Dir wird auch klar, dass dein Sohn oder dein Bruder nicht der einzige ist, der nach seiner Abreise nicht zu Hause angerufen hat. Zusammen mit den anderen Familien bittest du daher die Behörden deines Landes, Nachforschungen anzustellen, ob sie irgendwo im Gefängnis sind, und du hoffst, dass es so ist, auch wenn du Angst hast, dass sie nicht gut behandelt werden. Doch die Behörden tun nichts, sie fragen nicht und hören dir nicht zu, monatelang. Unterdessen nimmst du an Sit-ins und Demonstrationen teil, sprichst mit Vertretern von Vereinen, mit Journalisten, nimmst überallhin ein Foto von deinem Sohn oder deinem Bruder mit, du vertraust dich jedem an, der aus dem anderen Land kommt, gibst ihm die Fotos, das Geburtsdatum und die Fingerabdrücke. Du willst etwas erfahren.
Doch nichts geschieht, und du beginnst dir vorzustellen: er könnte in einer Isolationszelle sein, er könnte als Schlepper verhaftet worden sein, er könnte sich in einem Haftlager aufgelehnt haben, er könnte... Er könnte in Italien sein, aber vielleicht auch in Malta, oder in Libyen.
Kannst du es dir vorstellen? Einige von uns müssen sich dies nicht vorstellen, denn uns ist genau dies geschehen. Sie sind mit Booten aus Tunesien aufgebrochen und viele haben sich nicht mehr gemeldet. Sind sie tot? Sind sie im Gefängnis? Sind sie ...?
Um dies zu erfahren, bitten wir die italienischen und tunesischen Behörden um ihre Hilfe. Es wäre ganz einfach, denn die tunesischen Ausweise enthalten die Fingerabdrücke und in Italien werden die Fingerabdrücke der identifizierten oder inhaftierten Migranten aufgenommen. Wir fordern daher, dass die Angehörigen der Vermissten einen Antrag an das tunesische Außenministerium stellen können, damit dieses die Fingerabdrücke an das italienische Innenministerium weitergibt, und das italienische Innenministerium bitten wir um Antwort.
Kannst du es dir vorstellen? Wenn es dir gelingt, dir das vorzustellen, dann bitten wir dich, uns zu unterstützen und diesen Appell zu unterschreiben.

Aus dem Italienischen von Renate Albrecht