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Sonntag, 28. August 2011

Tagebuch Lampedusa - 28. August 2011

Von Antonello Mangano – „Wir können die Tür auflassen“, sagen die Touristen aus der Lombardei. Die Insel ist sicher, man sieht überhaupt keinen Immigranten. In der Tat, sie sind eingesperrt an gottverlassenen Orten, isoliert von allem und allen. Nur die Jugendlichen von Askavusa halten die Erinnerung an die Schiffbrüchigen lebendig und machen politische Vorschläge, wie etwa den humanitären Korridor, der es den Kriegsflüchtlingen erlaubt, sicher anzukommen. „Das ist der wahre Journalismus“.
Im Café des Hafens haben sie eine ganze Seite der „Gazetta di Parma“ ausgeschnitten, haben mit Filzstift den Kommentar hinzugefügt und sie an die Glastür geklebt. „Ruhe ist an der Tagesordnung, Immigranten sind unsichtbar“, erzählt die Journalistin aus der Emilia. Eine Botschaft an die Touristen aus dem Norden. Diese Insel ist ein Paradies, man begegnet keinem Tunesier, aber Flip-Flops und dem Duft Afrikas, wie die Zeitung titelt. Die Touristen aus Mailand bestätigen das. Glühende Sonnenuntergänge mit Palmen im Gegenlicht, Gerichte auf der Grundlage von Cous-Cous, Häuser in landestypischer Architektur und warmer Wind. Wir befinden uns auf demselben Längengrad wie Kairo, Tunesien und Algerien liegen nördlicher. „Denen gefällt Afrika, - aber ohne Afrikaner“, kommentiert eine Freiwillige. „Wir schlafen abends bei geöffneten Fenstern und offener Tür“, erzählt ein Paar aus Monza der Zeitung aus Parma. „Die Insel ist sicher wie kein anderer Ort. Wir sind seit 10 Tagen hier, und aus den Nachrichten haben wir erfahren, dass 2000 Immigranten gelandet sind, wir haben nichts gesehen, nicht einmal einen illegalen Einwanderer, nichts. Das ist die (!) Meldung.“ Tatsächlich. Um die Mailänder Touristen nicht zu belästigen, werden die Immigranten sofort in Omnibusse verladen und nach Contrada Imbriacola (Sammellager im Osten von Lampedusa) verbracht, hinten in einer Talebene, so halb zwischen Matera und dem Inferno Dantes. Unsichtbar, wenn man nicht auf einer Nebenstraße hinaufklettert und versucht, sie von oben zu erblicken. Die Jüngeren dagegen, die ohne Begleitung sind, werden in die äußerste entgegengesetzte Richtung transportiert, auf die ehemalige Nato-Basis Loran (Sammellager im Westen von Lampedusa), ein gottverlassener Ort, umgeben von Stacheldraht und flankiert von einem merkwürdigen Schiffsfriedhof. Auch Ben Alì machte es auf diese Art. Seine Art war der touristische Faschismus. Die Polizei säuberte die Straßen von Nervensägen und Oppositionellen und die Touristen konnten ihre Reise genießen. Die Hunde von Lampedusa können ihr Bad nehmen. An einem anderen Ort würde man sie herrenlos nennen, hier sind sie einfach frei. Streifen umher ohne Herrn, schlafen, und abends gehen sie an den Strand, wenn der von Touristen geleert ist. Niemand stört sie und sie stören auch niemanden. Den Hunden wird zugestanden, was einem afrikanischen Jugendlichen verboten ist. Er kann keinen Spaziergang machen und keinen Kopfsprung in eine Bucht mit kristallklarem Wasser. Sonst hätte das Pärchen aus Monza auch Angst und ließe die Tür nicht offen, wie zu der Zeit, als es den Duce gab. Auf der Kanincheninsel, einem Naturreservat, warnt ein Plakat, dass es verboten ist zu klettern, da das Getrampel des Menschen die algerische Eidechse stören könnte, eine seltene afrikanische Art, die man sonst nirgends in Europa findet. Wenn aber statt eines Reptils ein algerisches menschliches Wesen hier ankommt, wird es nicht beschützt sondern auf ein Militärfahrzeug verladen und in ein Tal nach der Art Dantes verbracht, in ein Zentrum des „Empfangs“. Wenn man um die Ecke der Via Roma biegt, sieht man Peppino Impastato. Sein Gesicht ist auf die Fassade des Sitzes von Askavusa gemalt. Das ist eine Gruppe von Jugendlichen, die die Kampagne „Ich gehe nach Lampedusa“ für einen verantwortlichen Tourismus auf den Weg gebracht hat, der die Insel wertschätzt, ohne die Immigranten zu kriminalisieren. Sie hat auf intelligente Weise gegen die Realität protestiert, die vom Fernsehen gemacht wird. Sie hat den humanitären Korridor für die Heimatvertriebenen vorgeschlagen, die dem libyschen Inferno entkommen sind, dafür aber heute das Risiko eingehen, in den Wellen zu sterben. Schließlich hat sie, in einem Kontext, der es vorzieht zu vergessen und auszulöschen, in ihren Räumlichkeiten Fetzen der Erinnerung gesammelt: Schuhe und Hefte, Seiten des Koran und Teekannen. Kleine Objekte geborgen aus den Schiffen und stumme Zeugen der Migration im Mittelmeerraum. Eines Tages werden sie in die Geschichtsbücher eingehen und mit ihnen auch die Jugendlichen von Askavusa, einzigartige Zeugnisse der Erinnerung in einer dümmlichen Urlaubs-Sorglosigkeit.

Antonello Mangano, http://terrelibere.org/4316-diario-da-lampedusa-6-il-fascismo-turistico

(aus dem Italienischen von Rainer Grüber)