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Freitag, 15. Dezember 2017

Wir sind keine Schleuser

Vita.it – Tag und Nacht haben sie gearbeitet, um das Haus des Weihnachtsmanns fertigzustellen. Einer hat Holz gehackt, ein anderer den Schlitten oder den Baum lackiert, wieder einer hat Blätter für die kleinen Gestecke gesammelt und der nächste das Moos und die Steine für die Höhle. Zwischen dem Besuch bei eine*m Anwält*in und dem Telefonat mit den Eltern im Senegal oder in Ghana, die noch bis vor kurzem, als sie im Gefängnis waren, gedacht hatten, sie seien tot. Zwischen dem einen und dem anderen hoffnungsvollen Wort. Bevor sie bei den Carabinieri unterschreiben, so wie sie es jeden Nachmittag tun, bevor sie ins Gefängnis zurückkehren.
Foto:Alessandro Puglia, Vita.it

Das Haus des Weihnachtsmanns der multikulturellen Werkstatt Terra Viva in San Giovanni La Punta, in der Gegend von Catania, mit dem verschneiten Ätna im Hintergrund, war nicht die Arbeit einfacher Schreiner, sondern die von Schleusern, die wie in diesem und in vielen anderen Fällen, Migranten wie alle anderen oder mehr noch als andere sind.

„Schleuser, was heißt Schleuser? Ich bin keiner und ich habe auch kein Boot gesteuert. Ich wurde an fünf aufeinanderfolgenden Tagen im Gefängnis in Tripolis geschlagen, in dem Raum, in den sie all diejenigen sperren, die nicht bezahlt haben“, erzählt Alexandre, der wegen seiner imposanten Statur den Spitznamen Hulk trägt, aber gleichzeitig Radio Maria hört.

„Als wir im Boot waren, haben mich die Libyer am Hals gepackt und mir die Pistole an die Schläfe gedrückt. Mich haben sie ans Steuer gezwungen, einem Jungen aus Gambia haben sie, nur weil er Englisch konnte, das GPS mit der Notrufnummer gegeben, um anzurufen, wenn wir die internationalen Gewässer erreicht hätten“, fährt Abdou den Bericht fort. Er steht jetzt hier unter Hausarrest, nachdem er schon zwei Jahre im Gefängnis am Lanza-Platz in Catania zugebracht hat: „Ins Gefängnis haben sie mich barfuß gebracht, ich war einen Monat in Isolationshaft, weil ich die Krätze hatte“.

Diverse Anlandungen. Erzählungen und Berichte, denen Drohungen und Gewalttätigkeiten aller Art gemeinsam sind. Immer wieder tauchen Sätze auf wie: „Wenn du versuchst zurückzukommen, töten wir dich“, denen fast immer Folterungen in den Gefangenenlagern in Libyen vorausgingen. John sagt, dass er von Libyern mit der Kalaschnikow bedroht wurde, bevor er von Sabrata wegging. „Sieh dir das an“, er zeigt auf sein Gesicht, „ sie haben mich mit Eisen und Feuer gezeichnet“.

Wie John erzählt auch Isaac aus Ghana eine ähnliche Geschichte: „Sie schlugen uns, ich sagte, dass ich das Boot nicht steuern wolle, ich habe mich geweigert und sie sagten zu mir, dass sie mich töten würden, ich hatte große Angst, ich kannte die Route nicht“. Isaac wurde am 24. Juni 2016 im Hafen von Catania vom Militärmarine-Schiff Spica ausgeschifft, während der Rettungsaktionen gab es an Bord – wie es oft geschieht – eine Auseinandersetzung, eine junge Nigerianerin starb. „Die Leute, mit denen ich reiste, dankten mir dafür, dass ich ihnen das Leben gerettet habe.“

Nach Artikel 12 des Rechtstexts zur Immigration beträgt die vorgesehene Haftstrafe für Schleuser mindestens 5 bis höchstens 15 Jahre mit einer zusätzlichen Geldstrafe von 15 000 bis 25 000 Euro für jede Person, die italienischen Boden betritt. Eine unendlich hohe Summe, inklusive der verschiedenen Minderungen ungefähr eine Million Euro, die die Migranten nie werden zahlen können: „Einer meiner Klient*innen, der für zweieinhalb Jahre verurteilt wurde, hat eine Strafe von 924.445 Euro“, erklärt die Anwältin Rosa Emanuela Lo Faro, die in ihrer Laufbahn mehr als 50 Schleuser verteidigt hat: „Es gibt eine Gesetzeslücke. Man darf nicht verallgemeinern. Man müsste unterscheiden zwischen Kriminellen und denen, die man mit der Waffe gezwungen hat, das Boot zu steuern. Nur einer von zehn macht das beruflich.“

Zum Delikt der Beihilfe zur illegalen Einwanderung kommen strafverschärfende Umstände hinzu: der Transport von fünf oder mehr Personen; Menschen der Lebensgefahr aussetzen auf „einem völlig unsicheren Schiff“, das von den vermeintlichen Tätern sicher nicht selbst ausgewählt wurde; der Waffenbesitz und der ökonomische Gewinn. Die „Schleuser“, die Vita.it getroffen hat, erzählen, dass sie nicht nur unbewaffnet waren, sondern die Überfahrt unter Androhung von Waffengewalt genauso bezahlt haben wie alle anderen Migrant*innen auch.

„Der Artikel 12 wird überarbeitet. Es handelt sich um Vorschriften, die sich auf Drogenhändler beziehen, aber sie werden auf Schleuser angewandt. Der Schleuser ist eine Figur, die sich im Lauf der Jahre gewandelt hat und in solchen Fällen verlangen wir, dass man ihn zu den Opfern des Menschenhandels zählt“, erklären die Anwältinnen Paola Ottaviano e Germana Graceffo des Vereins Borderline Sicilia, die laut einer Studie ausgerechnet haben, dass auf 100 Migrant*innen zwei Schleuser festgenommen werden.

Um einen Freispruch zu beantragen, versuchen sich die Anwält*innen auf eine Befreiung aufgrund von Hilfsbedürftigkeit zu beziehen, die im Strafgesetzbuch vorgesehen ist, aber die Fälle von Freispruch lassen sich an einer Hand abzählen und oft strebt man eine Urteilsabsprache an, um wenigstens eine Strafminderung zu erhalten.

Zu diesem Phänomen hat die Staatsanwaltschaft von Catania Stellung bezogen. Während der Anhörung vor der Kammer am 22. März 2017 erklärte der Staatsanwalt Carmelo Zuccaro, wie „die Leute, die sich ans Steuer dieser Boote setzen, nicht mehr den Menschenhandelsorganisationen angehören, nicht einmal auf niedrigem Niveau. Es sind Leute, die einfach im letzten Moment unter den Migrant*innen ausgewählt werden.“

Die Staatsanwaltschaft von Catania präzisiert weiter, dass „sie kein Rundschreiben erlassen hat, um zu bestätigen, dass man gegen die Zufallsschleuser nicht gerichtlich vorgehen müsse, da sie aufgrund ihrer Bedürftigkeit von jeder Schuld freigesprochen sind“, und hat anstelledessen entschieden, in diesen Fällen keine Festnahme von Zufallsschleusern vorzunehmen, da „sie nicht Teil eines organisierten Zusammenhangs sind, der sich dem Handel mit Migrant*innen widmet“ und da ihr Verhalten offenbar „nicht von einer solchen Schwere und Gefahr ist, die eine solche Vorsichtsmaßnahme rechtfertigen würde“.

Trotz der Vorgabe der Staatsanwaltschaft kehren die schon verurteilten „Schleuser“ ins Gefängnis zurück und John muss das Haus des Weihnachtsmanns verlassen. „Er hatte sich gerade Waschpulver für seine Kleidung, Zahnpasta und eine neue Zahnbürste gekauft. Meine Jungs sind zerstört, sie weinen: hier erklärt keiner das Warum. Auch die Carabinieri, die gekommen sind, um ihn mitzunehmen, sagen, dass John ein tüchtiger Junge ist. Aber der Staat macht nichts“, erzählt Giuseppe Messina, Vorsitzender und Gründer der Vereinigung Insieme, die die Werkstatt Terra Viva ins Leben gerufen hat.

„Ich werde nie die großen Augen eines minderjährigen Jungen vergessen, der angeklagt wurde, ein Schleuser zu sein. Er weinte und wiederholte ständig: Ich bin jung. Dann ist es gelungen nachzuweisen, dass er minderjährig ist und er wurde aus dem Gefängnis entlassen, aber eineinhalb Monate hat er dort drinnen verbracht“, erzählt Salvo Coco, Psychologe für Straffällige im Gefängnis von Catania und Giarre. „Im Gefängnis gibt es keine Dolmetscher, die ihre Sprache so gut beherrschen, um mit ihnen zu reden. Wenn die Jungs kommunizieren wollen, weinen sie und schlagen mit den Fäusten um sich, weil sie keiner versteht. Und es gibt einige Fälle von Selbstverletzungen“, fügt der Psychologe hinzu. „Echte Schleuser sieht man seit einiger Zeit nicht mehr, diese Migranten haben seelische und körperliche Wunden, die schwer heilen können. Unter den erlittenen Foltermethoden gibt es oft Schläge mit dem Gewehr, in einem Fall haben sie einem Minderjährigen sechs Zähne mit einer Zange herausgezogen“, fügt Giuseppe Cannella, Psychologe und Psychiater der „Medici per i diritti umani“ (Ärzte für Menschenrechte) hinzu. 


Im Haus des Weihnachtsmanns ist jetzt alles zur Einweihung fertig. Die Schreiner, die es angefertigt haben, bleiben lieber hinter den Kulissen und essen etwas Panettone. „Ich lebe mit den Jungs zusammen. Nachts kann ich nicht schlafen, weil ich an den Tag denke, an dem sie wieder ins Gefängnis müssen wie in Johns Fall. Es ist unmöglich. Ins Gefängnis gehört der, der etwas verbrochen hat, nicht sie“, sagt Giuseppe Messina, Vorsitzender und Gründer des Vereins Insieme, der die Werkstatt Terra Viva ins Leben gerufen hat, und der, um seinen Jungs auf der weihnachtlichen Baustelle zu helfen, sogar die Soldaten des amerikanischen Stützpunkts Sigonella mit einbezogen hat.

Das Haus des Weihnachtsmanns ist jetzt für die Öffentlichkeit geöffnet. Kaum hat Giuseppe unter Tränen John verabschiedet, flüstert ein Kind, das auf den Beinen des Weihnachtsmannes sitzt, einen Wunsch. An Weihnachten möchte es ein großes Boot bekommen und Kapitän sein.

Alessandro Puglia

Übersetzung aus dem Italienischen von Jutta Wohllaib