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Dienstag, 5. Dezember 2017

Migrationspolitik und Unmenschlichkeit

„Das Leiden der Migrant*innen, die in Libyen gefangen gehalten werden, ist eine Beleidigung für das Gewissen der Menschheit.“ Wer diese Erklärung abgibt ist kein*e Aktivist*in sondern ein Repräsentant des Hochkommissariats für Menschenrechte der UNO.




Was in Libyen geschieht ist das Unvorstellbare, das alltägliche Gewalt wird. Italien und Europa versteifen sich auf kriminelle Weise darauf, Übereinkünfte – auch mit Schleusern – abzuschließen. Dadurch wollen sie um jeden Preis die Menschen aufhalten, die nur ein würdiges Leben suchen. Entscheidungen liegen in der Hand einer kleinen gewalttätigen Elite, die das Leben von Millionen von Menschen durch Politik und Verträge kontrolliert und bestimmt. Sie entscheidet, ob ein Land gut oder schlecht ist, ob ein*e Migrant*in würdig ist, internationalen Schutz zu beantragen oder ob er als unwürdig für die Gesellschaft betrachtet werden muss. In diesem letzten Fall ist er folglich würdig, in Libyen wie in Europa, geschändet, gefoltert und missbraucht zu werden.

In den Jahren 2016 und 2017 haben sehr viele unbegleitete minderjährige Geflüchtete in der Wüste oder auf dem Meer ihr Leben verloren. All jene, die die Reise gewagt haben, auch wenn sie noch minderjährig waren, haben auf dem Transit in Libyen die gleichen Grausamkeiten wie die Erwachsenen erlebt. Dann, in Europa angekommen, müssen sie als Sklav*innen auf unseren Feldern und Straßen leben. Es ist ein kleines Heer von Unsichtbaren, das auf der Suche nach einem Ziel umherstreift und dabei durch alle Stufen der Ausbeutung geht. Von den 18.500 unbegleiteten Minderjährigen, die in 2017 angekommen sind, haben mehr als 5500 auf eigene Faust die Einrichtung verlassen, in der sie untergebracht waren. Der Prozentsatz derer, die die Zentren verlassen haben, ist in den letzten Monaten durch die Ankunft sehr vieler tunesischer Minderjähriger gestiegen; sie haben Angst, abgeschoben zu werden und laufen weg, sobald sich ihnen die Möglichkeit bietet. Fluchten, die oft durch klare rechtliche Informationen vermieden werden könnten.

Die letzten Daten zu unbegleiteten Minderjährigen sind unbarmherzig und zeigen wieder einmal den hohen Prozentsatz an Verschollenen, d.h. von Minderjährigen, von denen man die Spur verloren hat und die sicherlich in den Maschen der Ausbeuter und Schleuser gelandet sind. Diese erfreuen sich an der inhumanen Politik und an den unrechtmäßigen Praktiken, die von den Institutionen umgesetzt wurden.

In diesen Rahmen fügt sich die regionale Aufnahmepolitik gegenüber Minderjährigen ein; diese ist leider katastrophal. Die Region unterschreibt weiterhin Genehmigungen für die Eröffnung von Gemeinschaften zur ersten oder zweiten Aufnahme, ohne wirkliche Kenntnis vom Umfeld zu haben, in dem sie eröffnet werden. Es gibt Ortschaften, in denen die Zahl der Minderjährigen äußerst hoch ist, in denen es aber keine Basisleistungen wie Schule, Gesundheitsfürsorge und soziale Dienste gibt. Um eine Genehmigung zu bekommen reicht es aus, wenn eine Gemeinschaft über ein Gebäude verfügt, auch wenn es irgendwo in den Bergen liegt.

Schon lange weisen wir auf ein Problem hin, das in Zusammenhang steht mit der sehr hohen Zahl der Zentren der ersten und zweiten Aufnahme. Diese werden weiterhin eröffnet, obwohl die Ankünfte zurückgehen. Das trägt dazu bei, dass in vielen Zentren nicht alle Plätze belegt sind; daher werden, um weiterhin das entsprechende Kostgeld zu bekommen, die Jugendlichen nicht woanders hin verlegt. So wird die Umsetzung von Bildungsprojekten verhindert. Obwohl dieses Problem mehrmals bei den entsprechenden Stellen angezeigt worden ist, wurde bislang überhaupt keine Lösung gefunden. Die Minderjährigen sind es, die dafür bezahlen; sie verlieren die Hoffnung und wir nehmen ihnen auch noch das bisschen Menschlichkeit weg, das ihnen nach der libyschen Hölle geblieben ist.

Auf der anderen Seite gibt es dann Fälle, in denen Gemeinschaften gezwungen sind zu schließen, weil die Institutionen seit einiger Zeit nicht bezahlen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Präfektur von Palermo hat im Januar 2017 die Zahlungen eingestellt. In den letzten Tagen haben einige Gemeinschaften kapituliert, mit dem konkreten Risiko, dass die Aufnahme unter einer Brücke oder unter den Bogengängen einer Bahnstation weitergeht. Auch aus dieser Situation entkommt man nur durch die Flucht um sich eine bessere Zukunft aufzubauen, aber man findet sich in einer Zeltstadt oder in einem verlassenen Landhaus wieder, gezwungen, sich durch Betteln am Leben zu halten.

Den Neu-Volljährigen, die einen Schutzstatus haben und die die Gemeinschaften bei ihrem Abgang aus den Zentren nicht begleitet haben, bleibt als einzige Möglichkeit die Straße.

Wenn wir ds Monitoring in den Zentren durchführen, treffen wir oft auf Mitarbeiter*innen, die sich ihrer Aufgaben und Befugnisse nicht genau bewusst sind, die mit Verträgen ohne Schutz arbeiten, ihrerseits unterbezahlt und ausgebeutet. Mitarbeiter*innen, die als pädagogische Kräfte eingestellt werden, aber dann ganz was anderes machen.

Junge Leute, die gerade ihren Hochschulabschluss erworben haben, die die Kooperativen bis aufs Letzte ausbeuten können. Junge Leute, denen wir auf diese Weise die Leidenschaft für die Arbeit und ihre Zukunft nehmen. Junge Leute, die gezwungen sind, die Arbeit zu verlassen, damit sie nicht wegen der Schikanen, denen sie von Seiten der Arbeitgeber ausgesetzt sind, in der Therapie landen. Dynamiken, die den Institutionen, den Gewerkschaften und den humanitären Organisationen wohlbekannt sind. Diese haben die Möglichkeit, Kontakt zu Migrant*innen und Mitarbeiter*innen aufzunehmen und zu pflegen. Trotzdem werden diese Dynamiken nicht auseinandergenommen. Stattdessen wird das unterstützt, was - für einige Wenige – das Wichtigste ist: dass die Migrationsindustrie wächst und gedeiht.

Schließlich wird auch beklagt, dass in den zuletzt eröffneten CAS* im Gebiet von Palermo und Agrigent die Menschen in Einrichtungen untergebracht werden, die verstreut und weit entfernt von bewohnten Ortschaften liegen. Die bürokratischen Verfahren zur Beantragung des internationalen Schutzes werden unterlassen und auch keine rechtlichen Informationen gegeben. Uns wurde von Problemen berichtet beim Zugang zu Grunddiensten und von einem Mangel an Kleidung. Mitarbeiter*innen mit einem guten Herzen setzen eine Menge dran, diese Mängel zu beheben: Sie bringen die Leute zu den Einrichtungen, die in Palermo eine Kleiderkammer unterhalten, wie das Zentrum Astalli, und sie begleiten sie, wegen der schlechten Qualität des Essens, mit dem sie in den Zentren versorgt werden, zur Mensa der Caritas, um dort zu essen.

Die Unmenschlichkeit dieser Politik ist auch für die Migrant*innen offensichtlich, die die Konsequenzen am eigenen Leib spüren. Die Frage, die einem unserer Freude von einem der tunesischen „Geisterjugendlichen“ gestellt wurde, macht deutlich, dass sie sich der Ungerechtigkeit dieses Systems bewusst sind: „Warum können eure Rentner*innen und Unternehmer*innen in unser Land kommen und wir werden abgeschoben? Sind nicht auch wir euren jungen Leuten ähnlich, die zu hunderttausenden Italien verlassen? Sind sie nicht auch Wirtschaftsmigrant*innen?“

Redaktion Borderline Sicilia



*CAS - Centro di accoglienza straordinaria, außerordentliches Aufnahmezentrum


Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber