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Sonntag, 12. Februar 2017

Rassistische Gesetze und täglich Diskriminierungen. Szenen aus der alltäglichen Gewalt in Ostsizilien

Die italienische Regierung verstärkt ihre rassistische und auf Abschottung ausgerichtete Politik: ein Vertragsabkommen mit Libyen, stark diskriminierende Erlässe und das jüngste Abkommen, das gestern vom Ministerrat gebilligt wurde: dieses sieht vor, neue Maßnahmen einzuführen, die den „Prozess der Anerkennung auf Asyl für die Geflüchteten beschleunigen“ soll. Zugleich sollen die Möglichkeiten, Migrant*innen für gemeinnützige Arbeiten „heranzuziehen“, erleichtert und die Anzahl der Zentren für die Feststellung der Personalien und für „permanente“ Abschiebung erhöht werden. Diese Zentren heißen ab sofort CPR* und nicht mehr CIE*.



Der Prozess der Aushöhlung der Rechte von Migrant*innen geht also in unvermindert straffem Tempo weiter. Viele Stimmen des Protestes und der Empörung gegen diese jüngsten Aktionen erheben sich in ganz Italien. Wir hoffen, dass sie ein ehrliches Zeichen einer Bewusstwerdung sind dessen, wie dramatisch die Situation, in der wir uns befinden ist, und nicht nur der übliche Vorwand für unpersönliche ideologische Stellungnahmen und Scheinproteste.

Ob es uns gefällt oder nicht, ist es so, dass die Politik, die unsere Regierenden machen, im Innern eines historischen wirtschaftlichen und sozialen Kontextes entsteht, der derselbe ist, in dem auch wir und unsere Zivilgesellschaft eingebunden sind.

Die behördlichen Entscheidungen respektieren die Interessen Weniger und richten sich nach Anforderungen der italienischen und europäischen Wirtschaft und Politik. Zugleich nehmen sie aber auch die Kraft und den Rückhalt aus der täglichen Praxis und der allgemeinen Gesinnung desjenigen, der als Bürger die Meinung und das Handeln der Regierenden befürwortet und übernimmt.

Rassismus und Diskrimierungen im Umgang mit Migrant*innen sind aufgrund geschriebener und ungeschriebener Gesetze möglich. Diese treten schon im Augenblick der Ankunft deutlich zu tage. Letzte Woche landeten mehrere hundert Personen an der Ostküste Siziliens. Im Hafen von Augusta kamen innerhalb von zwei Tagen circa 1500 Menschen an.

Und genau in Augusta kann man immer wieder eines der beschämendsten und besorgniserregendsten Kapitel der sogenannten sizilianischen „Willkommenskultur“ erleben: Hunderte von Migrant*innen, darunter Familien mit Kleinkindern, Minderjährige und Schwangere, werden in einer Zeltstadt am Hafen mindestens zwei Nächte lang zusammengepfercht. In den Zeltkonstruktionen gibt es keine Betten und zu wenig Decken, es fehlt jegliche Heizmöglichkeit und die ganze Nacht durch brennt die helle Beleuchtung, während die Menschen nach der Fahrt übers Meer nur auf einen Augenblick Ruhe und Frieden warten. Diese Situation ist unmenschlich, sie wiederholt sich seit Monaten und wird durch das übliche scheinheilige Gerede, es sei nur eine „Notfallmaßnahme“ gerechtfertigt.
Die Abwesenheit jeglicher Rechtsberatung wird zur Norm, für die „humanitären“ Helfer*innen wird diese Situation „unvermeidbar“ und bleibt, zumindest von offizieller Seite her, unkritisiert.

Wir wissen sehr gut, daß all dies nur so sein kann, weil es sich um Migrant*innen handelt. Es muß nicht erwähnt werden, dass solche Missstände und gesetzeswidrige Gepflogenheiten bei Menschen hingenommen werden, die sich nicht äußern können. Sie würden niemals akzeptiert, wenn sie gegenüber italienischen Staatsbürger*innen geschähen. Jemandem, der mit Unschuldsmiene behauptet, diese Art der Unterbringung sei die einzig mögliche, würde es höchstwahrscheinlich nicht in den Sinn kommen, dies auch zu äußern, wenn die eigene Familie betroffen wäre.

Die jüngst Angekommenen stammen größtenteils aus Nigeria, Guinea, Senegal, aber auch aus Syrien, Palästina, Pakistan und Marokko. in Augusta beginnt in den angespannten Minuten der Ankunft und unter den skandalösen Zuständen bei der Erstunterbringung , die wir eben beschrieben haben, das „Sortieren“ der Migrant*innen in solche, die ein „Recht auf Schutz“ haben und solche, die abgelehnt werden sollen. Es ist ein Lotterieverfahren, das auf der Herkunftsnationalität beruht. Kriegserlebnisse aus Libyen und das Recht auf Beratung durch Anwält*innen haben hier keinen Platz. Und so werden auch dieses Mal hier - wie auch an anderen Orten der Insel - Gruppen junger Marokkaner auf die Straße geschickt, in der Hand den Ablehnungsbescheid! Einige unter ihnen landen später in Catania, ziehen mit diffusen Angaben aber echter Verzweiflung umher, auf der Suche nach einem Platz, wo sie einen vorübergehenden Schutz, den unser Land nicht gewähren will, finden könnten.

Das Damoklesschwert der Ablehnung bringt viele dazu, mit der Polizei zusammen zu arbeiten, denn sie hoffen durch die Nennung eines Namens ein faireres Verfahren zu erhalten. So gehen die Festnahmen von sogenannten „mutmaßlichen Schleppern“ weiter. Diese Personen waren meistens gezwungen worden, das Boot zu steuern, aber es gelingt ihnen nicht, ihre persönliche Situation - die einer Person, die unmenschlichen und erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt wurde - zu erklären. Dies zumindest nicht, bis sie eine*n gute*n Anwalt oder Anwältin haben. Das diskriminierende Verhalten gegenüber Migrant*innen geht im Gefängnismilieu weiter: oft verstehen die Menschen gar nicht, warum man sie gefangen hält - es gibt ja keine Dolmetscher*innen und Mediator*innen. Sie sind isoliert, werden zu den erniedrigendsten Arbeiten gezwungen und von den anderen Mithäftlingen schikaniert. Wie uns Angestellte einer Haftanstalt von Catania berichteten, ist der Ge- und Missbrauch von Medikamenten ziemlich verbreitet. Diese sollen eher das Gewissen beruhigen, nicht etwa zum Wohl der Menschen beitragen.

Minister Minniti gibt den Kommunen grünes Licht für die freiwillige und unbezahlte Anstellung von Migrant*innen für gemeinnützige Arbeiten. Er hat dabei den Mut, eine Praxis , die nach legalisierter Ausbeutung der Migrant*innen riecht, als „Integration“ auszugeben. Beim Thema gesellschaftliche Teilhabe wissen wir inzwischen, wie schwierig eben der verpflichtende Schulbesuch für minderjährige unbegleitete Geflüchtete zu erreichen ist. Es gibt einige Stellungnahmen von Helfer*innen, die uns bestätigen, daß auch in Städten von beträchtlicher Größe wie z.B. Catania die Schuldirektion keine Jugendlichen im Unterricht zulässt, sondern ihnen nur erlaubt, sich für die Abschlussexamen einzuschreiben. Dies trifft besonders auf die Jugendlichen unter 16 Jahren zu, für die in erster Linie der Schulbesuch verpflichtend ist. Er ist aus pädagogischer Sicht und wegen der gesellschaftlichen Integration von elementarer Bedeutung für diese Gruppe.

Von einer gesetzwidrigen und diskriminierenden Regelung zur nächsten, zwischen verabschiedeten Gesetzen und täglich im Stillen verübten Verletzungen der Menschenwürde - das Klima der Nichtaufnahme und Exklusion verhärtet sich.
Eine umfassende Bildungsarbeit, die Italiener*innen und Neuangekommene zusammenbringt, ist deshalb dringender denn je. Auf Empörung und Anklage muss jetzt folgen: Möglichkeiten für wirklich anderes Handeln schaffen und bereits vorhandene Alternativen zu stärken.


Lucia Borghi
Borderline Sicilia


*CPR, Centro permanente per il rimpatrio: dauerhafte Abschiebungszentren

*CIE, Centro di identificazione ed espulsione: Abschiebehaft

Übersetzung aus dem Italienischen von Petra Schneider