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Montag, 23. Januar 2017

Sterben an der Grenze. Kontrollen und Unterdrückung ersetzen Aufnahmen

“Vier Überlebende, ein Boot auf das sich bis zu 193 Personen gedrängt haben”. “Ungenaue Zahlen zu den Vermissten, es müssen Hunderte sein”. “Acht Tote, aber man befürchtet, dass es noch mehr sind”. Mittlerweile spricht man nicht mehr von Toten sondern von jenen, die “nicht überleben”, indem man Berechnungen mit einem Ausschlussverfahren anstellt. Zu erfahren, wie viele Personen weiterhin ihr Leben mitten auf dem Meer verlieren, wird immer schwieriger und sich darüber klar zu werden, wie viele tatsächlich die Opfer unserer Grenzen sind, immer beschämender. Seit Anfang 2017 sind schon 240 Menschen gestorben, während sie den Kanal von Sizilien überquerten und es ist erst Mitte Januar.

Und dennoch entwickeln sich täglich vor unseren Augen die Todesüberfahrten, Gewalttaten und das Verschwinden jener, die weiterhin den Abschottungslogiken und der Unmenschlichkeit unserer Länder erliegen. Hier wird Reichtum angesammelt und konsumiert, aber selten auch produziert, und deshalb werden die 
eigenen ökonomischen Interessen auch mit Gewalt verteidigt.

Diejenigen, die monatelang mit Foltern misshandelt werden und unter Todesdrohungen in den libyschen Gefängnissen waren, die in der Wüste verschwinden oder im Meer, sind unsichtbar, genau wie die, die es schaffen, in Italien anzulegen. Hier handeln die Diskussionen, die Migrant*innen betreffen, von deren Kontrolle und deren Unterdrückung. In einer Gesellschaft der Kommunikation und des Schreibens wie der unseren, sind es öffentliche Diskurse, politische Slogans und Ordnungsvorschriften, die das Bild der Geflüchteten je nach speziellen Interessen bilden, und nicht der Kontakt mit der Wirklichkeit. In den letzten Wochen folgten Nachrichten über künftige Migrationsabkommen in bedrängenden Abständen in Zeitungen und im Fernsehen aufeinander. Sie kündigten mehr Druck bei Ablehnungen an, Eröffnungen neuer vom Militär geführten CIE*s, zeitnahe und schnellere Abschiebungen derer, die Schutzwerweigerungsbescheide erhalten haben, sehr unwahrscheinliche und irrsinnige und unwahrscheinliche Abkommen mit nordafrikanischen Ländern und offensichtlich der gewohnte heuchlerische Kampf gegen Menschenschmuggel.

Es ist auch unnötig zu bekräftigen, wie offensichtlich es ist, dass es unser eigenes System der Militarisierung der Grenzen ist, das Migrant*innen den Schmugglern zum Fraß vorwirft und sie nicht rettet. Ohne die Möglichkeit einer sicheren und legalen Einreise wird, wer flüchtet, weiter flüchten und zahlt einen immer höheren Preis.

Der Kampf gegen Menschenschmuggel bleibt ein Versprechen auf Papier, genau wie die Verpflichtung gegenüber besonders Schutzbedürftigen. Und somit werden die hunderten Verhaftungen vermeintlicher Schmuggler*innen als Kriminalisierung jener übersetzt, von denen wir wissen, dass sie ihrerseits Opfer von gezwungener Rekrutierung sind. Das hat bis jetzt ziemlich wenige Verbindungen zu den wahren Organisator*innen der Überfahrten aufgedeckt. Auf die gleiche Weise werden dutzende nigerianische Frauen Opfer internationaler Menschenhandelskreise und Ausbeutung und nach ihrer Ankunft in Italien praktisch im Stich gelassen. Nur ein kleiner Teil von ihnen erhält Hilfe und wird in entsprechende Schutzprogramme eingegliedert. Die anderen gelangen in Notaufnahmezentren, in denen sie mühelos von kriminellen Netzwerken aufgespürt werden. „Seit ich in Italien bin, habe ich mitbekommen, wie circa zehn Frauen aus meinem Land das Zentrum nach 
nur wenigen Tagen verlassen haben. Auch ich wollte mitgehen, aber ich war krank und konnte nicht; zum Glück fand ich Personen, denen ich vertrauen konnte und die meine Sprache sprachen, aber wie vielen wird das wohl passieren?!“, erzählt uns P., eine nigerianische Frau, die in einem Notaufnahmezentrum bei Catania wohnt.

So sind auch mehrere unbegleitete Minderjährige in die „Unsichtbarkeit“ zurückgekehrt, die immer mehr in Erstaufnahmezentren zusammengepfercht werden, wo im Schnitt 50 Personen unterkommen und man eine unbestimmte Zeit bleibt. „Im August haben viele Menschen und Vereine unser Zentrum besucht“, erzählt uns S., die seit mehr als fünf Monaten im außerordentlichen Aufnahmezentrum für Minderjährige in S. Michele di Ganzaria wohnt. „Sie kamen wegen der Probleme mit einigen ägyptischen Bewohner*innen. Dann Stille. Wir haben mit der Schule angefangen aber wohnen immer noch sieben Kilometer weit entfernt von der Wirklichkeit, isoliert von allem.“ „Seit meiner Ankunft im November habe ich circa zwanzig neue Mitbewohner*innen kommen und gehen sehen. Zwei waren mit mir in Libyen. Sie haben es eine Woche lang ausgehalten, und dann haben wir sie eines Morgens nicht mehr aufgefunden“, erzählt uns hingegen C., der seit einigen Monaten in einem der vielen CPA*
s wohnt, die verteilt um Catania herum liegen. „Die Betreiber hier merken sich unsere Namen nicht, nur unser Herkunftsland. Es heißt, die Nigerianer*innen und Leute aus Gambia seien „schwierig“. Sie verdächtigen uns noch bevor sie uns kennen, deshalb traue ich niemandem.“ In einem demokratischen Land anzukommen garantiert nicht, dass man direkt alle Grundrechte zugesprochen bekommt, deren Schutz zu oft immer noch von glücklichen Zufällen abhängt. 

In Italien steht die Aufnahmepraxis davor, von strengeren Kontrollpraktiken verdrängt zu werden, von Selektion und Repression, die nur zu noch mehr Leid, Wut und Gewalt führen. Politische Entscheidungen, die sich nach diesen Prinzipien richten und außerdem von internationalem Recht und Konventionen abweichen, stellen sich als unfähig heraus, Grundrechte zu gewähren. Hinter den Zahlen der Abschiebungen, Verweise und Verhaftungen verbergen sich Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft beurteilt wurden und nicht nach ihren individuellen Geschichten. Im Visier derer, die die Unterdrückung der „Irregulären“ verlangen, gibt es auch Verhaltensformen, die dazu führen, dass Migrant*innen wie lebendige Gefahren dargestellt werden, nicht wie Menschen, sondern wie perfekte Sündenböcke, über die die Bevölkerung jegliche Unzufriedenheit ergießen kann. Die „Zahlen“ der Aufnahmefälle verbergen Frauen, Männer, Minderjährige und Familien, die in Aufnahmezentren gezwängt werden, die von der Struktur und Organisation her ungeeignet sind und in denen im Winter nur ein Zelt gegen die Kälte hilft oder es nicht einmal vier Wände gibt. 

Während vor unseren Augen die Bilder der Migrant*innen vorbeiziehen, die auf der Balkanroute dem Eis erliegen und sich somit zu den anderen an der Grenze Gestorbenen gezählt werden können, sagen uns viele Geflüchtete, die wir in diesen Tage gehört haben, dass auch sie nur noch leichte Kleidung und Schuhe haben, auch wenn es draußen mittlerweile schneit. Andere haben erst vor einigen Wochen kleine Elektroöfen bekommen, nach Drängen und nachdem es schon seit zwei Monaten geschneit hatte. Wieder andere berichten gemeinsam mit den Betreibern der Zentren über das komplette Fehlen von Heizungen in einem der kältesten Winter der letzten Jahre. Das passiert in den außerordentlichen Aufnahmezentren und in den Erstaufnahmezentren für Minderjährige, geführt von Kooperativen die Ausschreibungen für die gesamte Region gewonnen haben.



Die Situation ist sicherlich nicht besser in den größeren Kommunen, die sich sogar damit abmühen, Zeltstädte für den Kältenotfall für Obdachlose, Migrant*innen etc. zu organisieren. Vom Nichts in Ragusa geht man über zur fast schon symbolischen Organisation des Roten Kreuzes, das Zuflucht in Zelten für circa fünfzig Personen über einige Tage auf der Piazza del Pantheon in Siracusa angeboten hat, dann nach Catania gekommen ist. Dort, so scheint es, werden aber in einigen Tagen hunderte Personen im Freien ausharren müssen.



Viele Migrant*innen sind sich dessen bewusst, dass sie nicht wirklich aufgenommen sind, sondern materiell, rechtlich, symbolisch und bewusst von unserer Gesellschaft ausgeschlossen werden. Weil sie keine Stimme haben, besteht das Risiko, dass dieser Mangel in Momenten der Wut explodiert, die sehr leicht stigmatisiert werden können von jenen, die keinen größeren Überblick über die Situation haben, in der wir uns befinden. Ihre Forderungen ergeben sich aus oft etwas wirren Gesprächen, verschwiegenen und argwöhnischen Worten, und Erklärungen, auf denen das Gewicht der erlebten Erniedrigungen liegt. Ihre von Traumata gequälten Körper, versteift von der Kälte und der Angst, bewegen sich dennoch weiter, reagieren und laufen, auf der Suche nach einem sicheren Ort, einer Arbeit, nach Beziehungen zum Ankunftsplatz. Nach jener Würde, die uns verbindet und für die sie ihre Existenz zu opfern bereit sind.

In Catania wurde zuvor tatsächlich eine Zeltanlage vom Roten Kreuz errichtet, die warme Mahlzeiten verteilt hat und circa vierzig Personen die Möglichkeit gegeben hat, überdacht für eine Woche dort zu übernachten. Danach wurde an die Barmherzigen übergeben, die nahe des Bahnhofs den gleichen Dienst anbieten, aber für viel kürzere Zeit. „Hier kommen außer den Catanier*innenn viele Migrant*innen vorbei“, sagt uns ein freiwilliger Helfer, „und viele kommen aus Mineo und wollen die Stadt definitiv verlassen. Viele sind eindeutig Minderjährige und sprechen kein verständliches Wort. Es wird ein Desaster, aber für das Wochenende sind höhere Temperaturen vorhergesagt und wir müssen wieder abbauen.“ Gesagt, getan: am Samstag sind die Zelte von dem Platz verschwunden. Aus der letzten Versammlung der Kommune lässt sich verstehen, dass ein neues Unterbringungsprojekt für Obdachlose geplant ist, aber man weiß weder wann noch wo das passieren wird, während in der Stadt die Wetterwarnung losgeht.

Lucia Borghi

Borderline Sicilia

*CIE: Centro di Identificazione ed Espulsione: Abschiebungshaft *CPA - Centro di soccorso e Prima Accoglienza: Zentrum zur Ersten Hilfe und Erstaufnahme.

aus dem Italienischen von Sophia Bäurle