siciliamigranti.blogspot.com ist ein italienischsprachiges Monitoringprojekt zur Situation der Flüchtlinge in Sizilien, dort finden Sie die Original-Berichte, hier finden Sie die deutschen Übersetzungen. Klicken Sie auf die auf die Namen der Schlagworte (keywords), wenn Sie bestimmte Themen suchen.

Montag, 3. Oktober 2016

3.10.2013 – Der Schiffbruch der Wahrheit


Diese Recherche- und Analysearbeit zum Massensterben vom 3.Oktober 2013 vor Lampedusa ist eine zusätzliche Vertiefung der Video-Ermittlung von Antonino Maggiore (Libera Espressione) und kann als PDF unter diesem Link heruntergeladen werden.



Wir denken, dass es richtig ist, 3 Jahre nach dem Ereignis die Aufmerksamkeit im Hinblick auf einige Punkte aufrecht zu erhalten, darunter die fehlende Rettung und die ökonomisch-politischen Interessen, die die Grundlage für diese und andere Schiffbrüche bilden.

Wir meinen, dass man das Problem der gegenwärtigen Migration im Gebiet des Mittelmeeres von den Gesetzen herleiten muss, die die EU den Mitgliedsstaaten auferlegt hat, um dem EU-Binnenmarkt und dem Schengen-Abkommen beizutreten.

Man kann bis zu zehntausend Euro bezahlen und auch viele Jahre brauchen, bevor man in Europa ankommt. Oft ist man dem Krieg entgangen, in anderen Fällen der Ausbeutung im eigenen Land, ein anderes Mal ist man einfach auf der Suche nach Arbeit. 

Wären die Gelder, die für die Militarisierung der Grenzen (Sicherheit) und die Gefangenenlager für die Migrant*innen (Aufnahme) ausgegeben wurden, für die gesetzliche Regelung der Reisen und für die Arbeitsmarktpolitik verwendet worden, hätten wir sicher nicht tausende von Menschen auf diese Art und Weise sterben sehen.

Aus unserer Sicht bleibt das aktuelle Wirtschaftssystem, das den Profit zum letzten Ziel jeder Tätigkeit gemacht hat, das Problem. Der neoliberale Kapitalismus, der unter anderem seinen politischer Ausdruck in der EU findet, produziert jeden Tag tausende von Opfern, die keinen Raum haben in den Fernsehnachrichten und in der Darstellung des Staates; sie nützen nichts zur Rechtfertigung irgendeiner Art von Politik: sie sind einfach ihre Opfer. Niemand wird von ihnen sprechen, niemand ihre Namen nennen. 

Eines der absurdesten Dinge am Massensterben vom 3.Oktober ist genau dies: Die Opfer werden ständig herauf beschworen und sie werden so zu einem Instrument, um die politischen Handlung derer zu rechtfertigen, die für ihren Tod verantwortlich sind.

Den Opfern des imperialistischen Kapitalismus.

Es findet ein Krieg statt zwischen den Menschen und dem Meer.
(Laura Boldrini, Lampedusa, am 3.Oktober 2014)

Die intellektuelle Geschichte der Ideen tendiert dazu, die am meisten ausgearbeiteten Ausdrücke zu isolieren, nur die Werke der besten Theorien zu behandeln und die vielfältigen Manipulationen, die von den Leuten des Staates oder von Propagandisten fortlaufend begangen werden, als einfache Anekdoten zu betrachten. Nun sind aber, in der alltäglichen Wirklichkeit des politischen Lebens, in den richtungsweisenden Entscheidungen und in der Überzeugungsarbeit, die dazu bestimmt ist, sie  akzeptabel zu machen, genau diese vielfältigen Manipulationen, die wichtig sind und die direkt an der Aktion beteiligt sind.
(Pierre Ansart, Ideologie, Konflikte und Macht)

I Rekonstruktion der Fakten [1]

Am 2. Oktober 2013 startet um 3:00 Uhr ein Fischerboot von ca. 20m Länge an der Küste von Misurata in Libyen. An Bord sind 540 Personen, die meisten von ihnen Eritreer*innen. Nach ca. 24 Stunden Fahrt kommt das Schiff in der Nähe der Insel Lampedusa an und der Bootsführer stellt den Motor ab. Für fast zwei Stunden liegt das Schiff mit abgestelltem Motor vor der Insel. Es beginnt Wasser ins Unterdeck des Schiffes zu laufen. Zwischen 2:30 und 3:00 Uhr des 3. Oktobers nähern sich zwei Boote dem mit Personen beladenen Schiff.

Die zwei Boote kommen aus Richtung Meer, eines an der rechten und das andere an der linken Seite des Schiffes. Nachdem sie die Scheinwerfer auf das mit Personen beladenen Schiff gerichtet und einmal herumgefahren sind, nehmen die beiden Boote Kurs auf den Hafen von Lampedusa. 

Aus den Teilstücken der Routenführung, in deren Besitz wir gelangt sind (in der Gegend und dem zeitlichen Rahmen, der in den Zeugenaussagen beschrieben wird) kann man auf ein Boot schließen, die „Motopesca Cartagine“, das Bewegungen um das Schiff herum macht; sie entsprechen denen, die von den Überlebenden beschrieben wurden. 



In der an sechs Überlebenden am 7. Oktober 2013 durchgeführten Vernehmung hat man niemals diesen Punkt vertieft, geschweige denn die Unterlassung der Rettung. Die Befragung wurde geführt vom leitenden Staatsanwalt der Republik Dr. Renato Di Natale, vom leitenden Staatsanwalt der Republik Dr. Ignazio Fonzo und von dem stellvertretenden leitenden Staatsanwalt der Republik Dr. Andrea Maggioni. Die Untersuchungen konzentrierten sich prinzipiell auf die Person Bensalam Khaled. Dieser wurde dann in 2015 von dem Richter der Vorverhandlung am Gericht von Agrigent, Stefano Zammuto zu 18 Jahren Gefängnisstrafe und zu einer Geldbuße von 10 Millionen Euro wegen fahrlässig herbeigeführtem Schiffbruch und „Todesfällen in Folge einer anderen Straftat“ verurteilt.

Bensalam Khaled hat sich immer als einfachen Passagier bezeichnet.

Die Kommune Lampedusa und Linosa traten im Prozess als Zivilkläger auf.

Während der Vernehmung erklärt einer der Überlebenden im Blick auf die zwei Boote: „Es handelte sich wahrscheinlich um zwei Fischerboote.“ Aber der Befragende geht weiter, ohne diese Frage zu vertiefen.

An andrer Stelle des Protokolls der Vernehmung (eines anderen der Überlebenden) berichtet man wie folgt:

A: Wir waren fast angekommen, so viel ist wahr, dass wir die Lichter der Insel gesehen haben. Wir glaubten, dass sie uns von Italien aus schon gesichtet hätten und kämen, um uns zu holen. Jedoch näherten sich uns zwei Boote und das ließ mich denken, dass uns jemand gesichtet hätte, aber wir haben keine Hilfe gerufen, da wir dachten, dass in Kürze die Rettung ankäme.

F: Um was für Schiffe handelte es sich?

A: Ich denke nicht, dass es sich um Marineschiffe handelte; es handelte sich wahrscheinlich um zwei Fischerboote.

Man versteht nicht, warum der Befragte, als er antwortet, das Faktum verneint, es könne sich bei den Schiffen um Marineschiffe gehandelt haben, da in der Frage kein Bezug zu dieser Einzelheit enthalten war. Im Protokoll bestätigen die anderen Befragten, dass die beiden Boote Fischerboote oder zivile Schiffe gewesen seien, außer einem, der sagte, er wüsste nicht, welcher Typ Boot das gewesen sei. In den Interviews, die wir in den Tagen nach dem Schiffbruch geführt haben, haben wir dagegen andere Versionen gehört.

Wir berichten einen Teil jener Interviews:

F: Kannst Du das Schiff auf einem der Fotos wiedererkennen?

A: (Er zeigt auf ein Foto mit einem Boot der Finanzpolizei).

F: Wie waren die Menschen an Bord gekleidet?

A: Schwarz, es schien eine schwarze Uniform zu sein.

F: Wie viel Personen hast Du gesehen?

A: Zwei. Eine vorne im Boot, die andere hinten.

F: Warum bist Du sicher, dass das erste Schiff dieses gewesen ist? 

A: In seiner Gesamtheit scheint es mir dieses gewesen zu sein.

F: Hast Du diese Schiffe im Hafen von Lampedusa in den folgenden Tagen gesehen?

A: Ja, ich habe sie gesehen.

F: Wann hast Du begriffen, dass es sich um ein Motorboot der Finanzpolizei handelt?

A: Jetzt habe ich es kapiert.

F: Wo hast Du den Militärdienst in Eritrea geleistet?

A: Im Motorboothafen, ich habe im Militärhafen gearbeitet. Aufgrund der Form, der Antennen und der Lichter habe ich begriffen, dass das Schiff dieses ist.

Im folgenden Video können wir einen der Überlebenden hören, der von seinem Übersetzer[2] unterbrochen wird, als er eins der zwei Boote beschreibt.



In den ersten Stunden des Schiffbruchs sprechen viele von diesen Schiffen, die nicht angehalten haben.

Die Bürgermeisterin von Lampedusa bestätigt: „Sie erzählen, dass einige Motorfischerboote, zwei oder drei, vorbeigefahren sind und dass sie weitergefahren sind, ohne ihnen zu helfen. Dies ist das, was sie sagen, aber wenn das wahr ist, ist es nötig, auch diesen Aspekt zu beleuchten.“[3]

Drei Tage später lässt die Bürgermeisterin eine offizielle Mitteilung herausgehen, in der man liest:

„Es reicht mit dieser unnützen und ungerechten Polemik. Die Fischer aus dem Hafen von Lampedusa lassen keine Migrant*innen auf dem Meer sterben. Sie haben es nie gemacht und werden es niemals machen.“ So beabsichtigt die Bürgermeisterin der Inselgruppe, Giusi Nicolini, einen Schlussstrich unter die Kontroverse zu ziehen, die aus dem Ereignis der angeblichen unterlassenen Hilfeleistung an den Schiffbrüchigen vor der Kanincheninsel hervorgegangen ist. [4]

Wir können uns nicht erklären, wie um alles in der Welt der, der die Untersuchung geführt hat, diesen Punkt nicht vertieft hat und die Mitglieder der Besatzung des Motorfischerbootes Cartagine nicht vernommen hat. Dieses wurde, wie verschiedene Zeitungsartikel berichten, am 20.9.2013 in Tunesien beschlagnahmt und am 25.9.2013 mit 9 Mann Besatzung an Bord (3 aus Mazara und 6 aus Tunis) wieder freigegeben.

Am 1.10.2016 erfahren wir aus den Erklärungen des stellvertretenden leitenden Staatsanwaltes von Agrigent, Andrea Maggioni, dass die Staatsanwaltschaft Agrigent eine Untersuchung zu der Hypothese der unterlassenen Hilfeleistung durchführt.

Am 5. Oktober heißt es in einer Mitteilung der Nachrichtenagentur ANSA:

SCHIFFBRUCH: STAATSANWALTSCHAFT, KEINE UNTERSUCHUNG ZU HILFSAKTIONEN AUF DEM MEER – EX-GENERAL KÜNDIGT ANZEIGE AN, ZWEI SCHNELLBOOTE DER GDF (FINANZPOLIZEI) HALTEN AM KAI (ANSA) – LAMPEDUSA (AGRIGENT), 5. OKT - 

Die Staatsanwaltschaft Agrigent hat keine Untersuchung bezüglich der den Migrant*innen auf dem Meer geleisteten Hilfe eröffnet, die sich vor zwei Tagen auf dem schiffbrüchigen Kahn vor Lampedusa befanden. Das hört man aus Gerichtsquellen, die unterstreichen, dass weder über Zivilist*innen noch über Militärangehörige und Ordnungskräfte eine Akte angelegt wurde. Der Tageszeitung La Sicilia zu Folge sei dagegen von dem im Ruhestand befindlichen General der Luftwaffe, Vittorio Scarpa, bei der Militärstaatsanwaltschaft in Neapel eine Anzeige erstattet worden. Er hat eine Initiative angekündigt, damit Klarheit hergestellt wird, wer die Finanzpolizei nicht verständigt hat und warum sie nicht von dem Schiffbruch verständigt wurde. Nach der Rekonstruktion der Zeitung, seien tatsächlich zwei Schnellboote der Finanzpolizei an der Mole von Favaloro festgemacht geblieben. (ANSA).

In einem Interview von „Libera Espressione“ mit einem der Überlebenden in den Tagen nach dem Schiffbruch, kann man Nachstehendes hören:

Von weitem sah man die Schiffe, die rechts und links fuhren; also haben wir, um Aufmerksamkeit zu erregen, die Decke verbrannt, aber niemand hat sich uns genähert. Bevor wir das Betttuch angezündet haben, haben wir versucht, die Leuchten anzuzünden, um Aufmerksamkeit zu finden. Aber von Ferne haben wir die Schiffe gesehen, die sich bewegten, und die Lichter der Küste.

Gegen 4:30 Uhr sank das Schiff. Gegen 6:30 Uhr wurde eine Gruppe von Personen, die sich in einem Boot in der Gegend der Tabbaccara auf Fischfang befand, von den Schreien der Schiffbrüchigen geweckt; sie traten aus der Kabine und sahen hunderte von Körpern im Meer. 

Mit einem Anruf wurde sofort Alarm ausgelöst.

Um 6:40 Uhr haben wir über Kanal 16 des Bordradios, verbunden mit der Hafenmeisterei von Lampedusa, Hilfe gerufen. Nichts. Um 7:20 Uhr haben wir über Telefon die Zentrale in Rom angerufen und sie haben uns geantwortet: „Wir kommen.“ Aber es sind noch einmal 5, wenn nicht 10 Minuten verstrichen[…] Sie sind mit riesigen Schiffen angekommen, die aber untauglich waren, die Schiffbrüchigen herauszufischen. Ich habe gefragt, ob ich meine Leute auf ihr Schiff bringen könne, um die Rettungsaktion fortzusetzen, aber sie haben das nicht gewollt […] Ich habe auf allen Internetseiten das Video von den Männern der Hafenbehörde gesehen, die eine Rettung aufnehmen. Ich frage mich, warum machen sie Dreharbeiten statt die Leute zu retten? […] Falls sie es auf die leichte Schulter nehmen,  sollte man nicht so handeln, während die Leute im Meer sterben. Sie haben sich geweigert einige Personen an Bord zu nehmen, die wir schon gerettet hatten. Weil das Protokoll es verbietet, haben sie gesagt. Als wir zum Hafen zurückgekommen sind, beladen mit Schiffbrüchigen, haben wir das Schiff der Finanzpolizei gesehen; es fuhr heraus, als wären sie dabei, eine Spazierfahrt zu machen. In solchen Fällen fährt man nicht mit diesen riesigen Schiffen, man fährt mit kleinen und schnellen Booten, weil man die Absicht hat, Menschen zu retten. [5]

Weitere Zivilboote und Fischerboote begaben sich vor Ort und luden den Großteil der Überlebenden an Bord. Die ersten Helfer erklärten, dass die Küstenwache eine Verspätung von ca. 50 Minuten hatte.

So schreibt die Anwältin Linda Barrocci, eine der Retter*innen, die auf dem Boot war, das in der Tabbaccara geankert hat, in den Stunden nach dem Schiffbruch auf ihrem Facebook-Profil:

Empörung!!!! Informiert Euch gut über das, was auf Lampedusa passiert. Beschränkt Euch nicht darauf, Nachrichten oberflächlich zu hören! In den Fernsehnachrichten berichten sie von einem Schiffbruch, verursacht durch einen Brand und mehr als 500 Menschen im Meer, die um ihr Überleben kämpfen. Aber warum ist das Meer voll von Menschen, die gerettet werden müssen und die Küstenwache kommt nach unzähligen Anrufen erst eine Stunde später? Warum geschieht das alles vor der Küste und die Rettungskräfte kommen nicht? Sie haben äußerst ausgeklügelte Instrumente, mit denen sie abertausende von Booten vor der Küste erkennen können und es gelingt ihnen nicht, einen Brand zu sehen und hinzueilen, um zu retten, was zu retten ist? Heute Morgen waren wir auf dem Meer und haben Köpfe von Menschen im Wasser gesehen, überall die Verzweiflung und Leben, die es zu retten gilt! Leute, die unter deinen Augen ertrinken und die Küstenwache sagt, dass sie dem Protokoll folgen muss! Aber welchem Protokoll! Du triffst auf Schiffe der Küstenwache und sie sagen, dass sie in Rom anrufen müssen, um zu wissen, was zu tun ist, während du auf einem Boot bist und hast schon 47 Leben „rausgezogen“, die zwischen den Tränen, dem Schock, die Lungen und den Magen voll Benzin, mehr als drei Stunden schwimmend verbracht haben und nach Hilfe rufen! Wie ist es möglich, dass diese armen Seelen gezwungen waren zu sterben weil die Hilfe fehlte! Verdammt noch mal, wo seid ihr? Kompliment Italien! Das Leben folgt keinem Protokoll! Wenn es um Leben oder Tod geht, kommen die Menschenrechte ins Spiel und das Recht zu leben! Während wir mit 47 gerade geretteten Personen beladen in den Hafen zurückkehren, hatte die Küstenwache leere Schlauchboote. Obwohl hunderte von Personen weiter mit den Armen fuchteln, am Ende der Kräfte, unterkühlt, am Ende und vergiftet vom Petroleum, blieben die Schlauchboote dort, leer mit einem Taucher drin, der statt sich ins Meer zu stürzen und weitere zu retten, den armen Leuten auf unserem Schiff zuschrie: „Sit-down“. Das ist alles, was sie sagen und tun können. Jedenfalls bis zu diesem Augenblick! Dann haben sie sich doch noch irgendwie in Bewegung gesetzt! Aber ist es nicht zu spät? Und sie kommen und sagen zu uns, dass es noch mehr als zweihundert Vermisste gibt? Schauen wir uns im Spiegel an und legen wir uns Rechenschaft darüber ab, dass wir im Jahr 2013 noch nicht in der Lage sind, nicht einmal für uns selbst zu sorgen! Ich habe keine Worte! Wollen wir so weiter machen?

Die Küstenwache erklärte hingegen:

Nachdem wir um 7:00 Uhr über Radio UHF das Alarmsignal bekommen haben, sind wir sofort mit unserer Marineeinheit eingeschritten und um 7:20 Uhr an der Stelle des Schiffbruchs angekommen: Auch dank der Mitarbeit von Privatleuten haben wir all jene gerettet, die im Wasser verstreut waren und 155 Überlebende aus dem Meer gezogen. [6]

Von Wichtigkeit ist auch die Tatsache, dass Lampedusa ein hochmilitarisiertes Gebiet ist, in dem es 8 Radargeräte gibt, davon 7 in der Gegend von Ponente, ganz nah der Gegend des Schiffbruchs. Die Anwesenheit von acht Radarstationen und verschiedenen Antennen für die Spionage und den elektronischen Krieg ist im Lauf der letzten Jahre durch die Frage der Migration gerechtfertigt worden: im Hinblick auf Sicherheits- und humanitäre Aspekte. Diese Installationen haben die Möglichkeit von Krankheit erhöht, die mit der elektromagnetischen Verunreinigung verbunden sind. 
Aber wenn man den Verteidigungsminister hört, dann nützt diese Vermehrung von Radaren ziemlich wenig:

Auch die neue Radartechnologie garantiert nicht von alleine die Möglichkeit ein Schiff auf hoher See zu identifizieren, nämlich seine Verbindung zu den Migrationsströmen, noch viel weniger den Stand oder die Voraussetzung möglicher Gefahr durch dieses Schiff zu verifizieren. Die Bedeutung des neuen Radars der Marine muss deswegen als Unterstützung der Arbeit der Schiffe und der Luftfahrzeuge, die im gleichen betroffenen Gebiet auf hoher See operieren, gesehen werden. Sie sind die einzigen Mittel, die sowohl die betreffende Situation verifizieren als auch sofort eingreifen können, um den Tragödien auf dem Meer zuvorzukommen. [7]

Eine andere Sache, die man wissen muss, ist, dass im zentralen Mittelmeer vom 06.05.2013 bis zum 30.04.2014 die Frontex-Mission mit dem Namen EPN Hermes stattgefunden hat; an ihr haben 20 EU-Staaten teilgenommen und sie hat die insgesamt 9.020.745€ gekostet. [8]

II Der Beschluss zu Eurosur. Auf der Welle der Emotionen

Am 10. Oktober 2013 hat das Europaparlament mit 479 Ja- und 101 Neinstimmen bei 20 Enthaltungen Eurosur beschlossen. Eurosur hatte aber Mühe, in Betrieb zu gehen, auch dank einiger Dossiers wie jenem der Heinrich-Böll-Stiftung von 2012, in dem die Kosten auf mindestens 874 Millionen Euro geschätzt wurden. Die europäische Kommission schätzt in einem Dokument vom 12.12.2011, Eurosur: Die Behörden mit den nötigen Instrumenten versorgen, um die Verwaltung der äußeren Grenzen zu stärken und das transnationale Verbrechen zu bekämpfen, die Kosten von Eurosur von 2011 bis 2020 auf 338 Millionen Euro.

Schon im Jahr 2012 hat eine Gruppe von Menschenrechtsschutz-NGOs in einem Brief an die Kommission für zivile Freiheiten des Europaparlaments Bedenken formuliert. Sie befürchtete, dass in der geplanten Errichtung eines europäischen Systems zur Überwachung der Grenzen (EUROSUR) die Sicherung des gebührenden Schutzes für Asylsuchende, die auf dem Kontinent Schutz suchen, fehle.[9] 

Das Überwachungssystem der europäischen Grenzen, Eurosur, sollte am 1. Oktober starten, knapp zwei Tage vor dem tragischen Schiffbruch vor Lampedusa. Das war zumindest die Absicht, lief aber völlig ins Leere. Die Absicht wurde am 27. November 2012 von der Kommission für bürgerliche Rechte des Europa-Parlaments ausgesprochen, die genau an diesem Tag dem Regelwerk für Eurosur freie Bahn gegeben hatte; sie versicherte, dass Radar und Streifen als „Schlüsselziel“ den Schutz der Verzweifelten habe, die die Überquerung des Mittelmeeres wagen, um die Küsten Italiens zu erreichen. „Leben der Migrant*innen auf dem Mittelmeer zu retten ist absolut notwendig“, hatte der Referent Jan Mulder (PPE) erklärt. So ist es nicht gewesen. Es brauchte fast elf Monate und eine Tragödie mit 320 Ertrunkenen, um das Europaparlament davon zu überzeugen; gestern wurde das Regelwerk für Eurosur auf der Welle der Emotionen beschlossen; in Italien tritt es am kommenden 2. Dezember in Kraft. [10]

In den Schlusserklärungen des Europarates liest man: „Eurosur leistet einen Beitrag dazu, die Fähigkeit, das Leben der Migrant*innen zu schützen und zu retten, zu verbessern.“

Die Kommissionsvorsitzende Cecilia Malström erklärte nach dem Beschluss zu Eurosur:

Wir haben alle noch die schrecklichen Bilder der letzten Tragödie vor Lampedusa vor Augen. Ich werde niemals die 280 Särge, die ich gestern auf der Insel gesehen habe, vergessen. Es ist erschütternd, an dem Verlust so vieler Menschenleben unter solch tragischen Umständen teilzunehmen. Meine Gedanken gehen zu den Opfern und zu ihren Familien und ich bewundere tief die Retter, die ihr Bestes in einer solch dramatischen Situation getan haben.

Der Berichterstatter, der holländische Liberaldemokrat Jan Mulder: 

Nur mit einem gesamteuropäischen Grenzüberwachungssystem sind wir in der Lage zu vermeiden, dass das Mittelmeer zu einem Friedhof für Geflüchtete wird, die versuchen das Meer in alten Booten zu überqueren, um in Europa ein besseres Leben zu suchen. Um zu vermeiden, dass sich eine Tragödie wie jene von Lampedusa aufs Neue ereignet, ist eine schnelle Intervention notwendig.

Ob die Toten vom 3. Oktober 2013 durch „so tragische Umstände“ herbeigeführt wurden oder ob sie nicht im Gegenteil eine Frucht der präzisen politischen Entscheidungen und der ökonomischen Interessen waren, ändert nur wenig. Man hat das Massensterben vom 3. Oktober 2013 benutzt, um die Einrichtung von Eurosur zu rechtfertigen. Das ist eine objektive Gegebenheit.

In Wirklichkeit besteht die erste Aufgabe des Überwachungssystems darin, so liest man im Text, „die illegale Einwanderung und die grenzüberschreitende Kriminalität zu erkennen, ihr vorzubeugen und sie zu bekämpfen“. Dies soll durch einen verstärkten Austausch von Informationen zwischen den einzelnen Staaten und Frontex, der Agentur zum Schutz der europäischen Grenzen mit Sitz in Warschau geschehen. Diese hat in den vergangenen Tagen zugegeben, dass sie die für 2013 zugebilligten Mittel schon verbraucht hat. […] Im genannten Text wird Frontex die Möglichkeit gegeben, den Hilferuf eines europäischen Staates aus „technischen, finanziellen oder operativen“ Gründen zu verweigern und die Zurückweisung „bei passender Gelegenheit“ zu begründen, oder wann immer sie will. Kurzum, schon im Regelwerk ist vorgesehen, dass Frontex – das die Aufgabe haben wird, die Aktivitäten von Eurosur zu koordinieren – weil die Geldmittel ausgehen oder aus (nicht näher beschriebenen) technischen Gründen, nicht zeitnah eingreifen kann, um bei der Rettung eines „Seelenverkäufers“ zu helfen. [11]

Am 11. Oktober gab es einen weiteren Schiffbruch. Es starben 368 Syrer*innen, darunter 60 Kinder.

Drei Anrufe via Satellit, die ignoriert wurden. Zwei Stunden warten auf dem Meer. Um dann zu entdecken, dass Italien kein Flugzeug mobilisiert hatte, kein Schiff der Marine, kein Schnellboot der Küstenwache. Im Gegenteil, nach drei Stunden hat die italienische Einsatzzentrale den Geflüchteten, die 100 Km vor Lampedusa trieben, gesagt, dass sie Malta anrufen müssten, mindestens 230 Km entfernt. Zwei verlorene Stunden: Von 11 bis 13 Uhr am Freitag, den 11. Oktober. Hätten sich die Italiener sofort in Bewegung gesetzt oder sofort den Alarm an die Kollegen in Valletta weitergegeben, hätte das Massensterben nicht stattgefunden. […] Der Fischkutter hatte zwischen 100 und 150 Kinder an Bord, unter insgesamt 480 Syrer*innen im Exil: In der vorhergehenden Nacht hatten die Feuerstöße eines Maschinengewehrs, abgegeben von einem libyschen Patrouillenboot, den Schiffrumpf durchlöchert, der sich um 17:10 Uhr umgelegt hat und gesunken ist. Ein Helikopter hat die Stelle um 17:30 Uhr erreicht, sechseinhalb Stunden nach dem ersten Notruf. Das erste maltesische Marineschiff um 17:51 Uhr. Jene zwei verlorenen Stunden hätten es dem Helikopter erlaubt, um 15:30 Uhr anzukommen, dem Marineschiff um 15:51 Uhr, und den Rettern, die von Lampedusa aufbrachen, auf einem schnellen Patrouillenboot der Finanzpolizei, kurz nach 13:00 Uhr einsatzfähig zu sein, und nicht nach 18:00 Uhr. Es hätte also, kurzum, alle Zeit der Welt gegeben, um die Verlegung der Passagiere abzuschließen und sie in Sicherheit zu bringen. Zwei Stunden italienischer Nachlässigkeit und die wahnsinnigen Kompetenzverteilungen zwischen Italien und Malta haben dagegen zum Tod von 268 Personen beigetragen, darunter 60 ertrunkene kleine Kinder; 242 Leichen, die bis heute im Meer verschollen sind. Es fielen die üblichen Worte zu den Umständen und als krönender Abschluss am 4. November die Danksagungen des Staatsoberhauptes Georgio Napolitano an die Streitkräfte für die mutigen Operationen im Mittelmeer […] „L’Espresso“ hat weiter ermittelt. Und hat den Mann getroffen, der mit einem Satellitentelefon die italienische Einsatzzentrale alarmiert hat. Er klagt die Verspätung an. Er heißt Mohanad Jammo, 40 Jahre alt […] Den Schiffbruch hat Doktor Jammo, ehemaliger Universitäts-Dozent für Maschinenbau, zusammen mit seiner Frau und ihrem fünfjährigen Sohn überlebt. Aber sie haben die Söhne Mohammad, 6 Jahre und Nahel, 9 Monate, verloren; ihre Körper wurden nicht gefunden. Die Anklage wird bestätigt von zwei weiteren Zeugen. […] Als die von der italienischen Küstenwache ihn angewiesen haben, was er tun solle, hat er sie angefleht: „Bitte, wir sterben.“ Und der Militär am Telefon: „Bitte, könnt ihr die maltesischen Kräfte anrufen, jetzt gebe ich euch die Nummer: 00356…“ „Wenn ihr die Telefon-Aufnahme abhört“, erinnert Dr Jammo, „werdet ihr sehen, dass er mir keine Zeit gelassen hat. Er hat das Telefonat beendet, bevor ich die Telefonnummer fertig aufgeschrieben hatte.“ Diese Aufforderung, Malta direkt anzurufen, erklärt der Admiral Angrisano: „er antwortet auf eine klare, geprüfte und produktive Methode, die über den direkten Kontakt dessen, der nach Hilfe ruft und dem der gehalten ist, sie zu leisten, die Rettungsaktion effektiver und produktiver macht.“ [12]

Cecile Kyenge (damals Integrationsministerin der italienischen Regierung) unterstreicht, dass diese Handlungsweise Priorität hat:

Krieg auf allen Feldern gegen die internationale organisierte Kriminalität, die diesen Menschenhandel betreibt. Es gibt Gesetze, die werden angewandt, wenn nötig, muss man sie noch härter machen […]; es ist nötig, die Kontrollen auf dem Mittelmeer zu verstärken. Man muss das System Frontex ankurbeln und eine Überwachung in Echtzeit ins Leben rufen, damit man nicht weitere Tote zählen muss. Und vor allem, Patrouillen auf dem Meer, die die kriminellen Protagonisten des Menschenhandels entdecken. Der Punkt ist dieser: Eine neue internationale Mafia auf den Routen des Mittelmeeres. [13]

Am 14 Oktober hat die Regierung Letta beschlossen, die Operation Mare Nostrum durchzuführen. Am 20. Oktober, mit der Ankunft des Schiffes San Marco der Marinelandeeinheiten in den Gewässern südlich von Sizilien und mit der ersten gegen die Immigration gerichteten Überwachungsmission einer Brechet Atlantic der 41. Flugstaffel, nahm die Operation Mare Nostrum in allen Bereichen ihren Lauf, eine Operation, die eingebettet ist in die Agentur Frontex. Die Kosten dieser Operation belaufen sich auf ca. 400.000 €, - pro Tag. Während der Operation hat man ca. 3360 Leichen und Vermisste registriert.
Am 22. Oktober beschließt der Europarat für allgemeine Angelegenheiten ohne Diskussion die Anwendung von Eurosur, die am 2. Dezember 2013 im Rahmen des Schengen-Abkommens in Kraft tritt.

III Die Wirklichkeit wird auf den Kopf gestellt

Es wäre schwierig gewesen, die Finanzierung von Eurosur und der verschiedenen nachfolgenden Operationen zu rechtfertigen, wenn die öffentliche Meinung Zweifel gehabt hätte wegen einer nicht geleisteten Hilfe oder wegen der Verspätung bei den Rettungsaktionen, verursacht durch die übergeordneten Stellen für die Rettung auf dem Meer. Quer durch die Medien des Systems hat man eine Erzählung des Massensterbens vom 3. Oktober 2013 entworfen: Sie hat jede Spur der Zeug*innen verwischt, die von den zwei Schiffen gesprochen haben, die sich dem Boot, vollgepfropft mit Migrant*innen zwischen 2:30 und 3:00 Uhr nachts genähert haben und von den Verspätungen bei den Rettungsaktionen. Es ist nie eine richterliche Untersuchung zu der verpassten Rettung eröffnet worden.

RAI hat in diesem Sinne eine fundamentale Rolle gespielt und produziert: Reportagen, Filme und Bekundungen, alles darauf ausgerichtet, die Rolle der Ordnungskräfte und des Militärs bei der Rettung von Menschenleben auf dem Meer zu lobpreisen und ein Bild von Lampedusa als „Land des Willkommens“ schlechthin zu malen. Es ist kein Zufall, dass eins der führenden Mitglieder des Komitees 3. Oktober Valerio Cataldi ist, Journalist der RAI.

Das Komitee 3. Oktober bildete sich unmittelbar nach dem 3. Oktober 2013, auch dies „auf der Welle der Gefühle“. Die Geburt des Komitees hatte von Anfang an die Gunst der Bürgermeisterin von Lampedusa und Linosa, die in einer offiziellen Mitteilung am 28. Oktober 2013 erklärte: 

„Die Geburt des Komitees 3. Oktober, nur wenige Wochen nach dem dramatischen Schiffbruch vor der Kanincheninsel, ist ein schönes und konkretes Zeugnis der gemeinsamen Anstrengung vieler, die handeln wollen, damit die Asyl- und Aufnahmepolitik sich ändern und ähnliche Tragödien sich nicht wiederholen müssen. Deshalb hat der Vorschlag, die Feier des „Tages des Gedenkens und des Willkommens“ an jedem 3. Oktober per Gesetz einzuführen, meine Zustimmung und kann auf meine volle Unterstützung zählen und die meiner Mitbürger*innen.“ [14]

Schon im darauf folgenden Jahr zogen es einige der Gründungsmitglieder vor, dass Komitee zu verlassen:

5 Mitglieder des Komitees 3. Oktober, das im Jahr nach dem Schiffbruch entstanden ist, bei dem fast 400 Personen starben, haben sich entschieden, den Verein zu verlassen. In einem offenen Brief haben Laura Biffi, Paola La Rosa, Simone Nuglio, Fabio Sanfilippo und Alice Scialoja geschrieben „Wir hätten gewollt, dass der 3. Oktober in aller Stille hätte stattfinden können, vereint im Gedenken und im gemeinsamen Gebet aller Religionen. Wir wollten die Instrumentalisierung vermeiden und den politisch-institutionellen Laufsteg. Wir haben aber erfahren, dass das Komitee genau am 3. Oktober auf Lampedusa an einem Diskussions-Forum mit Exponenten aus Politik und Institutionen teilnimmt und damit dem Geist der Bewegung widerspricht und den tiefen Sinn des Gedenkens und der Erinnerung verneint.“ [15]
2014 wird das Komitee 3. Oktober eine gemeinnützige Organisation „mit dem Ziel, den 3. Oktober als symbolisches Datum des ´Tages des Gedächtnisses und der Aufnahme`, sowohl auf nationaler wir auch auf europäischer Ebene einzusetzen.

An jedem 3. Oktober, einem Datum mit starkem symbolischen Wert, wollen wir die Öffnung von humanitären Korridoren anregen und ankurbeln, um all die aufzunehmen, die Krieg, Diktatur und Elend entkommen sind; wir wollen die Suche und die Rettung auf dem Meer verstärken und zur Wiedererkennung der Opfer eine europäische DNA-Datenbank schaffen. [16]

Und hier die Beschreibung der Fakten, die man auf der Seite der gemeinnützigen Organisation Komitee 3. Oktober lesen kann:

Am 3. Oktober 2013 sank ein Schiff, beladen mit Geflüchteten, die in der Mehrzahl aus Eritrea stammten, eine halbe Meile vor der Küste Lampedusas. Am Ende wurden 368 Tote gezählt, unter ihnen Kinder, Frauen und Männer. Die Körper der Opfer wurden alle geborgen und zum ersten Mal in der Geschichte der Schiffbrüche auf dem Mittelmeer wurden sie der Welt in einem dramatischen Aufschrei kollektiver Hilfe gezeigt. [17]



Das Komitee 3. Oktober, eine gemeinnützige Organisation, wurde aktiver Teilnehmer bei allen Kundgebungen und Initiativen, die mit dem Gedenken an den 3. Oktober 2013 verbunden sind und in allen Varianten der Veranstaltungen, die seit diesem Tag begonnen haben, nicht zuletzt dem Museum der Zuversicht und des Dialogs.

Neben den vielen Mitbegründern, die das Komitee 3. Oktober verlassen haben, stellte man 2014 auch die Weigerung von einigen zivilen Rettern fest, an den Kundgebungen, die von der Kommune und dem Komitee organisiert wurden, teilzunehmen. 

GEGENSTAND: VERWEIGERUNG DER TEILNAHME AN DER ZEREMONIE, DIE VON DER KOMMUNE UND VOM FESTIVAL „SABIR“ ORGANISIERT WIRD.

Anlässlich des Jahrestages des Schiffbruchs vom 3. Oktober 2013, der den Tod von 368 Personen verursacht hat, VERWEIGERE ICH, der unterzeichnende Vito Fiorino, persönlich und im Namen von sieben Personen, die sich mit mir bei der Rettung von 47 Menschenleben an Bord meines Schiffes engagiert haben, AUSDRÜCKLICH, die Teilnahme an irgendeiner Zeremonie, die von der Kommune Lampedusa organisiert wird.

Kurz nach dem Unglück im vergangenen Jahr bis heute sind wir von der ersten Bürgerin Giusi Nicolini weder zu Rate gezogen noch angehört worden. Als Antwort auf die Einladungen, die vom Bürgermeister und vom Komitee 3. Oktober verschickt wurden, drücke ich daher unsere Weigerung aus, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen. Diese Weigerung, die sich gegen die Institutionen richtet, ist motiviert durch die nicht vorhandene Berücksichtigung durch die Kommune Lampedusa, repräsentiert durch die Bürgermeisterin Giusi Nicolini, eine Berücksichtigung, die wir selbstverständlich erwartet haben, die aber nie stattgefunden hat. Diese Weigerung wendet sich nur gegen die Institutionen, in vollem Respekt vor den Opfern, den Überlebenden und ihren Familien. Wir ziehen es vor, bei unserem Schweigen zu bleiben und hätten es vorgezogen, wenn auch die Institutionen dabei geblieben wären; ein Schweigen, das sie seit dem Tag der Tragödie für 12 Monate beibehalten haben und das jetzt von Veranstaltungen zerstört wird, die auf ein Schauspiel abzielen, medienwirksam instrumentalisiert, vom unnützen und kostspieligen Aufmarsch der Politiker*innen ganz zu schweigen. Unser Gedenken bleibt privat, so wie es seit dem Tag der Tragödie bis heute war.

Hochachtungsvoll

Vito Fiorino , Grazia Migliosini , Linda Barrocci, Marcello Nizza, Alessandro Marino, Anna Bonaccorso, Rosaria Racioppi, Carmine Menna.[18]

Immer noch in jenen Tagen des Jahres 2014 hat Valerio Cataldi zwei der Helfer wegen verbaler Gewalt anzeigt. Hier das, was Alessandro Marino, einer der angezeigten Helfer, dazu schreibt:

Die Geschichte beginnt in der tragischen Nacht des 3. Oktobers 2013. Wir befanden uns mit unserem Boot bei dem größten Schiffbruch, der sich auf dem Mittelmeer ereignet hat. Ich, Alessandro Marino, stand am Ruder unseres Bootes Gamar und war einer der ersten, der mittels VHF bei der Hafenbehörde von Lampedusa um Hilfe angerufen hat, ein Anruf, der nach dem Gesetz von der Hafenmeisterei aufgenommen wird, wenn es einen Notfall gibt. Die Details jener Anrufe sind von der Magistratur in die Untersuchung einbezogen worden und folglich wichtige Beweise. Auf irgendeine Weise gelang es dem RAI-Journalisten Valerio Cataldi, in den Besitz der Aufnahme dieses Tages durch die Hafenbehörde auf Lampedusa zu kommen. Er brachte einige Rai-Sendungen mit meiner Stimme zur Übertragung, machte eine partielle Rekonstruktion und manipulierte so die wahre Geschichte. Niemals und unter keinen Umständen hat Cataldi die Zusage der Augenzeugen in einer so wichtigen Sache eingeholt und niemals haben wir Kontakt zu Cataldi gehabt, der in der Zwischenzeit das Komitee 3. Oktober gegründet hat; auch dieses Komitee hat niemals mit uns gesprochen, weder zur Klarstellung noch um die Wahrheit über diesen traurigen Tag zu erfahren. Ich persönlich kann seit dem Tag, an dem ich meine Stimme gehört habe, nicht mehr schlafen und leide an Depressionen; ich kann es nicht mehr ertragen, meine Stimme zu hören, die Cataldi in mehreren RAI-Sendungen benutzt hat, unter denen speziell von TG2: Standpunkt vom 29.11.2013 und um eine Dokumentation zu beenden (Zum ersten Mal Schnee), in der man immer meine Stimme hört. Ich habe nie irgendeine Zustimmung dazu gegeben, meine Stimme zu benutzen, weder an Cataldi noch an RAI. Und vor allem: Die Aufnahmen müssten Beweise sein zur Prüfung des Gerichts, aber Cataldi nutzt sie, um Gewinn damit zu machen. Am 3. Oktober 2014, während einer Demonstration, habe ich mit Cataldi gesprochen und ihn gebeten, meine Stimme nicht mehr zu benutzen und dass ich ihn anzeigen würde; die Diskussion war aufgeregt und wir schrien alle wegen unserer Rechte, die uns abgesprochen wurden und wegen der journalistischen Manipulationen von RAI, die den Friedhof der Schiffe als Kinofilmset nutzen wollte; ein heiliger Ort für alle, der Respekt verdient. Auch von Cataldi flogen die Beleidigungen; er sagte mir, dass ihn unsere Zeugenaussagen nicht interessierten und er könne wegen des Rechts auf Nachrichten übertragen, was er wolle. Auch an jenem 3. Oktober 2014 hörte ich wieder meine Stimme auf Tg2. Ich fühlte noch einmal meine Privatsphäre verletzt… wer sollte uns schützen? ... Auf Tg2 beschrieben sie uns als Straftäter und Schüler der selbstverwalteten Sozialzentren. Am nächsten Tag, den 4. Oktober 2014, war ich mit Freunden bei einer anderen Kundgebung, und wir sprachen unter uns über einige Journalist*innen, und ich habe sie als Stück Scheiße bezeichnet; Cataldi, der sich zusammen mit einem Kameramann in der Nähe befand, drehte sich um und schickte uns mit dem Mittelfinger dahin wo der Pfeffer wächst. Dann ging er zu den Carabinieri und zeigte uns wegen verbaler Gewalt an. Am folgenden Tag sahen wir die Nachricht auf mehreren Online-Tageszeitungen; ganz eindeutig nutzte Cataldi seine Macht als Journalist, um uns als Aggressor*innen zu bezeichnen, uns, die wir Pazifist*innen sind und nationale und internationale Preise für den Frieden bekommen haben; wir könnten überhaupt nicht daran denken, Cataldi anzugreifen. Wir fühlen uns beleidigt und sind entrüstet über seine Worte und seine Anzeige, die noch zu beweisen ist; im Gegenteil, es gibt zig Zeug*innen, die die Fakten bestätigen. Oder hat er uns vielleicht angezeigt, weil er Angst vor meinen Erklärungen hat?

Die Helfer werden zu Aggressor*innen, die Militärs hochgejubelt zu Menschenretter*innen, die politisch Verantwortlichen führen sich auf als diejenigen, die die Probleme in den Griff bekommen, die sie in Wirklichkeit selber mit geschaffen haben. 

IV So viel Geld

Es gibt die ECHO (Europäische Kommission für humanitäre Hilfe und Zivilschutz), die Generaldirektion der Europäischen Kommission für die humanitäre Hilfe und den Zivilschutz. Sie wurde geschaffen, um dazu beizutragen, menschliches Leben zu retten und zu schützen, das Leiden zu verringern und die Integrität und die Würde der Menschen zu schützen. Sie verteilt Zelte und Decken und andere Dinge des Grundbedarfs, wie Essen, Medikamente, medizinische Ausrüstung, Wasseraufbereitungsanlagen und Brennmaterial. Sie finanziert Ärzt*iinnen-Teams und gibt Unterstützung beim Transport und bei der Logistik (Aktivitäten, die perfekt passen zu der aktuellen Situation der Migration). ECHO verfügt über ein Jahresbudget von 1,3 Milliarden Euro. Mittel aus diesem Fond werden aber ausgegeben für Gehälter, Erwerb von Dienstleistungen, Mieten für Hochhäuser und verschiedene Niederlassungen. Dann gibt es das europäische Programm SOLID – Solidarität und Steuerung der Flüchtlingsströme, verwaltet von der Direktion für allgemeine innere Angelegenheiten der europäischen Kommission. Es verfügt über ein Budget von insgesamt 4 Milliarden Euro (vermutlich nicht die finale Summe, da eine Fortschreibung des Programmes bis 2015 beschlossen wurde). Für Italien wird es vom Innenministerium über vier Töpfe verwaltet: Integration von Bürger*innen aus Drittländern, Geflüchtete, Rückführungen, äußere Grenzen. Dazu kommt  Frontex, „die europäische Agentur für die Verwaltung der internationalen Zusammenarbeit der Staaten der europäischen Union an den Außengrenzen“, mit einem Budget von 115 Millionen Euro für 2015 – von denen aber 40 Millionen in die Ausgaben für Verwaltung gehen, die Miete von 5 Millionen Euro für ein Hochhaus in Warschau inbegriffen und 615.000 Euro für „nicht-operative Besprechungen“ (sic!).  Und dann noch EASO, das Europa-Büro zur Unterstützung in Asylfragen, von dem man, wie es scheint, nur die Betriebskosten von gut 10 Millionen Euro kennt. [19]

Zu diesen Fonds kommen noch die Gelder, die vom italienischen Staat zur Verfügung gestellt werden: Für 2015 werden die Kosten für die Verwaltung der Migration auf 3,3 Milliarden Euro geschätzt, davon 3 Milliarden für die laufenden Ausgaben. 50% der Ausgaben betreffen die „Aufnahme“, während 20%-30% für die Rettung auf dem Meer bereitstehen – 2014 sind die Kosten verdoppelt worden im Vergleich zum Zeitraum 2011-2013 und 2015 waren sie dreimal so hoch.

Gerade im Jahr 2013 lief die EU-Finanzierungsperiode 2007-2013 aus und man musste die neue Zuweisungsphase der Finanzen 2014-2020 eröffnen. Am 2. Oktober 2013 lehnte der einstimmig angenommene Bericht der Kommission für Migration der Parlamentsversammlung des Europarates die Migrationspolitik des italienischen Staates ab und definierte sie als „verfehlt oder kontraproduktiv“. Italien wurde für den fortdauernden Ausnahmezustand kritisiert, der damit erklärt wurde, „außerordentliche Maßnahmen anzuwenden, die über die Grenzen nationaler und internationaler Gesetze hinausgehen“. Es wurde sogar behauptet, dass einige der von den italienischen Behörden getroffenen Entscheidungen es „riskierten, das Vertrauen in die gesetzliche Ordnung Europas und in das Dublin-Abkommen“ zu untergraben. Am nächsten Tag hatte niemand mehr Zweifel daran. Nach dem Massensterben vom 3. Oktober traten alle europäische Staaten, was die Migrationspolitik angeht, für Italien ein. Das ging soweit, dass für das Finanzierungsprogramm 2014-2020 an Italien weitere 500 Millionen Euro gingen, von einer Gesamtsumme von 3,1 Milliarden aus den Mitteln für Asyl, Migration und Integration (AMIF). Italien ist der größte Nutznießer europäischer Gelder für den Kampf gegen die irreguläre Migration und für die Immigration. 

Es gibt zwei Positionen zur Finanzierung:

AMIF (Der Fond für Asyl, Migration und Integration), der in 7 Jahren an die Mitgliedsstaaten 3 Milliarden 137 Millionen Euro verteilt hat, für Asyl und begleitete Rückführungen (310 Millionen Euro für Italien);

ISF (Der Fond für Innere Sicherheit), an den in 7 Jahren insgesamt 3,8 Milliarden Euro gingen (212 Millionen Euro für Italien)

Darüber hinaus wurden 872 Millionen Euro eingerechnet, bestimmt für die Lager für syrische Geflüchtete und angrenzende Länder, die oft von NGOs und Agenturen der UNO verwaltet werden. Enorme Geldsummen, an deren Umlauf das internationale Kapital, die Institutionen, die Mafia und die Betreiber von Zentren für Migrant*innen beteiligt sind.

Es gibt eine Interessengruppe, die von der Flüchtlingskrise profitiert und im Besonderen von den Investitionen der Europäischen Union zum „Schutz“ der Grenzen. Es sind die Firmen im Militärsektor und in der Sicherheit, die die Grenztruppen mit Systemen und Ausrüstung versorgen, Überwachungstechnologie, um die Grenzen zu kontrollieren und Informatik-Infrastruktur, um die Migrationsbewegungen zu überwachen. […] Die Hauptprofiteure der Verträge zur Sicherheit der Grenzen sind die gleichen wie die Produzenten und Verkäufer von Waffen an Länder des Mittleren Ostens und Nordafrika: Waffen, die die Konflikte unterhalten, vor denen die Geflüchteten fliehen. Zusammengefasst: Die Firmen, die die Krise entflammen, sind diejenigen, die den größten Profit daraus ziehen. Diesen Firmen wird von den europäischen Regierungen unter die Arme gegriffen, die ihnen die Lizenz zum Waffenexport zugebilligt haben und die ihnen dann Verträge zur Sicherheit der Grenzen gewährt haben. Ihre Aktionen sind im Zusammenhang mit der immer militärischer ausfallenden Antwort der EU auf die Flüchtlingskrise zu sehen.

Mit dem Aushängeschild „Kampf der illegalen Immigration“ sieht die Europäische Kommission vor, die Agentur für die Sicherheit der Grenzen, Frontex, in eine schlagkräftigere „Wache für die Küste und die europäischen Grenzen“ (European Border and Coast Guard - EBCG) umzubauen. Das würde die Kontrolle der Sicherheitsaktivitäten an den Grenzen der europäischen Staaten und eine aktivere Rolle als Grenzschutz erlauben, den Kauf eigener Ausrüstung inbegriffen. Die Agentur wird unterstützt von Eurosur, einem europäischen System, das die Mitgliedsstaaten und die übrigen Staaten für die Kontrolle und Überwachung der Grenzen miteinander verbindet. Die Militarisierung der Sicherheit der Grenzen zeigt sich auch in den militärischen Zielen „der Seestreitkräfte der EU – Mittelmeer-Operation Sophia“ (EUNAVFOR MED), wie auch in den Militär-Einsätzen an vielen Grenzen, darunter Ungarn, Kroatien, Mazedonien und Slowenien. Die Nato-Marine-Missionen im Mittelmeer unterstützen schon aktiv die Sicherheit der Grenzen der EU [20]

Aus einem kürzlich erschienenen Bericht zum Thema gehen einige Daten hervor, von denen wir glauben, dass sie von bemerkenswertem Interesse sind:

Der Markt für die Grenzsicherheit ist in voller Expansion. Geschätzt auf ca. 15 Milliarden Euro im Jahr 2015, ist voraussehbar, dass er bis zum Jahr 2022 jährlich um mehr als 29 Millionen Euro steigen wird.

Auch der Waffenexport, insbesondere der Verkauf im Mittleren Osten und in Nordafrika, von wo aus der größte Teil der Geflüchtete flieht, befindet sich in voller Expansion. Der Export von Militärsystemen in den Mittleren Osten ist zwischen 2006-2010 und 2011-2015 um 61% gestiegen. Zwischen 2005 und 2014 haben die Staaten der EU Exportlizenzen für den Export von Waffensystemen in den Mittleren Osten und nach Nordafrika im Wert von über 82 Milliarden Euro erteilt.

Die europäische Politik für die Geflüchteten, die sich darauf konzentriert, die Schleuser zu bekämpfen und die Außengrenzen zu stärken (auch in Ländern außerhalb der EU) hat zu einer stattlichen Steigerung der Bilanz beigetragen, von der die Firmen dieser Sparte profitieren.

Die Gesamtfinanzierung der EU für Maßnahmen der Sicherung der Grenzen quer durch alle Programme beläuft sich auf 4,5 Milliarden Euro zwischen 2004 und 2020.

Die Bilanz von Frontex, die Hauptfirma der EU-Grenzkontrolle ist zwischen 2005 und 2016 um 3688% gestiegen (von 6,3 Millionen auf 238,7 Millionen Euro)

An die neuen EU-Staaten sind als Aufnahmebedingung politische Forderungen gestellt worden, die Grenzen zu stärken, und so einen Markt für mehr Profit zu schaffen. Das mit Haushaltsmitteln des Fonds angeschaffte oder erneuerte Material umfasst 545 Überwachungssysteme für die Außengrenzen, 22.347 Systeme für die Überwachung der Grenzen und 212.881 operative Systeme für die Kontrollen an den Grenzen;

Einige der Exportgenehmigungen in den Mittleren Osten und nach Nordafrika betreffen die Grenzkontrollen. Im Jahr 2015 z.B. hat die niederländische Regierung der Thales Netherland eine Lizenz für den Export im Wert von 34 Millionen Euro erteilt, bestimmt für die Ausrüstung Ägyptens mit Radar- und C3-Systemen, trotz der wiederholten Klagen über Menschenrechtsverletzungen in diesem Land.

Die europäische Industrie zur Sicherheit der Grenzen wird dominiert von großen Firmen, deren Ziel die Produktion von Militärsystemen ist. Alle haben einen Sektor für Sicherheitsprodukte und Beziehungen zu verschiedenen kleinen, spezialisierten Firmen auf dem Gebiet der Informationstechnologie aufgebaut oder erweitert. Finmeccanica, der Koloss in der Waffenindustrie, hat „ die Kontrolle der Grenzen und die Sicherheitssysteme“ als einen Hauptantreiber für das Wachstum der Aufträge und des Verkaufserlöses ausgemacht.

Die großen Spieler um die Sicherheit der Grenzen Europas sind Produzenten von Militärsystemen wie Airbus, Finmeccanica, Thales und Safran, und der Technologiegigant Indra. Finmeccanica und Airbus sind die Gewinner der Verträge mit der EU, die besonders wichtig sind im Blick auf die Stärkung der Grenzkontrollen. Airbus ist auch Gewinner der größten Verträge mit der EU zur Finanzierung der Forschung auf dem Gebiet der Sicherheit.

Finmeccanica, Thales und Airbus, Protagonisten auf dem Gebiet der Sicherheit der EU, sind auch drei der ersten vier Produzenten und Exporteure von europäischen Militärsystemen und Versorger des Mittleren Ostens und Nordafrikas mit Militärsystemen. Ihre Gesamtgewinne im Jahr 2015 lagen bei 95 Milliarden Euro.

Unter den nichteuropäischen Firmen, die Finanzierungen für die Forschung erhalten haben, sind nur einige aus Israel: Das wird durch einen Vertrag zwischen der EU und Israel aus dem Jahr 1996 ermöglicht. Diese Firmen haben bei der Verstärkung der Grenzen Ungarns und Bulgariens eine Rolle gespielt; sie haben ihr Knowhow eingesetzt, welches sie durch die Erfahrungen mit der Trennmauer in Jordanien und der Grenze zwischen Gaza und Ägypten erworben haben. Die israelische Firma BTec Electronic Security Systems wurde von Frontex ausgewählt, um an einem Workshop teilzunehmen, der im April 2014 unter dem Titel „Sensoren und Plattformen der Grenzüberwachung“ stattfand. Die Firma prahlte in ihrer Bewerbung per E-Mail damit, dass ihre „Technologie, Lösungen und Produkte an der israelisch-palästinensischen Grenze installiert sind“.

Die Waffen- und Sicherheitsindustrie hat einen Beitrag dazu geleistet, die europäische Politik der Grenzsicherheit zu definieren, durch Lobbyaktivitäten und durch die gewohnten Interaktionen mit den europäischen Institutionen für die Grenzen und auch, indem sie die Forschungspolitik mitprägt. Die europäische Organisation für Sicherheit (EOS), zu der Thales, Finmeccanica und Airbus gehören, hat Druck ausgeübt für eine größere Sicherheit der Grenzen. Darüber hinaus sind viele ihrer Vorschläge, wie zum Beispiel der Vorstoß, eine europäische Agentur für die Grenzsicherheit einzurichten, europäische Politik geworden: Das ist der Fall bei der Umformung von Frontex in einen „Schutz der europäischen Küste und Grenze“ (European Border and Coast Guard – EBCG). Schließlich garantieren die zweijährliche Tagung von Frontex/EBCG, ihre Teilnahme am runden Tisch zum Thema Sicherheit und an Messen, die militärischen Systemen und der Sicherheit gewidmet sind, eine regelmäßige Kommunikation und eine natürliche Affinität mit der Kooperation.

Die Waffen- und Sicherheitsindustrie hat auch einen Großteil der Finanzierung von 316 Millionen Euro erhalten, die von der EU für die Forschung in Sachen Sicherheit bereitgestellt worden sind. Denn sie hat dazu beigetragen, die Agenda für die Forschung und ihre Realisierung zu definieren; als Konsequenz profitiert sie oft von Verträgen, die daraus hervorgehen. Seit 2002 hat die EU 56 Projekte auf dem Gebiet der Sicherheit und der Grenzkontrolle finanziert.

Insgesamt zeigen die Fakten eine wachsende Konvergenz zwischen den Interessen der Führer europäischer Politik, die versuchen, die Grenzen zu militarisieren und den Hauptfirmen auf dem Gebiet der Verteidigung und der Sicherheit, die ihre Dienste anbieten. [21]

„Agir pour la paix“ hat kürzlich eine Lobby-Tour organisiert und dabei die Beziehung zwischen der Waffen- und Sicherheitsindustrie und der Migrationspolitik in den Mittelpunkt gestellt. Eine Tour, auf der die Nähe, auch physisch, zwischen den Produzenten von Waffen und Sicherheitstechnologien und den europäischen Institutionen aufgezeigt wurde.

In der Nummer 11 des Kreisverkehrs Schuman, zum Beispiel, hat das Büro des europäischen Konsortiums der Produzenten von Raketen MDBA seinen Sitz. […] MBDA ist ein joint-venture zwischen Finmeccanica Leonardo, der britischen Firma BAE-Systems und der deutsch-französischen Gruppe Airbus, den drei Produzenten, die gemeinsam mit Thales den größten Profit aus der Stärkung der Kontrollen an den europäischen Grenzen und aus der Kooperation mit Drittländern ziehen, um so die „Unerwünschten“ auf ihrem Weg nach Europa zu blockieren [...]. Die Konvergenzen zwischen den Firmen dieses Sektors und europäischen Institutionen kommen nicht nur dank der Lobbyarbeit zustande, der man den Verdienst zuerkennen muss, dass sie sich als das präsentiert, was sie tatsächlich ist: Lobbys sind Gruppen die Druck ausüben und Interessen eines bestimmten Sektors verteidigen (auf mehr oder weniger korrekte Art und Weise, aber das ist ein anderes Thema). Viel zweideutiger ist die Rolle anderer Gegebenheiten, die von Stephanie heraufbeschworen werden; so einige Studienzentren oder Expertengruppen, die, weil sie zahlreiche Repräsentanten der Industrie als Geschäftsführer oder Mitglieder zählen, die europäischen Institutionen mit Ansichten und Empfehlungen versorgen und sie als unparteiisch präsentieren. […] Der aktuell Verantwortliche Finmeccanicas in Brüssel für die Beziehungen zu den Institutionen, Massimo Baldinato, wurde 2015 angestellt; er hatte zuvor sechs Jahre im Kabinett des damaligen Europakommissars für Industrie und Unternehmertum, Antonio Tajani, gearbeitet. Die Drehtür-Fälle sind hier nicht selten, aber wenn wir in Betracht ziehen, dass die Hauptproduzenten der Sicherheitstechnik, Finmeccanica, die einzigen sind, die einen Repräsentanten haben, der aus den europäischen Institutionen hervorgegangen ist. Für den beruflichen Werdegang Baldinatos hat sich auch Corporate Europe Observatory interessiert, die seit Jahren die Laxheit der Kommission gegenüber solchen Fällen beklagt […]. Als Stéphanie das Ende der Führung ankündigt, ist die Stimmung, die unter den Teilnehmern herrscht, eher entmutigt. „Die Migrant*innen sind das Brennmaterial der Sicherheitsindustrie“, fasst sie zusammen. Es ist nicht so sehr die Skrupellosigkeit der Produzenten, die schockiert, sondern die Mitwisserschaft der europäischen Institutionen: Der Europarat, durch den die Regierungen die Interessen der nationalen Unternehmen verteidigen und die von Juncker geleitete Kommission, die noch nicht den Kampf mit (fast) allen Mitteln gegen die sogenannte illegale Immigration eröffnet hat, hat daraus einen Kernpunkt seiner Migrationsagenda gemacht. [22] 

Es ist gut, sich zu erinnern, dass die militärischen Geräte, die mithilfe der humanitären Rhetorik der „Rettungen auf dem Wasser“ gekauft werden und die Militarisierung der Grenzen jene militärischen Apparate gestärkt haben, die sich unter in Vorbereitung auf eine totale Konfrontation reorganisieren, und dass diese militärischen Mittel für Operationen des militärischen Angriffs sehr oft gebraucht werden. In diesem Zusammenhang erinnern wir daran, dass Ende 2015 das amerikanische State Department der 2012 gestellten Anfrage Italiens zugestimmt hat, zwei seiner Drohnen MQ-9 Reaper mit Luft-Boden-Raketen vom Typ Hellfire auszurüsten, lasergeführten Bomben und anderer Munition. Ein Vertrag über 129,6 Millionen Dollar. Nur die USA und England besitzen als Ausrüstung diese Waffen. Übrigens ist die italienische Luftwaffe die erste alliierte Luftstreitmacht, die 2001 die USA-Predator geordert hat, die im Kosovokonflikt 1999 eine Hauptrolle gespielt haben. Es ist eine Nachricht vom 14. April 2016, dass „das Amphibienschiff, beschrieben als Unterstützung bei der Rettung von Migrant*innen (844 Millionen) sich als Kriegsschiff für die F35 (1,1 Milliarden) entpuppt hat“ und dass von den Parlamentarier*innen gefordert wurde, die gigantische Zahlung von 5,4 Milliarden Euro im Winter 2014/15 bereitzustellen; wie aus Dokumenten hervorgeht, gaben Marine und Verteidigung zu jener Zeit Teil- oder verdrehte Informationen über die wahre Natur und die wahre Dimension des Programms heraus. Man sprach von einem preisgünstigen Marineschiff mit „doppelter Gebrauchsmöglichkeit“, für Aufgaben humanitärer Hilfe und des Zivilschutzes; und man verschwieg Daten und technische Eigenschaften, die die wahren Absichten der Militärs aufgedeckt hätten. Man plante mit niedrigeren Kosten gegenüber jenen der vereinbarten Verträge nach dem OK des Parlaments. [23]

V Die Bühne von Lampedusa

Das Spektakel um die Grenze und die Grenzen des Spektakels

Die Vorstellungswelt reflektiert nicht die Praxis, sondern, im Gegenteil, sie hat Teil an dieser Praxis als Element, dass sie konstituiert.
(Pierre Ansart)

Am 9. November 1973 publizierte Paolo Pasolini im „Corriere de la Sera“ einen Artikel mit dem Titel „Akkulturation“, ein kultureller Anpassungsprozess, bei dem er die komplette Verflachung der italienischen Gesellschaft unter dem Einfluss der neuen Kommunikationsmittel und dem von ihnen propagierten Konsumverhalten vorhersah. Noch vorher beschrieb Guy Debord 1967 in seinem Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“ eine Gesellschaft, in der sich das Kapital als Schauspiel ausdrückt und darin Gestalt gewinnt. Dieses „auf-den-Kopf-stellen“ des Wirklichen wurde bereits durch das System der Produktion und des Handels hervorgerufen: Die Ware selber bekam einen Handelswert, der ihren Gebrauchswert übersteigt, er zieht an ihm vorbei und bewirkt so, dass er das Wirkliche selbst übersteigt. 

Damit der Handel stattfinden kann, ist es notwendig, dass der Wert jeder Ware in einer anderen Ware abgebildet wird, und dann, bei steigendem Wert, dass der Wert jeder Ware in einer unbegrenzten Serie anderer, gleichwertiger Waren abgebildet wird. Das will sagen, dass der Handel, was die effektive Praxis angeht, eine bestimmte Organisation der Vorstellungen voraussetzt; die Waren erscheinen nicht mehr als ein unmittelbarer Qualitäts- und Gebrauchswert; sie verwandeln sich in Objekte einer neuen Wahrnehmung und werden durch den Produzenten und Händler zu einem Bild oder einem Ausdruck dessen, was sie nicht sind. [24]

Wenn in der Lohnarbeit die Produktion der Ware stattfindet und die Ausbeutung, mit der sie den Mehrwert herauszieht, geht die Ware nach der Arbeit in einen anderen Moment des Fließbandes über, der Illusion, vor einem Bildschirm im wirklichen Leben zu „sein“. Seit den sechziger Jahren bis heute haben die Kommunikationsmittel und neuen Technologien diesen Prozess bis zu einem Punkt geführt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Parallel zu diesem Prozess der totalen „Überführung ins Spektakel“, treten die realen Widersprüche hervor und verstärken sich aus an den neuzeitlichen Grenzen: Militarisierte Orte, in denen man das „Spektakel der Grenze“ in Szene setzt, dass wieder einmal „die Wirklichkeit auf den Kopf stellt“ , ihre Transformation in eine virtuelle Wirklichkeit zum Gebrauch und Verbrauch durch die Konsument*innen-Zuschauer*innen. Massen von Personen, oft auf der Flucht vor dem Krieg und dem Krieg des Kapitals, werden zu einem Heer von Reservearbeiter*innenn, medial umgedreht, umgestaltet, neu definiert, kriminalisiert und benutzt, die große „europäische Angst“ und die Sicherheitspolitik zu schüren; oder sie können, mit einer doppelten Verrenkung, zu Massen „armer Schlucker*innen“ werden“, die man retten muss, sogar mit Militärschiffen und Drohnen der neuesten Generation. 

Ein doppeltes Schema, das weiterhin reproduziert wird

1) Erstes Schema: Illegale Geflüchtete; Terroristen; Schlechte; Invasoren; Diebe; etc. etc.

Diese Darstellung und Vorstellung kriminalisiert und stigmatisiert die Person des Immigranten / der Immigrantin im gleichen Augenblick, indem man diese Vorstellung bildet.

Wie Nicholas De Genova gut erklärt:
Die Migrant*innen werden „Illegale“ nur, wenn die Maßnahmen, legislative oder exekutive, spezifische Arten oder Typen von Migration für „illegal“ erklären – oder in anderen Worten: sie „illegalisieren“. Von diesem Standpunkt aus, sind sie nicht wirklich „illegale“ Migrant*innen, sondern eher zu Illegalen gemachte Migrant*innen. [25]

2.) Zweites Schema: Der arme Schlucker, der arme Migrant, die arme Migrantin; ein verlassener Mensch, der migriert aus Gründen des Klimas, Naturkatastrophen, wegen eines höhnischen Schicksals, wegen einer nicht näher definierten menschlichen Boshaftigkeit etc. etc.

In dieser anderen Vorstellung sehen wir einen Körper, der auf eine exklusiv biologische Verfassung reduziert ist, beraubt seiner politischen und geschichtlichen Dimension. Eine "humanitäre“ Vorstellung, die aus den „armen Migrant*innen“ einen tierischen Leib macht, unterernährt, unterkühlt, Instand zu setzen, den Durst zu stillen. Das „naturalistische / animalistische“ Element verbindet sich mit dem „humanitären“, das heißt verbunden mit einem Recht, das herausgerissen ist aus der Wirklichkeit und aus der Eigentümlichkeit der Subjekte, die in einen kollektiven und historischen Prozess eingefügt sind. Ein Recht, das gegründet ist auf eine abstrakte Universalität und auf eine Unveränderlichkeit der Bedürfnisse, die immer die Gesellschaft der „Retter“ definiert und normiert. 

In beiden Darstellungen und Vorstellungen finden die Worte der direkt Betroffenen keinen Raum; und beiden Darstellungen/Vorstellungen folgen die gleichen Antworten und die gleiche Politik: Militarisierung der Grenzen, Ausnahmezustand, Zentren, in denen die Migrant*innen weggesperrt werden und folglich die Kommerzialisierung ihrer Körper, Voranstellung militärischer Strategien „der Rettung“ vor humanitären, Umwälzung der örtlichen Gemeinschaften, überfahren von der „Verwaltung der Migration“, Schaffung einer Heeres von ausbeutbaren Arbeiter*innen ohne Rechte.

Beide Paradigmen im Blick Migration werden als Faktum dargestellt, etwas was so ist, naturgegeben. Wir wissen nicht, warum sie erzeugt wurden, welche historische Dimension sie haben sollen und warum diese Personen nicht so reisen können wie wir. Das  ökonomische System des Kapitalismus entwickelt sich durch die Ausbeutung großer Flächen des Planeten und großer Massen von Arbeiter*innen*innenn und hat eine seiner Ursprungs-Prämissen in der Akkumulation, die in den Kolonien stattgefunden hat. Kriege, Ausplünderungen, Sklaverei, Ausrottungen, Konzentrationslager waren die Praxis der europäischen Staaten gegenüber den Kolonien seit dem XV. Jahrhundert und haben „das Ambiente“ der Emigrationsländer geschaffen. Der Profit als letztes Ziel jeder menschlichen Aktivität ist die Religion unserer Zeit geworden und die Kommunikationsmittel werden mächtige Orakel, die in der Lage sind, die göttliche Wahrheit zu vermitteln. 

Lampedusa ist eins der Schlüsselworte im zeitgenössischen Diskurs geworden, ein multifunktionales Instrument in der Hand der herrschenden Macht: Medienwirksame Bühne, militärischer Vorposten, Ort für soziale Experimente, Ort, um den fortdauernden Notstand zu schaffen und in Szene zu setzen, „Tür zu Europa“, Insel der Abschiebungen oder Symbol für die Aufnahme und die Menschenrechte, „moralische Hauptstadt des Mittelmeeres“, „wichtige emotionale Szenerie“.

Der beherrschende Diskurs, einmal strukturiert, wird quasi automatisiert und von dem oft wiederholten Diskurs wird man aufgesaugt. Es gibt viele Beispiele über Lampedusa, die sich, ausgehend von einer vorgefassten Vorstellungswelt, die funktional ist zu den imperialistischen Prozessen (Krieg, Anhäufung des Kapitals, Ausbeutung) multiplizieren und reproduzieren. Man betrachtet nicht mehr eine Wirklichkeit, die immer dialektisch ist und die im Fall von Lampedusa äußerst komplex ist, sondern man bewegt sich unkritisch von einer vorgegebenen Darstellung und Vorstellung aus.

In anderer Form ist es das, was in der Malerei des XVI. Jahrhunderts, dem Manierismus geschehen ist. Mit dem Unterschied, dass Vasari sich an die Künstler seiner Zeit wandte und vorschlug von Michelangelo, Raffaello und Leonardo auszugehen, von ihrer Interpretation der Natur, um sich die „schöne Art“ anzueignen. In unserem Fall sind es natürlich andere geeignete Modelle und andere Ergebnisse, die man erhält. Es ist der Konstruktionsprozess des Wissen zum Nutzen des Kolonialisten, beschrieben von Edward Said in „Orientalismus“, das man sich als Modell hernehmen kann, um das Werk der Mystifikation Lampedusas zu lesen. 

Versuchen wir also zu verstehen, welchen Typ von Bildern man von Lampedusa konstruiert hat, auf stärkere Art und Weise seit 2013 (zuerst mit dem Besuch des Papstes und dann mit dem Massensterben vom 3. Oktober und den Vorstellungen, die daraus hervorgesprudelt sind) bis heute.

Die Menschen von Lampedusa: Held*innen, gastfreundlich und bereit, ihr Leben für die Rettung zu riskieren und Migrant*innen freundlich aufzunehmen;

Militär und Ordnungskräfte, die Menschenleben aus dem Meer retten;

Die NGOs und die humanitären Vereine, die Lampedusa überwachen, um die Menschenrechte für die Migrant*innen zu garantieren;

Das Aufnahmezentrum, das trotz der Schwierigkeiten ein Exportmodell für Europa ist;

Die Migrant*innen: Arme Schlucker*innen, die dem Krieg und dem Mangel entkommen sind oder mögliche Terroristen, die zu identifizieren und zu registrieren sind;

Eine Reihe von Definitionen für die Insel, die wiederholt werden: Tür zu Europa, Moralische Hauptstadt des Mittelmeeres, Gewissen Europas, Insel der Aufnahme, Insel der Anlandungen;

Zu diesem Bild passt eine Reihe von Botschaften, mehr oder weniger verhüllt, die wir jetzt zu entschleiern versuchen.

Beginnen wir mit einem Film für das Fernsehen, der vor kurzem von RAI ausgestrahlt wurde.

Der leicht vorhersehbare Misserfolg der TV-Miniserie „Lampedusa“ ist das Produkt einer Kette von Verantwortlichkeiten, die den Regisseur Pontecorvo nur in letzter Instanz mit einbeziehen; er hat nicht einmal das Drehbuch abgezeichnet, das von Andrea Purgatori zusammen mit Laura Ippoliti geschrieben wurde. 

Wir befinden uns vor einem Megaengpass des Grundkonzeptes: Unwillkürlich denkt man, dass die Ergebnisse auf der Ebene der Darstellungs-/Vorstellungsweisen nur verheerend sein können: bestimmte Orte unverzichtbare Optionen der Handlung und Inszenierung – der Standpunkt, fast ausschließlich mit "bioitalienischem" Personal zu besetzen, die systematische Asymmetrie zwischen individualisierten Italiener*innen und Migrant*innen, reduziert aufs Klischee, Verwendung der italienischen Sprache bei 99% der Dialoge. […] 
Aber es gibt noch einen anderen Aspekt in der Überlegung, die die Anfertigung dieser Miniserie beherrscht hat und den ich entsetzlich finde. Nicht nur, dass man zu verstehen gibt, dass der Großteil der Zuschauer*innen von „Lampedusa“ in den letzten zehn Jahren in einer gottverlassenen Einsiedelei gelebt haben, ohne je von dem gehört zu haben, was tagtäglich auf einem Abschnitt des Mittelmeeres geschieht, der Straße von Sizilien, die sich in einen wahren Friedhof verwandelt. Man gibt sich auch friedlich gegenüber jenen, die hingegen eine gewisse Kenntnis der Sache haben, wenngleich total verzerrt, da sie von zig schlechten Informationen vergiftet wurden und von dem einzigen Gedanken, der sich gegen die Anerkennung eines wesentlichen Menschenrechtes wie dem der Bewegungsfreiheit richtet: Diese täglichen  Massensterben geschehen wegen eines, sicher schmerzlichen, Wettbewerbs der Umstände, der aber zur Ordnung der Dinge hinzugehört. Bleibt Serra/Amendola im Abspann zu sagen, dass man, bevor man urteilt, nach Lampedusa gekommen und mit eigenen Augen gesehen haben muss; aber gerade der in der Gesamtkonstruktion der fiktiven Serie gewählte Blickwinkel ist einer, der die Migrant*innen behandelt, als seien sie „nur“ Migrant*innen und als hätte keine und keiner von ihnen ein Herkunftsland, eine Geschichte, ein anderes Ziel zu erreichen; und nicht einmal auf indirekte Weise wird auf die kolossalen Interessen anspielt, die jeden Tag auf Kosten dieser Menschen ausgespielt werden; man kann dem, der mehr wissen will, auch sagen, dass es im Grunde nichts zu verstehen gibt, dass alles da ist, dass die Realität der Sachen selbstevident ist, dass es reicht, die Augen zu öffnen. [26]

Hier ein Artikel, der die TV-Serie vorstellt:

Lampedusa, Fiktion der RAI, mit dem Hauptdarsteller Claudio Amendola, wird am 20. und 21. September auf Sendung gehen, außer wenn es eine Programmänderung des öffentlichen TV gibt. Die Handlung wird sich, wie es der Titel nahelegt, um das Thema der illegalen Immigration drehen und sich in besonderer Weise auf die konzentrieren, die die Migrant*innen beherbergen (Küstenwache und Bewohner*innen*innen der Insel) und auf die, die den Weg als erste verfolgen (Freiwillige, Mitarbeiter*innen*innen im Gesundheitsbereich und öffentliche Verwaltung). Claudio Amendola wird die Rolle von Serra übernehmen, Verantwortlicher der Hafenbehörde, während Carolina Crescentini Viola sein wird, die Verantwortliche des Aufnahmezentrums. Der Termin für die Mini-Serie im Programm von RAI1 ist festgelegt auf Dienstag, den 20. Und Mittwoch, den 21. September 2016 am frühen Abend. [27]

Im Licht dessen, was gesagt wurde, können wir einige Punkte entwickeln:

Bei der Handlung des Filmes stehe, wie es der Titel nahelegt, die illegale Einwanderung im Mittelpunkt.
Der Titel der Serie ist „Lampedusa“ und für den, der den Artikel schreibt, ist die Insel automatisch mit dem Thema illegaler Immigration verbunden; er vereinfacht die historische und politische Komplexität der Insel und reduziert sie genau auf „die Insel der Anlandungen“.

Man konzentriert sich in besonderer Weise auf diejenigen, die die Migrant*innen beherbergen (Küstenwache und Bewohner*innen*innen der Insel). Der Film präsentiert als diejenigen, die die Migrant*innen aufnehmen, die Bewohner*innen*innen der Insel und die Küstenwache. Eine Behauptung, die keinerlei Anhaltspunkt in der Wirklichkeit hat, in der die Migrant*innen im Hotspot weggeschlossen werden und denen es ab und an gelingt, durch ein Loch in der Umzäunung dieses Gefängnisses hinauszugehen. Die Küstenwache hatte nie die Aufgabe, Migrant*innen aufzunehmen sondern allein die Rettung auf dem Meer; und die Bewohner*innen haben nur in seltenen Ausnahmefällen Migrant*innen in ihren Häuser willkommen geheißen. Unter anderem hat es in diesem Jahr, in dem die Migrant*innen zum ersten Mal auch im Sommer aus dem Hotspot gegangen sind (immer durch ein Loch in der Umzäunung), eine Reihe von Klagen von Seiten einiger Verwalter von Tourismuseinrichtungen gegeben, weil die Migrant*innen gemeinsam mit den Tourist*innen am Strand gebadet haben (Klagen, die oft auch von einigen Tourist*innen erhoben wurden). Unter anderem ist diese Frage bei einem Treffen mit dem Präfekten von Agrigent diskutiert worden, während dessen einige Tourismusbetreiber*innen der Insel verlangt haben, die Migrant*innen nicht herauszulassen oder ihnen wenigsten zu verbieten, dass sie ihr Bad am Strand nehmen. 

Über die, die den Weg selbst mitverfolgen (Freiwillige, Gesundheitsmitarbeiter*innen und öffentliche Verwaltung). Man versteht nicht, von welchem Weg man spricht, da der Weg der Migrant*innen durch politische Entscheidungen der EU und dem militärischen Apparat vorgezeichnet und vorgefasst ist. Der Wirkungskreis dieser Personen ist durch ihre organische Verbindung zur militärischen und politischen Verwaltung der Migration und durch ihre Instrumentalisierung stark begrenzt. Ausnahmen sind in diesem Rahmen äußerst selten, zum Beispiel das Projekt Mediterranen Hope, das wir für positiv anders halten als den Rest der unterschiedlichen Projekte, die einander  in diesen Jahren auf Lampedusa gefolgt sind, oder auch das Forum für Aufnahme. Im Allgemeinen aber leisten fast alle Menschen, die in den Migrationsapparat eingebunden sind, ihre Aktivitäten gegen Bezahlung. Darüber hinaus folgt der ganze Weg für den Asylantrag oder für die Arbeitssuche der Logik der Marginalisierung und der Schaffung von Illegalität, die durch die von der EU angenommenen Gesetze geschaffen wird, welche die Funktion hatten, die Schaffung des europäischen Binnenmarktes zu erleichtern, das Kapitel in wenigen Händen zu akkumulieren und die sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen der Arbeiter*innen*innen zu zerstören. Ein Asylsuchender kann auch zwei Jahre darauf warten, bevor er vor die Kommission geladen wird, die beschließt, den Status eines Geflüchteten zuzuerkennen oder eben weniger. In diesen Jahren des Wartens kann der / die Asylbeantragende nicht arbeiten und ist gezwungen, sich vom Staat unterhalten zu lassen. Diese Zeit und dieser Umgang sind für die Anwälte, die sich um die politischen Asylsuchenden kümmern, ein Manna des Himmels. Wenn der Antrag nicht akzeptiert wird, steht der Migrant / die Migrantin mit einem Ausweisungsbescheid in der Hand allein da und fast immer geht er / sie in die Schwarzarbeit, ohne Dokumente und ausgebeutet. 

Man spricht von Aufnahmezentren, wo hingegen das Zentrum von Lampedusa seit Jahren Formen angenommen hat, die in erster Linie Gefangenschaft und erkennungsdienstliche Maßnahmen bedeuten.

Seit Jahren werden die Verhältnisse im Zentrum für Migrant*innen auf Lampedusa von verschiedenen Seiten angeprangert; aber diese Klagen werden überdeckt durch das Besuchsspektakel von wichtigen Exponent*innen des Staates, wie dem Präsidenten der Republik, Mattarella: Sein Besuch im Zentrum für Migrant*innen auf Lampedusa wird in einem Video gezeigt; es verbreitet davon ein Bild der Ruhe und Heiterkeit, der Sauberkeit und Herzlichkeit.

Das Video vom Besuch des Präsidenten der Italienischen Republik, Sergio Mattarella, im Hotspot auf Lampedusa 


Ein Video über die Bedingungen im Hotspot in der gleichen Zeit, publiziert von Askavusa 



Mattarella erklärte darüber hinaus, sich an das Militär wendend: „Sie sind Helden des täglichen Lebens. Und dank Ihnen hat sich das Mittelmeer nicht in ein großes Grab verwandelt.“

Diese Behauptungen und Bilder werden gerade von den Darstellungen bestätigt und verbreitet, die aus Lampedusa einen Film machen wie dem, der für RAI im September auf Sendung gegangen ist, oder, auf noch geschicktere Art, von Filmen wie Fuocoamare. 

Am 10. Juni 2016 kam ausgerechnet Richard Gere, um das Drehbuch, das über Lampedusa geschrieben wurde, zu bestätigen: „Ich bin erstaunt über das familiäre Klima, das ich im Zentrum gefunden habe […] Gere hatte das gleiche Menu wie die Bewohner*innen gegessen: Hühnchen mit Gemüse und gewürzten weißen Reis.“ [28]

Der Besuch von Gere wird angereichert durch eine Notiz, die ein Hinweis darauf gibt, wie wichtig diese Besuche auch für die lokalen „Darsteller*innen“ sind. Tatsächlich schrieb die Bürgermeisterin Giusi Nicolini aus Anlass des Hollywood-Besuches einen Brief an den Präfekten Morcone, um ihrer Enttäuschung Ausdruck zu verleihen: Nicht wegen der Erklärungen Geres, der eine verzerrte Wirklichkeit im Blick auf den Hotspot von Lampedusa beschrieb, sondern wegen der Tatsache, dass sie nicht benachrichtigt worden war und den Schauspieler nicht hatte treffen können. „Wenn man der Gemeinschaft nicht begegnet, hilft man der Insel nicht“ [29], erklärte Nicolini.
Das gleiche Drehbuch war für den Besuch des Senatspräsidenten Grasso am 8. Juli 2016 gültig (hier eine Vertiefung); er erklärte, dass „das Modell Hotspot von Lampedus exportiert werden muss“, und rasselte die ganze Lampedusa-Rhetorik herunter: „Die italienischen Bürger*innen müssen stolz auf das sein, was man auf Lampedusa macht, auf das, was die Lampedusaner*innen, die Verwaltung, die Ordnungskräfte für die Werte von Solidarität und Willkommen, an die wir glauben, tun.“ [30]

Am 22. Juli 2016 aber erklärt Frederico Gelli (PD), Präsident der Untersuchungskommission Migrant*innen: „Die Aufnahmeeinrichtung auf Lampedusa hat sich als total ungeeignet erwiesen, mit einer dürftigen Instandhaltung und einer Verwaltung, bei der man noch mal hinsehen muss, ob sie in der Lage ist, dem Notfall Migrant*innen zum Besten zu dienen.“ [31]

Nachdem der Film Fuoccoamare (hier eine Kritik des Films von uns) in Berlin den goldenen Bären gewonnen hat, folgte ein Strom von politischen Erklärungen und Spots, von denen wir nur ein paar wiedergeben:

Boldrini, Laura, Präsidentin der Abgeordnetenkammer :

Der Kunst gelingt es, ein wichtiges Thema ins Rampenlicht zu stellen, bei dem die europäische Politik nicht zum Ende kommt, sich als ineffizient erweist und bei dem ein Wettstreit in Gang zu sein scheint, zwischen dem, der Mauern baut und dem, der es noch schlechter macht. Ich bin stolz auf mein Land, das auf Kurs bleibt und weiterhin Menschenleben rettet. Und seitens der Kunst ist dieser Film ein Beispiel; er kann eine wertvolle Hilfe in diesem Sinne werden, eine Hilfe, auf Kurs zu bleiben. [32]

Es ist der 25. Februar, derselbe Tag, an dem Italien die Intervention in Libyen plant und sich eine Regierung der nationalen libyschen Einheit wünscht, die eine Militärintervention der Nato gegen den IS beantragen kann. Übersetzt: Die Nato braucht für eine Invasion in Libyen eine internationale Legitimation und eine Rechtfertigung durch die öffentliche Meinung. 

Renzi schenkt den Oberhäuptern der europäischen Staaten anlässlich eines Gipfeltreffens eine Kopie von Fuoccoamare und auf dem Briefchen, das die DVD begleitet, steht geschrieben: „Eine Arbeit, die von der Magie des Willkommens erzählt, und von den außergewöhnlichen Gaben der Menschen von Lampedusa, für die ein Migräne, eine Migrantin immer und vor allem ein Mensch ist.“

Kehren wir zur Darstellung des Hotspots auf Lampedusa in Fuoccoamare zurück: Eine Gruppe von Migrant*innen singt ein Art Gospel, in dem sie unter anderem sagen: „Sie haben uns ins Gefängnis weggeschlossen. Viele sind für ein Jahr im Gefängnis gewesen. Viele sind für sechs Jahre im Gefängnis gewesen, viele sind im Gefängnis gestorben. Das Gefängnis in Libyen ist schrecklich. Sie gaben uns nichts zu essen. Sie haben uns jeden Tag geschlagen, es gab kein Wasser und viele sind abgehauen. Heute sind wir hier und Gott hat uns gerettet.“ Die andere Szene im Hotspot zeigt ein Fußballspiel. Klar, wenn die Präfektur Dir die Erlaubnis zum Drehen gibt, wird sie es so machen, dass du den Hotspot in einem einigermaßen würdigen Zustand antriffst; aber Rosi (der Regisseur von Fuocoammare) hat auch uns im Blick auf die Zustände des Hotspot angehört. Er hat es vorgezogen, von den „schrecklichen“ libyschen Gefängnissen zu sprechen statt von den realen Bedingungen im Hotspot von Lampedusa. (Kurz danach wird er zum dritten Mal angezündet, zum vierten Mal, wenn man auch den Brand in der alten Einrichtung in der Nähe des Flughafens dazuzählt).

So schrieb eine Gruppe von Migrant*innen im Protest in einer Verlautbarung im Mai 2016:

Protest einer Gruppe von „migrantischen“ Personen wegen der Bedingungen im Hotspot und des Verfahrens der Identifikation.

„Wir sind Geflüchtete/Asylsuchende; wir sind hierhergekommen, weil wir aus unseren Ländern, die sich im Krieg befinden, geflohen sind. Die Länder, aus denen wir kommen, sind Somalia, Eritrea, Dafur (Sudan), Jemen, Äthiopien. Die Behandlung, die wir im Lager von Lampedusa erfahren, ist unmenschlich (es gibt auch Fälle von Misshandlung durch die Ordnungskräfte wegen der erzwungenen Abgabe von Fingerabdrücken). Wenn wir unsere Fingerabdrücke nicht abgeben, sind die Mitarbeiter*innen der Verwaltung des Zentrums uns gegenüber verbal und physisch aggressiv; es gibt Diskriminierungen bei der Verteilung des Essens und sie verbieten uns, im Hof Fußball zu spielen. Die Matratzen sind nass vom Wasser, das aus den Bädern kommt und das kann auch Krankheiten verursachen. Es gibt Minderjährige, schwangere Frauen und Personen mit Gesundheitsproblemen, die keine adäquate Behandlung bekommen. Wir sind auf Lampedusa, der eine seit zwei Monaten, der andere seit vier Monaten. Bis jetzt haben sie uns noch keine Möglichkeit gegeben, aus diesem Gefängnis wegzugehen, an einen Ort, an dem die Lebensbedingungen würdiger sind; wir weigern uns, hier Fingerabdrücke abzugeben. Wir sind gekommen, weil wir Freiheit brauchen, Menschlichkeit und Frieden, von denen wir gedacht haben, dass es sie in Europa gäbe. Wir wollen nicht in einem Gefängnis weggeschlossen werden, ohne dass wir eine Straftat begangen haben; wir wollen ein würdigeres Leben und versuchen, Schutz zu bekommen, da wir aus Situationen geflohen sind, die uns dazu genötigt haben, unser Leben zu riskieren. Die Fingerabdrücke unter diesen Bedingungen abzugeben, lässt uns nicht die Freiheit für unsere zukünftigen Entscheidungen, wie zum Beispiel, sich mit den eigenen Familien wieder vereinigen zu können, die sich schon in anderen Ländern befinden.
WIR WOLLEN VON LAMPEDUSA WEGGEHEN, UM DEN SCHUTZ ZU HABEN, DEN WIR GESUCHT HABEN, ALS WIR AUS UNSEREN LÄNDERN FLOHEN. VIELE VON UNS BEFINDEN SICH IM HUNGERSTREIK UND DURSTSTREIK UND WIR HÖREN NICHT AUF, BEVOR UNSERE FORDERUNGEN NICHT ERFÜLLT SIND. [33]

Die Zeitschrift „Ich liebe Sizilien“ widmete im Februar 2016 das Deckblatt dem Goldenen Bären, der in Berlin von Fuocoammare gewonnen wurde und Lampedusa.


Die Rhetorik ist immer die gleiche und noch einmal lassen wir im Blick auf die Vorstellung von Lampedusa einige Mystifikationen der Humanitätsrhetorik vorüberziehen, wie sie von Imperialismus und Atlantikismus benutzt werden. Auf einer der Seiten des „Lungo servizio“, voll von Phrasen wie „Ein Nobelpreis für Lampedusa“ oder „Die normalen Helden von Lampedusa“ ,wurde ein Auszug des Buches Lampeduza von Davide Camarrone publiziert:

Der Tod hier auf Lampedusa hat zwei Mägde. Die Grausamkeit der Schlepper*innen übers Meer; sie pferchen mit Stockhieben so viele Migrant*innen wie möglich auf die alten Kähnen mit auseinanderbrechenden oder kurz vorm endgültigen Ausfall stehenden Motoren […] Und dann gibt es die Grausamkeit der Regierungen. Der libyschen vor allem. Unter Muammar al Gaddafi, einem der vielen korrupten Diktatoren des afrikanischen Kontinents, war das Leben der Migrant*innen eine Sache, die man kaufen, verkaufen und handeln konnte, genau wie alles andere. 

Dies ist ein klares Beispiel, wie sich ein beherrschender Diskurs reproduziert und vervielfältigt, zuerst über ein Buch mit dem Titel Lampeduza und dann mit Hilfe einer Monatsschrift (unter anderem ein Monatsschrift zu „Stil, Trend und Konsum“).  Mit den befremdlichen Erklärungen dieses Gurus des bewaffneten und neokolonialen Humanismus verbindet sich gut, jener Boldrinis, die am 3. Oktober 2014 erklärte, dass „es jetzt einen Krieg zwischen den Menschen und dem Meer gibt“. Darüber hinaus: Die Schuld an den Toten auf dem Meer auf Gaddafi oder auf die Schleuser*innen abladen, ist ein weiterer Fall aus dem Handbuch des imperialistischen Diskurses über Lampedusa und über die Migration.

In dieser enormen Verfälschung trifft man sich wieder, um mit jener auf den Kopf gestellten Wahrheit, von der Guy Debord meisterhaft sprach, abzurechnen: „In der auf den Kopf gestellten Welt  ist tatsächlich das Wahre ein Moment des Falschen.“

Man kann erleben, dass dieselben Leute, die sich beklagen, weil der Immigrant / die Immigrantin an einem öffentlichen Strand badet, der von Tourist*innen besucht wird, einen Preis für die Aufnahme erhalten. Dieselben Leute, die sich beklagen, wenn Migrant*innen gegen die Bedingungen im Hotspot protestieren, finden sich in der ersten Reihe, um Matarella zu applaudieren, wenn er bestätigt, dass die Leute von Lampedusa ein Beispiel sind für Aufnahme und Solidarität. 

In der vorherrschenden Darstellung wird der Immigrant / die Immigrantin passiv gezeichnet, vielleicht innerhalb eines Rahmens, der aus einem goldenen Bären besteht oder dargestellt in einer an Tourist*innen zu verkaufenden Weihnachtskrippe inklusive viel „Tür zu Europa“, Möwe und Schildkröte. Wenn dagegen ein Immigrant, eine Immigrantin als Träger von Forderung und Konflikt zum Subjekt wird, dann wird er/sie ignoriert (im besten Fall) oder umgestaltet. Der Satz, den man oft jemanden aussprechen hört, ist: „Wie das denn, wir nehmen ihn auf und er benimmt sich so?“ Offensichtlich wäre es angebracht, die Dynamiken zu vertiefen, die einige Lampedusaner*innen dazu gebracht haben, gewisse Verhaltensweisen anzunehmen; aber das, was wir in diesem Moment unterstreichen müssen, ist, dass der Gebrauch Lampedusas in den Medien präzise Ziele hat und dass die humanitär-militärische Rhetorik die größten Ruchlosigkeiten der letzten Jahre verdeckt hat; dazu gehört die Schaffung und Verwaltung (durch Gesetze und Praxis) der illegalen Immigration von Seiten der EU und der Nato.

Vom 30. September bis zum 2. Oktober feiert man auf Lampedusa den Prix Italia, einmal mehr organisiert von RAI, die das Hauptinstrument des Regimes bei der Konstruktion des kollektiven Bildes ist. RAI spielt eine entscheidende Rolle bei der Konstruktion der Bühne und des Symbols Lampedusa mit der dazu gehörenden humanitär-militärischen Rhetorik.

Wie sollte man nicht an den Film „La scelta di Catia - 80 Meilen südlich von Lampedusa“ erinnern. Er wurde am 6. Oktober 2014  auf RAI3 gesendet (während die Mission Mare Nostrum noch lief). Geben wir einen Teil der Beschreibung wieder, der sich auf der Internetseite von RAI befindet:

Catia hat auf dieser Erfahrung ihre Mission gegründet und ihre Art und Weise zu lenken und ihrer Crew Motivation einzuflößen. Wenn die Marinesoldat*inne die weiße Uniform der Sanitäter*innen tragen und sich bereit machen, den Migrant*innen zu helfen, scheinen sie sich in unfreiwillige „Engel“ zu verwandeln; die,die dazu ausgebildet sind, Krieg zu führen, sind jetzt in der Trostlosigkeit des Mittelmeeres, das manchmal Angst macht, damit beschäftigt, Leben zu retten.

Beim Prix Italia sind 87 öffentliche und private Radio- und Fernsehanstalten aus 46 Ländern von 5 Kontinenten in die Veranstaltung mit einbezogen. Der Zeitpunkt ist nie zufällig, wenn Fuoccoamare sofort nach dem Angriff in Libyen erschien und sofort nach der deutschen Propaganda bezüglich der Aufnahme syrischer Geflüchteter; der Film für das Fernsehen und der Preis der RAI kamen in einer fortgeschrittenen Phase des Krieges, als es wahrscheinlich war, dass auch die Zahlen der Geflüchteten steigen. Wieder einmal nehmen wir an einem Phänomen der Reproduktion und Multiplikation der bestehenden Bilder teil. Wir haben das Massensterben vom 3. Oktober und die Verfälschung der Fakten, die durch die medienwirksamen Apparate des Staates geschehen, immer mit RAI an der Spitze. Die Rhetorik rund um das Massensterben vom 3. Oktober wird dann jedes Jahr durch die Gedächtnis-Kundgebungen, die mit dem Komitee 3. Oktober an der Spitze auf Lampedusa stattfinden, reproduziert. Diese Rhetorik und die durch sie bewirkte Verfälschung werden in dem Film Fuoccoamare weiter gereicht, der seinerseits über Artikel, Zitate und politische Erklärungen in Umlauf gebracht wird. Für das, was Marc Augè die „Fiktionalisierung“ der Welt nennt, bieten die Prozesse der Medialisierung Lampedusas eins der besten Beispiele.

Auch auf dem Gebiet der „Musealisierung“ haben dieselben Leute, die die kollektive Vorstellungswelt geschaffen haben, auf Lampedusa das „Museum des Vertrauens und des Dialogs“ verwirklicht. Kürzlich hat Pietro Clemente auf „Mittelmeer-Dialoge“ einen interessanten Artikel über Museen veröffentlicht, in dem er sich auch Gedanken zu Lampedusa macht.

Es sind als auch die Objekte eine Welt der Mächte, die es zu erforschen gilt und die zuweilen mit magischer Kraft begabt sind; wie in einigen afrikanischen und amerikanischeingeborenen Museen wird an mächtige Gründer von Museen und an Fetische der Sammler erinnert, aber auch an andere Wirklichkeiten, um anthropologische Spuren verschiedener Welten aufzuspüren. Ich denke jetzt an verschiedene Initiativen der Museumswissenschaft, die auf Lampedusa im Zusammenhang mit den dramatischen Veränderungen dieser Insel zu einer weltweiten Schnittstelle der Migrationsprozesse vom Süden in den Norden der Welt, entstanden sind. Ich denke an meine Zweifel anlässlich des Projektes des Museums der Zuversicht; es wurde vor kurzem auf Lampedusa vom Präsidenten Matarella und so vielen Würdenträger*innen eingeweiht, mit Werken aus großen Museen, ein Caravaggio aus den Uffizien, ein archäologisches Dokument aus dem Bardo in Tunis, alles „für ein Museum des Vertrauens und des Dialogs für das Mittelmeer“. Schwierig, die Welt der Migration mit unseren Symbolobjekten zu konfrontieren, die aus Museen gezogen wurden, die ihrerseits Ausdruck einer Kultur der Elite sind. Wie viel ungeheure Mühen hat man auch im Dialog zwischen Museumsleuten und der Macht vergeudet: Wie sollte man nicht daran denken, dass das große Europa-Mittelmeer Projekt des Museums von Marseille (Ableger des MNATP in Paris; nach Marseille überführt und eingedost), das MUCEM, Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeeres, eben das versuchte: Eine gemeinsame Welt Europas und des Mittelmeeres zu konstruieren, dessen Weg ich als unnützes Mitglied des Wissenschafts-Komitees verfolgt habe, und es hätte der Bezugsrahmen sein können für das, was auf Lampedusa entstehen sollte, wenn es nicht von der französischen Regierung auf den Weg in eine andere Richtung gebracht worden wäre, zum Ruhm Frankreichs und nicht für den Dialog zwischen den Völkern. Ich erinnere, dass zu Beginn des Sommers 2009 die Vereinigung Simbdea einen Protestbrief an den französischen Kulturminister geschickt hat; das Erstaunliche war, dass wir eine Antwort bekamen, die der damalige Minister Mitterand schrieb, Neffe des sozialistischen Expräsidenten und Mitglied der rechten Regierung, der uns beruhigte; aber der Knick war und blieb: Faktisch das größte französische Museum zur europäischen Volkskultur, geschaffen von G. H. Rivière, liegt eingepackt in Marseille. Man fängt immer wieder von vorn an, auch auf Lampedusa. Kann man von diesem Museum behaupten, dass ernsthafte Studien zehn Jahre lang das Mittelmeer umgewendet hätten, um Wege der Technik, des Wissens, des Materials aufzuzeichnen? Gerade an den Orten, die jetzt Zentren des Krieges sind und die mit unserer mittelalterlichen und modernen Geschichte verbunden sind? Niemand würde dir zuhören. Man versteht den guten Willen für das Museum der Zuversicht, auch die Desorientierung; kaum aber versteht man die Investitionen in das, von dem man glaubt, es sei ein universaler Wert, der die Aufnahme ehrt: Stücke aus dem Museum, im Wortsinn antik. 
Diese zeitübergreifenden Bemühungen, die versuchen, auf verneintem Leben zu fußen, gibt es mehr im Werk von Mimmo Paladino: die Tür, die symbolisch die in jenem Meer ertränkten Toten begrüßt. „Die Tür, die Afrika betrachtet im Gedenken an die, die nie angekommen sind.“ Und sie sind auch zu finden in den Projekten Gegenstände von Migrant*innen zu sammeln der Vereinigung Askavusa von Lampedusa (die Barfüßige), in den Fotos von Matt Cardy von den Gegenständen, die in den Dauerlagern für Geflüchtete zurückblieben, insbesondere in Griechenland. [34]

Seit Jahren verbinden wir unsere Arbeit der Wiederaneignung der Erinnerung mit politischen und geschichtlichen Analysen, mit der alltäglichen Praxis, verbinden wir das Studium der Migration mit dem Kampf vor Ort. Schon immer haben wir uns geweigert, Teil des großen politisch, medienwirksamen Apparates zu sein und haben uns Finanzierungen durch Personen wie Soros verweigert, die zu jener Galaxie von Unterstützer*innen der Menschenrechte und der Demokratie gehören, die die Errungenschaften der Arbeiter*innen*innen demontiert und Nationen destabilisiert haben. In der Fleischwolfrhetorik sind auch die Nationalstaaten geendet, die letzten politischen Institutionen, die die Macht haben, die totale Expansion neoliberalen Kapitals einzudämmen. Die Rhetorik von der Welt ohne Mauern und Grenzen wird wiederholt wie ein Mantra, sinnentleert und frei von politischer/ historischer Einordnung. So finden sich auch die mit den besten, aber naiven Absichten, hineinverwickelt in den neoliberalen und imperialistischen Diskurs. Auch hier auf Lampedusa spielt die Deklination eines solchen Paradigmas eine wichtige Rolle: „Menschen schützen, nicht Grenzen“, ist einer der Slogans des Komitees 3. Oktober und es ist jener, den man vor sich auf der Mauer liest, bevor man die Mole Favaloro betritt (auf die die Militärs die Migrant*innen bringen, und von dort werden sie dann mit Linienbussen in den Hotspot verlegt). Aber die Grenzen sind eine politische Tat, wie es die Nationalstaaten sind. Es sind keine natürlichen Gegebenheiten und sie implizieren keine vordefinierten und unveränderbaren Praktiken: ihre Kritik und Neudefinition vom Standpunkt der Untergebenen aus, kann also einen gewissen Sinn für sich in Anspruch nehmen. Die Idee, sie niederzureißen, hat in der kapitalistischen und globalistischen Perspektive, verborgen von einem humanistischen Gutmenschentum, einen drastisch anderen Sinn. Lampedusa insgesamt bleibt eines der Zentren der kollektiven zeitgenössischen Mythos-Produktion, auch dieser Mythos verkehrt. Ein Mythos ohne Mythos, bevölkert von „normalen Held*innen“.



Anmerkungen / Verweise

[1] Auf der Grundlage der Zeugenaussagen der Schiffbrüchigen und der Ersthelfer*innen und der Dokumente, bei denen es uns gelungen ist, sie in unseren Besitz zu bringen. 

[2] Ein Angehöriger des italienischen Heeres, der aus Eritrea stammt, auf der Insel angekommen, um den Überlebenden in den Tagen nach dem Schiffbruch nahe zu sein 

[3]http://palermo.repubblica.it/cronaca/2013/10/03/news/lampedusa_naufraga_barcone_dopo_incendio_82_vittime_fra_loro_donna_incinta_e_2_bambini_ma_mancano_all_appello_250_persone-67793321/.

[4] Pressestelle des Bürgermeisters von Lampedusa und Linosa, 6. Oktober 2013

[5] Zeugenaussage von Vito Fiorino, einem der ersten Helfer 


[7] Der Verteidigungsminister Pinotti – 1. Oktober 2014 – Antwort auf die Befragung n4-01005 


[9] Cfr. (JRS Dispatches, Europa: Grenzkontrollen und Schutz der Menschenrechte http://it.jrs.net/newsletters_detail_L4?ITN=MC-20120730051529.

[10] (L. Eduati, in «L’Huffington Post» 11/10/2013, http://www.huffingtonpost.it/2013/10/11/lampedusa-eurosur_n_4084899.html.

[11] ebenda 

[12] F. Gatti, Die Wahrheit über den Schiffbruch vor Lampedusa. „So hat Italien sie sterben lassen”, http://espresso.repubblica.it/inchieste/2013/11/07/news/la-verita-sul-naufragio-di-lampedusa-quella-strage-si-poteva-evitare-1.140363.

[14] Pressestelle des Bürgermeisters von Lampedusa und Linosa, 28. Oktober 2013 


[16]  Von der offiziellen Seite des Komitees 3.Oktober http://www.comitatotreottobre.it.

[17] ebenda

[18] Brief, adressiert an die Bürgermeisterin von Lampedusa und Linosa, Giusi Nicolino Lampedusa 01/03/2014.


[20] M. Akkerman, Grenze des Krieges. Wie die Waffenproduzenten aus der Tragödie der Geflüchtete in Europa Profit ziehen, 2016, in http://www.disarmo.org/rete/docs/5039.pdf.

[21] ebenda

[22] F. Spinelli, Reise unter den Lobbys, die die europäische Migrationspolitik beeinflussen, in «Internazionale», 22 settembre 2016.


[24] (P. Ansart, Marx und die Theorie des sozialen Vorstellungswelt, in E. Colombo (a cura di), L’immaginario capovolto, Eleuthera, Milano 1987, p. 82.




[28]http://palermo.repubblica.it/cronaca/2016/06/10/foto/richard_gere_a_lampedusa_pranza_con_i_giovani_migranti-141725926/1/#2.

[29] ebenda


[31] http://agrigento.gds.it/2016/07/23/migranti-gelli-pd-lhotspot-di-lampedusa-e-inadeguato_543228/. Hier gibt es einen Link mit einigen Fotos über die realen Verhältnisse im Hotspot von Lampedusa und eine Vertiefung hinsichtlich des Besuches von Grasso auf Lampedusa https://askavusa.wordpress.com/2016/07/07/tutto-grasso-che-cola/.


[33] Verlautbarung, übersetzt und verbreitet vom Kollektiv „Askavusa“ 


Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber