Quelle: Kollektiv Askavusa
Diese
Recherche- und Analysearbeit zum Massensterben vom 3.Oktober 2013 vor
Lampedusa ist eine zusätzliche Vertiefung der Video-Ermittlung von
Antonino Maggiore (Libera Espressione) und kann als PDF unter diesem
Link heruntergeladen werden.
Wir
denken, dass es richtig ist, 3 Jahre nach dem Ereignis die
Aufmerksamkeit im Hinblick auf einige Punkte aufrecht zu erhalten,
darunter die fehlende Rettung und die ökonomisch-politischen Interessen,
die die Grundlage für diese und andere Schiffbrüche bilden.
Wir
meinen, dass man das Problem der gegenwärtigen Migration im Gebiet des
Mittelmeeres von den Gesetzen herleiten muss, die die EU den
Mitgliedsstaaten auferlegt hat, um dem EU-Binnenmarkt und dem
Schengen-Abkommen beizutreten.
Man
kann bis zu zehntausend Euro bezahlen und auch viele Jahre brauchen,
bevor man in Europa ankommt. Oft ist man dem Krieg entgangen, in anderen
Fällen der Ausbeutung im eigenen Land, ein anderes Mal ist man einfach
auf der Suche nach Arbeit.
Wären
die Gelder, die für die Militarisierung der Grenzen (Sicherheit) und
die Gefangenenlager für die Migrant*innen (Aufnahme) ausgegeben wurden,
für die gesetzliche Regelung der Reisen und für die Arbeitsmarktpolitik
verwendet worden, hätten wir sicher nicht tausende von Menschen auf
diese Art und Weise sterben sehen.
Aus
unserer Sicht bleibt das aktuelle Wirtschaftssystem, das den Profit zum
letzten Ziel jeder Tätigkeit gemacht hat, das Problem. Der neoliberale
Kapitalismus, der unter anderem seinen politischer Ausdruck in der EU
findet, produziert jeden Tag tausende von Opfern, die keinen Raum haben
in den Fernsehnachrichten und in der Darstellung des Staates; sie nützen
nichts zur Rechtfertigung irgendeiner Art von Politik: sie sind einfach
ihre Opfer. Niemand wird von ihnen sprechen, niemand ihre Namen
nennen.
Eines
der absurdesten Dinge am Massensterben vom 3.Oktober ist genau dies:
Die Opfer werden ständig herauf beschworen und sie werden so zu einem
Instrument, um die politischen Handlung derer zu rechtfertigen, die für
ihren Tod verantwortlich sind.
Den Opfern des imperialistischen Kapitalismus.
Es findet ein Krieg statt zwischen den Menschen und dem Meer.
(Laura Boldrini, Lampedusa, am 3.Oktober 2014)
Die
intellektuelle Geschichte der Ideen tendiert dazu, die am meisten
ausgearbeiteten Ausdrücke zu isolieren, nur die Werke der besten
Theorien zu behandeln und die vielfältigen Manipulationen, die von den
Leuten des Staates oder von Propagandisten fortlaufend begangen werden,
als einfache Anekdoten zu betrachten. Nun sind aber, in der alltäglichen
Wirklichkeit des politischen Lebens, in den richtungsweisenden
Entscheidungen und in der Überzeugungsarbeit, die dazu bestimmt ist,
sie akzeptabel zu machen, genau diese vielfältigen Manipulationen, die
wichtig sind und die direkt an der Aktion beteiligt sind.
(Pierre Ansart, Ideologie, Konflikte und Macht)
I Rekonstruktion der Fakten [1]
Am
2. Oktober 2013 startet um 3:00 Uhr ein Fischerboot von ca. 20m Länge
an der Küste von Misurata in Libyen. An Bord sind 540 Personen, die
meisten von ihnen Eritreer*innen. Nach ca. 24 Stunden Fahrt kommt das
Schiff in der Nähe der Insel Lampedusa an und der Bootsführer stellt den
Motor ab. Für fast zwei Stunden liegt das Schiff mit abgestelltem Motor
vor der Insel. Es beginnt Wasser ins Unterdeck des Schiffes zu laufen.
Zwischen 2:30 und 3:00 Uhr des 3. Oktobers nähern sich zwei Boote dem
mit Personen beladenen Schiff.
Die
zwei Boote kommen aus Richtung Meer, eines an der rechten und das
andere an der linken Seite des Schiffes. Nachdem sie die Scheinwerfer
auf das mit Personen beladenen Schiff gerichtet und einmal herumgefahren
sind, nehmen die beiden Boote Kurs auf den Hafen von Lampedusa.
Aus
den Teilstücken der Routenführung, in deren Besitz wir gelangt sind (in
der Gegend und dem zeitlichen Rahmen, der in den Zeugenaussagen
beschrieben wird) kann man auf ein Boot schließen, die „Motopesca
Cartagine“, das Bewegungen um das Schiff herum macht; sie entsprechen
denen, die von den Überlebenden beschrieben wurden.
In
der an sechs Überlebenden am 7. Oktober 2013 durchgeführten Vernehmung
hat man niemals diesen Punkt vertieft, geschweige denn die Unterlassung
der Rettung. Die Befragung wurde geführt vom leitenden Staatsanwalt der
Republik Dr. Renato Di Natale, vom leitenden Staatsanwalt der Republik
Dr. Ignazio Fonzo und von dem stellvertretenden leitenden Staatsanwalt
der Republik Dr. Andrea Maggioni. Die Untersuchungen konzentrierten sich
prinzipiell auf die Person Bensalam Khaled. Dieser wurde dann in 2015
von dem Richter der Vorverhandlung am Gericht von Agrigent, Stefano
Zammuto zu 18 Jahren Gefängnisstrafe und zu einer Geldbuße von 10
Millionen Euro wegen fahrlässig herbeigeführtem Schiffbruch und
„Todesfällen in Folge einer anderen Straftat“ verurteilt.
Bensalam Khaled hat sich immer als einfachen Passagier bezeichnet.
Die Kommune Lampedusa und Linosa traten im Prozess als Zivilkläger auf.
Während
der Vernehmung erklärt einer der Überlebenden im Blick auf die zwei
Boote: „Es handelte sich wahrscheinlich um zwei Fischerboote.“ Aber der
Befragende geht weiter, ohne diese Frage zu vertiefen.
An andrer Stelle des Protokolls der Vernehmung (eines anderen der Überlebenden) berichtet man wie folgt:
A:
Wir waren fast angekommen, so viel ist wahr, dass wir die Lichter der
Insel gesehen haben. Wir glaubten, dass sie uns von Italien aus schon
gesichtet hätten und kämen, um uns zu holen. Jedoch näherten sich uns
zwei Boote und das ließ mich denken, dass uns jemand gesichtet hätte,
aber wir haben keine Hilfe gerufen, da wir dachten, dass in Kürze die
Rettung ankäme.
F: Um was für Schiffe handelte es sich?
A: Ich denke nicht, dass es sich um Marineschiffe handelte; es handelte sich wahrscheinlich um zwei Fischerboote.
Man
versteht nicht, warum der Befragte, als er antwortet, das Faktum
verneint, es könne sich bei den Schiffen um Marineschiffe gehandelt
haben, da in der Frage kein Bezug zu dieser Einzelheit enthalten war. Im
Protokoll bestätigen die anderen Befragten, dass die beiden Boote
Fischerboote oder zivile Schiffe gewesen seien, außer einem, der sagte,
er wüsste nicht, welcher Typ Boot das gewesen sei. In den Interviews,
die wir in den Tagen nach dem Schiffbruch geführt haben, haben wir
dagegen andere Versionen gehört.
Wir berichten einen Teil jener Interviews:
F: Kannst Du das Schiff auf einem der Fotos wiedererkennen?
A: (Er zeigt auf ein Foto mit einem Boot der Finanzpolizei).
F: Wie waren die Menschen an Bord gekleidet?
A: Schwarz, es schien eine schwarze Uniform zu sein.
F: Wie viel Personen hast Du gesehen?
A: Zwei. Eine vorne im Boot, die andere hinten.
F: Warum bist Du sicher, dass das erste Schiff dieses gewesen ist?
A: In seiner Gesamtheit scheint es mir dieses gewesen zu sein.
F: Hast Du diese Schiffe im Hafen von Lampedusa in den folgenden Tagen gesehen?
A: Ja, ich habe sie gesehen.
F: Wann hast Du begriffen, dass es sich um ein Motorboot der Finanzpolizei handelt?
A: Jetzt habe ich es kapiert.
F: Wo hast Du den Militärdienst in Eritrea geleistet?
A:
Im Motorboothafen, ich habe im Militärhafen gearbeitet. Aufgrund der
Form, der Antennen und der Lichter habe ich begriffen, dass das Schiff
dieses ist.
Im
folgenden Video können wir einen der Überlebenden hören, der von seinem
Übersetzer[2] unterbrochen wird, als er eins der zwei Boote beschreibt.
In den ersten Stunden des Schiffbruchs sprechen viele von diesen Schiffen, die nicht angehalten haben.
Die
Bürgermeisterin von Lampedusa bestätigt: „Sie erzählen, dass einige
Motorfischerboote, zwei oder drei, vorbeigefahren sind und dass sie
weitergefahren sind, ohne ihnen zu helfen. Dies ist das, was sie sagen,
aber wenn das wahr ist, ist es nötig, auch diesen Aspekt zu
beleuchten.“[3]
Drei Tage später lässt die Bürgermeisterin eine offizielle Mitteilung herausgehen, in der man liest:
„Es
reicht mit dieser unnützen und ungerechten Polemik. Die Fischer aus dem
Hafen von Lampedusa lassen keine Migrant*innen auf dem Meer sterben.
Sie haben es nie gemacht und werden es niemals machen.“ So beabsichtigt
die Bürgermeisterin der Inselgruppe, Giusi Nicolini, einen Schlussstrich
unter die Kontroverse zu ziehen, die aus dem Ereignis der angeblichen
unterlassenen Hilfeleistung an den Schiffbrüchigen vor der
Kanincheninsel hervorgegangen ist. [4]
Wir
können uns nicht erklären, wie um alles in der Welt der, der die
Untersuchung geführt hat, diesen Punkt nicht vertieft hat und die
Mitglieder der Besatzung des Motorfischerbootes Cartagine nicht
vernommen hat. Dieses wurde, wie verschiedene Zeitungsartikel berichten,
am 20.9.2013 in Tunesien beschlagnahmt und am 25.9.2013 mit 9 Mann
Besatzung an Bord (3 aus Mazara und 6 aus Tunis) wieder freigegeben.
Am
1.10.2016 erfahren wir aus den Erklärungen des stellvertretenden
leitenden Staatsanwaltes von Agrigent, Andrea Maggioni, dass die
Staatsanwaltschaft Agrigent eine Untersuchung zu der Hypothese der
unterlassenen Hilfeleistung durchführt.
Am 5. Oktober heißt es in einer Mitteilung der Nachrichtenagentur ANSA:
SCHIFFBRUCH:
STAATSANWALTSCHAFT, KEINE UNTERSUCHUNG ZU HILFSAKTIONEN AUF DEM MEER –
EX-GENERAL KÜNDIGT ANZEIGE AN, ZWEI SCHNELLBOOTE DER GDF (FINANZPOLIZEI)
HALTEN AM KAI (ANSA) – LAMPEDUSA (AGRIGENT), 5. OKT -
Die
Staatsanwaltschaft Agrigent hat keine Untersuchung bezüglich der den
Migrant*innen auf dem Meer geleisteten Hilfe eröffnet, die sich vor zwei
Tagen auf dem schiffbrüchigen Kahn vor Lampedusa befanden. Das hört man
aus Gerichtsquellen, die unterstreichen, dass weder über Zivilist*innen
noch über Militärangehörige und Ordnungskräfte eine Akte angelegt
wurde. Der Tageszeitung La Sicilia zu Folge sei dagegen von dem im
Ruhestand befindlichen General der Luftwaffe, Vittorio Scarpa, bei der
Militärstaatsanwaltschaft in Neapel eine Anzeige erstattet worden. Er
hat eine Initiative angekündigt, damit Klarheit hergestellt wird, wer
die Finanzpolizei nicht verständigt hat und warum sie nicht von dem
Schiffbruch verständigt wurde. Nach der Rekonstruktion der Zeitung,
seien tatsächlich zwei Schnellboote der Finanzpolizei an der Mole von
Favaloro festgemacht geblieben. (ANSA).
In
einem Interview von „Libera Espressione“ mit einem der Überlebenden in
den Tagen nach dem Schiffbruch, kann man Nachstehendes hören:
Von
weitem sah man die Schiffe, die rechts und links fuhren; also haben
wir, um Aufmerksamkeit zu erregen, die Decke verbrannt, aber niemand hat
sich uns genähert. Bevor wir das Betttuch angezündet haben, haben wir
versucht, die Leuchten anzuzünden, um Aufmerksamkeit zu finden. Aber von
Ferne haben wir die Schiffe gesehen, die sich bewegten, und die Lichter
der Küste.
Gegen
4:30 Uhr sank das Schiff. Gegen 6:30 Uhr wurde eine Gruppe von
Personen, die sich in einem Boot in der Gegend der Tabbaccara auf
Fischfang befand, von den Schreien der Schiffbrüchigen geweckt; sie
traten aus der Kabine und sahen hunderte von Körpern im Meer.
Mit einem Anruf wurde sofort Alarm ausgelöst.
Um
6:40 Uhr haben wir über Kanal 16 des Bordradios, verbunden mit der
Hafenmeisterei von Lampedusa, Hilfe gerufen. Nichts. Um 7:20 Uhr haben
wir über Telefon die Zentrale in Rom angerufen und sie haben uns
geantwortet: „Wir kommen.“ Aber es sind noch einmal 5, wenn nicht 10
Minuten verstrichen[…] Sie sind mit riesigen Schiffen angekommen, die
aber untauglich waren, die Schiffbrüchigen herauszufischen. Ich habe
gefragt, ob ich meine Leute auf ihr Schiff bringen könne, um die
Rettungsaktion fortzusetzen, aber sie haben das nicht gewollt […] Ich
habe auf allen Internetseiten das Video von den Männern der Hafenbehörde
gesehen, die eine Rettung aufnehmen. Ich frage mich, warum machen sie
Dreharbeiten statt die Leute zu retten? […] Falls sie es auf die leichte
Schulter nehmen, sollte man nicht so handeln, während die Leute im
Meer sterben. Sie haben sich geweigert einige Personen an Bord zu
nehmen, die wir schon gerettet hatten. Weil das Protokoll es verbietet,
haben sie gesagt. Als wir zum Hafen zurückgekommen sind, beladen mit
Schiffbrüchigen, haben wir das Schiff der Finanzpolizei gesehen; es fuhr
heraus, als wären sie dabei, eine Spazierfahrt zu machen. In solchen
Fällen fährt man nicht mit diesen riesigen Schiffen, man fährt mit
kleinen und schnellen Booten, weil man die Absicht hat, Menschen zu
retten. [5]
Weitere
Zivilboote und Fischerboote begaben sich vor Ort und luden den Großteil
der Überlebenden an Bord. Die ersten Helfer erklärten, dass die
Küstenwache eine Verspätung von ca. 50 Minuten hatte.
So
schreibt die Anwältin Linda Barrocci, eine der Retter*innen, die auf
dem Boot war, das in der Tabbaccara geankert hat, in den Stunden nach
dem Schiffbruch auf ihrem Facebook-Profil:
Empörung!!!!
Informiert Euch gut über das, was auf Lampedusa passiert. Beschränkt
Euch nicht darauf, Nachrichten oberflächlich zu hören! In den
Fernsehnachrichten berichten sie von einem Schiffbruch, verursacht durch
einen Brand und mehr als 500 Menschen im Meer, die um ihr Überleben
kämpfen. Aber warum ist das Meer voll von Menschen, die gerettet werden
müssen und die Küstenwache kommt nach unzähligen Anrufen erst eine
Stunde später? Warum geschieht das alles vor der Küste und die
Rettungskräfte kommen nicht? Sie haben äußerst ausgeklügelte
Instrumente, mit denen sie abertausende von Booten vor der Küste
erkennen können und es gelingt ihnen nicht, einen Brand zu sehen und
hinzueilen, um zu retten, was zu retten ist? Heute Morgen waren wir auf
dem Meer und haben Köpfe von Menschen im Wasser gesehen, überall die
Verzweiflung und Leben, die es zu retten gilt! Leute, die unter deinen
Augen ertrinken und die Küstenwache sagt, dass sie dem Protokoll folgen
muss! Aber welchem Protokoll! Du triffst auf Schiffe der Küstenwache und
sie sagen, dass sie in Rom anrufen müssen, um zu wissen, was zu tun
ist, während du auf einem Boot bist und hast schon 47 Leben
„rausgezogen“, die zwischen den Tränen, dem Schock, die Lungen und den
Magen voll Benzin, mehr als drei Stunden schwimmend verbracht haben und
nach Hilfe rufen! Wie ist es möglich, dass diese armen Seelen gezwungen
waren zu sterben weil die Hilfe fehlte! Verdammt noch mal, wo seid ihr?
Kompliment Italien! Das Leben folgt keinem Protokoll! Wenn es um Leben
oder Tod geht, kommen die Menschenrechte ins Spiel und das Recht zu
leben! Während wir mit 47 gerade geretteten Personen beladen in den
Hafen zurückkehren, hatte die Küstenwache leere Schlauchboote. Obwohl
hunderte von Personen weiter mit den Armen fuchteln, am Ende der Kräfte,
unterkühlt, am Ende und vergiftet vom Petroleum, blieben die
Schlauchboote dort, leer mit einem Taucher drin, der statt sich ins Meer
zu stürzen und weitere zu retten, den armen Leuten auf unserem Schiff
zuschrie: „Sit-down“. Das ist alles, was sie sagen und tun können.
Jedenfalls bis zu diesem Augenblick! Dann haben sie sich doch noch
irgendwie in Bewegung gesetzt! Aber ist es nicht zu spät? Und sie kommen
und sagen zu uns, dass es noch mehr als zweihundert Vermisste gibt?
Schauen wir uns im Spiegel an und legen wir uns Rechenschaft darüber ab,
dass wir im Jahr 2013 noch nicht in der Lage sind, nicht einmal für uns
selbst zu sorgen! Ich habe keine Worte! Wollen wir so weiter machen?
Die Küstenwache erklärte hingegen:
Nachdem
wir um 7:00 Uhr über Radio UHF das Alarmsignal bekommen haben, sind wir
sofort mit unserer Marineeinheit eingeschritten und um 7:20 Uhr an der
Stelle des Schiffbruchs angekommen: Auch dank der Mitarbeit von
Privatleuten haben wir all jene gerettet, die im Wasser verstreut waren
und 155 Überlebende aus dem Meer gezogen. [6]
Von
Wichtigkeit ist auch die Tatsache, dass Lampedusa ein
hochmilitarisiertes Gebiet ist, in dem es 8 Radargeräte gibt, davon 7 in
der Gegend von Ponente, ganz nah der Gegend des Schiffbruchs. Die
Anwesenheit von acht Radarstationen und verschiedenen Antennen für die
Spionage und den elektronischen Krieg ist im Lauf der letzten Jahre
durch die Frage der Migration gerechtfertigt worden: im Hinblick auf
Sicherheits- und humanitäre Aspekte. Diese Installationen haben die
Möglichkeit von Krankheit erhöht, die mit der elektromagnetischen
Verunreinigung verbunden sind.
Aber wenn man den Verteidigungsminister hört, dann nützt diese Vermehrung von Radaren ziemlich wenig:
Auch
die neue Radartechnologie garantiert nicht von alleine die Möglichkeit
ein Schiff auf hoher See zu identifizieren, nämlich seine Verbindung zu
den Migrationsströmen, noch viel weniger den Stand oder die
Voraussetzung möglicher Gefahr durch dieses Schiff zu verifizieren. Die
Bedeutung des neuen Radars der Marine muss deswegen als Unterstützung
der Arbeit der Schiffe und der Luftfahrzeuge, die im gleichen
betroffenen Gebiet auf hoher See operieren, gesehen werden. Sie sind die
einzigen Mittel, die sowohl die betreffende Situation verifizieren als
auch sofort eingreifen können, um den Tragödien auf dem Meer
zuvorzukommen. [7]
Eine
andere Sache, die man wissen muss, ist, dass im zentralen Mittelmeer
vom 06.05.2013 bis zum 30.04.2014 die Frontex-Mission mit dem Namen EPN
Hermes stattgefunden hat; an ihr haben 20 EU-Staaten teilgenommen und
sie hat die insgesamt 9.020.745€ gekostet. [8]
II Der Beschluss zu Eurosur. Auf der Welle der Emotionen
Am
10. Oktober 2013 hat das Europaparlament mit 479 Ja- und 101
Neinstimmen bei 20 Enthaltungen Eurosur beschlossen. Eurosur hatte aber
Mühe, in Betrieb zu gehen, auch dank einiger Dossiers wie jenem der
Heinrich-Böll-Stiftung von 2012, in dem die Kosten auf mindestens 874
Millionen Euro geschätzt wurden. Die europäische Kommission schätzt in
einem Dokument vom 12.12.2011, Eurosur: Die Behörden mit den nötigen
Instrumenten versorgen, um die Verwaltung der äußeren Grenzen zu stärken
und das transnationale Verbrechen zu bekämpfen, die Kosten von Eurosur
von 2011 bis 2020 auf 338 Millionen Euro.
Schon
im Jahr 2012 hat eine Gruppe von Menschenrechtsschutz-NGOs in einem
Brief an die Kommission für zivile Freiheiten des Europaparlaments
Bedenken formuliert. Sie befürchtete, dass in der geplanten Errichtung
eines europäischen Systems zur Überwachung der Grenzen (EUROSUR) die
Sicherung des gebührenden Schutzes für Asylsuchende, die auf dem
Kontinent Schutz suchen, fehle.[9]
Das
Überwachungssystem der europäischen Grenzen, Eurosur, sollte am 1.
Oktober starten, knapp zwei Tage vor dem tragischen Schiffbruch vor
Lampedusa. Das war zumindest die Absicht, lief aber völlig ins Leere.
Die Absicht wurde am 27. November 2012 von der Kommission für
bürgerliche Rechte des Europa-Parlaments ausgesprochen, die genau an
diesem Tag dem Regelwerk für Eurosur freie Bahn gegeben hatte; sie
versicherte, dass Radar und Streifen als „Schlüsselziel“ den Schutz der
Verzweifelten habe, die die Überquerung des Mittelmeeres wagen, um die
Küsten Italiens zu erreichen. „Leben der Migrant*innen auf dem
Mittelmeer zu retten ist absolut notwendig“, hatte der Referent Jan
Mulder (PPE) erklärt. So ist es nicht gewesen. Es brauchte fast elf
Monate und eine Tragödie mit 320 Ertrunkenen, um das Europaparlament
davon zu überzeugen; gestern wurde das Regelwerk für Eurosur auf der
Welle der Emotionen beschlossen; in Italien tritt es am kommenden 2.
Dezember in Kraft. [10]
In
den Schlusserklärungen des Europarates liest man: „Eurosur leistet
einen Beitrag dazu, die Fähigkeit, das Leben der Migrant*innen zu
schützen und zu retten, zu verbessern.“
Die Kommissionsvorsitzende Cecilia Malström erklärte nach dem Beschluss zu Eurosur:
Wir
haben alle noch die schrecklichen Bilder der letzten Tragödie vor
Lampedusa vor Augen. Ich werde niemals die 280 Särge, die ich gestern
auf der Insel gesehen habe, vergessen. Es ist erschütternd, an dem
Verlust so vieler Menschenleben unter solch tragischen Umständen
teilzunehmen. Meine Gedanken gehen zu den Opfern und zu ihren Familien
und ich bewundere tief die Retter, die ihr Bestes in einer solch
dramatischen Situation getan haben.
Der Berichterstatter, der holländische Liberaldemokrat Jan Mulder:
Nur
mit einem gesamteuropäischen Grenzüberwachungssystem sind wir in der
Lage zu vermeiden, dass das Mittelmeer zu einem Friedhof für Geflüchtete
wird, die versuchen das Meer in alten Booten zu überqueren, um in
Europa ein besseres Leben zu suchen. Um zu vermeiden, dass sich eine
Tragödie wie jene von Lampedusa aufs Neue ereignet, ist eine schnelle
Intervention notwendig.
Ob
die Toten vom 3. Oktober 2013 durch „so tragische Umstände“
herbeigeführt wurden oder ob sie nicht im Gegenteil eine Frucht der
präzisen politischen Entscheidungen und der ökonomischen Interessen
waren, ändert nur wenig. Man hat das Massensterben vom 3. Oktober 2013
benutzt, um die Einrichtung von Eurosur zu rechtfertigen. Das ist eine
objektive Gegebenheit.
In
Wirklichkeit besteht die erste Aufgabe des Überwachungssystems darin,
so liest man im Text, „die illegale Einwanderung und die
grenzüberschreitende Kriminalität zu erkennen, ihr vorzubeugen und sie
zu bekämpfen“. Dies soll durch einen verstärkten Austausch von
Informationen zwischen den einzelnen Staaten und Frontex, der Agentur
zum Schutz der europäischen Grenzen mit Sitz in Warschau geschehen.
Diese hat in den vergangenen Tagen zugegeben, dass sie die für 2013
zugebilligten Mittel schon verbraucht hat. […] Im genannten Text wird
Frontex die Möglichkeit gegeben, den Hilferuf eines europäischen Staates
aus „technischen, finanziellen oder operativen“ Gründen zu verweigern
und die Zurückweisung „bei passender Gelegenheit“ zu begründen, oder
wann immer sie will. Kurzum, schon im Regelwerk ist vorgesehen, dass
Frontex – das die Aufgabe haben wird, die Aktivitäten von Eurosur zu
koordinieren – weil die Geldmittel ausgehen oder aus (nicht näher
beschriebenen) technischen Gründen, nicht zeitnah eingreifen kann, um
bei der Rettung eines „Seelenverkäufers“ zu helfen. [11]
Am 11. Oktober gab es einen weiteren Schiffbruch. Es starben 368 Syrer*innen, darunter 60 Kinder.
Drei
Anrufe via Satellit, die ignoriert wurden. Zwei Stunden warten auf dem
Meer. Um dann zu entdecken, dass Italien kein Flugzeug mobilisiert
hatte, kein Schiff der Marine, kein Schnellboot der Küstenwache. Im
Gegenteil, nach drei Stunden hat die italienische Einsatzzentrale den
Geflüchteten, die 100 Km vor Lampedusa trieben, gesagt, dass sie Malta
anrufen müssten, mindestens 230 Km entfernt. Zwei verlorene Stunden: Von
11 bis 13 Uhr am Freitag, den 11. Oktober. Hätten sich die Italiener
sofort in Bewegung gesetzt oder sofort den Alarm an die Kollegen in
Valletta weitergegeben, hätte das Massensterben nicht stattgefunden. […]
Der Fischkutter hatte zwischen 100 und 150 Kinder an Bord, unter
insgesamt 480 Syrer*innen im Exil: In der vorhergehenden Nacht hatten
die Feuerstöße eines Maschinengewehrs, abgegeben von einem libyschen
Patrouillenboot, den Schiffrumpf durchlöchert, der sich um 17:10 Uhr
umgelegt hat und gesunken ist. Ein Helikopter hat die Stelle um 17:30
Uhr erreicht, sechseinhalb Stunden nach dem ersten Notruf. Das erste
maltesische Marineschiff um 17:51 Uhr. Jene zwei verlorenen Stunden
hätten es dem Helikopter erlaubt, um 15:30 Uhr anzukommen, dem
Marineschiff um 15:51 Uhr, und den Rettern, die von Lampedusa
aufbrachen, auf einem schnellen Patrouillenboot der Finanzpolizei, kurz
nach 13:00 Uhr einsatzfähig zu sein, und nicht nach 18:00 Uhr. Es hätte
also, kurzum, alle Zeit der Welt gegeben, um die Verlegung der
Passagiere abzuschließen und sie in Sicherheit zu bringen. Zwei Stunden
italienischer Nachlässigkeit und die wahnsinnigen Kompetenzverteilungen
zwischen Italien und Malta haben dagegen zum Tod von 268 Personen
beigetragen, darunter 60 ertrunkene kleine Kinder; 242 Leichen, die bis
heute im Meer verschollen sind. Es fielen die üblichen Worte zu den
Umständen und als krönender Abschluss am 4. November die Danksagungen
des Staatsoberhauptes Georgio Napolitano an die Streitkräfte für die
mutigen Operationen im Mittelmeer […] „L’Espresso“ hat weiter ermittelt.
Und hat den Mann getroffen, der mit einem Satellitentelefon die
italienische Einsatzzentrale alarmiert hat. Er klagt die Verspätung an.
Er heißt Mohanad Jammo, 40 Jahre alt […] Den Schiffbruch hat Doktor
Jammo, ehemaliger Universitäts-Dozent für Maschinenbau, zusammen mit
seiner Frau und ihrem fünfjährigen Sohn überlebt. Aber sie haben die
Söhne Mohammad, 6 Jahre und Nahel, 9 Monate, verloren; ihre Körper
wurden nicht gefunden. Die Anklage wird bestätigt von zwei weiteren
Zeugen. […] Als die von der italienischen Küstenwache ihn angewiesen
haben, was er tun solle, hat er sie angefleht: „Bitte, wir sterben.“ Und
der Militär am Telefon: „Bitte, könnt ihr die maltesischen Kräfte
anrufen, jetzt gebe ich euch die Nummer: 00356…“ „Wenn ihr die
Telefon-Aufnahme abhört“, erinnert Dr Jammo, „werdet ihr sehen, dass er
mir keine Zeit gelassen hat. Er hat das Telefonat beendet, bevor ich die
Telefonnummer fertig aufgeschrieben hatte.“ Diese Aufforderung, Malta
direkt anzurufen, erklärt der Admiral Angrisano: „er antwortet auf eine
klare, geprüfte und produktive Methode, die über den direkten Kontakt
dessen, der nach Hilfe ruft und dem der gehalten ist, sie zu leisten,
die Rettungsaktion effektiver und produktiver macht.“ [12]
Cecile
Kyenge (damals Integrationsministerin der italienischen Regierung)
unterstreicht, dass diese Handlungsweise Priorität hat:
Krieg
auf allen Feldern gegen die internationale organisierte Kriminalität,
die diesen Menschenhandel betreibt. Es gibt Gesetze, die werden
angewandt, wenn nötig, muss man sie noch härter machen […]; es ist
nötig, die Kontrollen auf dem Mittelmeer zu verstärken. Man muss das
System Frontex ankurbeln und eine Überwachung in Echtzeit ins Leben
rufen, damit man nicht weitere Tote zählen muss. Und vor allem,
Patrouillen auf dem Meer, die die kriminellen Protagonisten des
Menschenhandels entdecken. Der Punkt ist dieser: Eine neue
internationale Mafia auf den Routen des Mittelmeeres. [13]
Am
14 Oktober hat die Regierung Letta beschlossen, die Operation Mare
Nostrum durchzuführen. Am 20. Oktober, mit der Ankunft des Schiffes San
Marco der Marinelandeeinheiten in den Gewässern südlich von Sizilien und
mit der ersten gegen die Immigration gerichteten Überwachungsmission
einer Brechet Atlantic der 41. Flugstaffel, nahm die Operation Mare
Nostrum in allen Bereichen ihren Lauf, eine Operation, die eingebettet
ist in die Agentur Frontex. Die Kosten dieser Operation belaufen sich
auf ca. 400.000 €, - pro Tag. Während der Operation hat man ca. 3360
Leichen und Vermisste registriert.
Am
22. Oktober beschließt der Europarat für allgemeine Angelegenheiten
ohne Diskussion die Anwendung von Eurosur, die am 2. Dezember 2013 im
Rahmen des Schengen-Abkommens in Kraft tritt.
III Die Wirklichkeit wird auf den Kopf gestellt
Es
wäre schwierig gewesen, die Finanzierung von Eurosur und der
verschiedenen nachfolgenden Operationen zu rechtfertigen, wenn die
öffentliche Meinung Zweifel gehabt hätte wegen einer nicht geleisteten
Hilfe oder wegen der Verspätung bei den Rettungsaktionen, verursacht
durch die übergeordneten Stellen für die Rettung auf dem Meer. Quer
durch die Medien des Systems hat man eine Erzählung des Massensterbens
vom 3. Oktober 2013 entworfen: Sie hat jede Spur der Zeug*innen
verwischt, die von den zwei Schiffen gesprochen haben, die sich dem
Boot, vollgepfropft mit Migrant*innen zwischen 2:30 und 3:00 Uhr nachts
genähert haben und von den Verspätungen bei den Rettungsaktionen. Es ist
nie eine richterliche Untersuchung zu der verpassten Rettung eröffnet
worden.
RAI
hat in diesem Sinne eine fundamentale Rolle gespielt und produziert:
Reportagen, Filme und Bekundungen, alles darauf ausgerichtet, die Rolle
der Ordnungskräfte und des Militärs bei der Rettung von Menschenleben
auf dem Meer zu lobpreisen und ein Bild von Lampedusa als „Land des
Willkommens“ schlechthin zu malen. Es ist kein Zufall, dass eins der
führenden Mitglieder des Komitees 3. Oktober Valerio Cataldi ist,
Journalist der RAI.
Das
Komitee 3. Oktober bildete sich unmittelbar nach dem 3. Oktober 2013,
auch dies „auf der Welle der Gefühle“. Die Geburt des Komitees hatte von
Anfang an die Gunst der Bürgermeisterin von Lampedusa und Linosa, die
in einer offiziellen Mitteilung am 28. Oktober 2013 erklärte:
„Die
Geburt des Komitees 3. Oktober, nur wenige Wochen nach dem dramatischen
Schiffbruch vor der Kanincheninsel, ist ein schönes und konkretes
Zeugnis der gemeinsamen Anstrengung vieler, die handeln wollen, damit
die Asyl- und Aufnahmepolitik sich ändern und ähnliche Tragödien sich
nicht wiederholen müssen. Deshalb hat der Vorschlag, die Feier des
„Tages des Gedenkens und des Willkommens“ an jedem 3. Oktober per Gesetz
einzuführen, meine Zustimmung und kann auf meine volle Unterstützung
zählen und die meiner Mitbürger*innen.“ [14]
Schon im darauf folgenden Jahr zogen es einige der Gründungsmitglieder vor, dass Komitee zu verlassen:
5
Mitglieder des Komitees 3. Oktober, das im Jahr nach dem Schiffbruch
entstanden ist, bei dem fast 400 Personen starben, haben sich
entschieden, den Verein zu verlassen. In einem offenen Brief haben Laura
Biffi, Paola La Rosa, Simone Nuglio, Fabio Sanfilippo und Alice
Scialoja geschrieben „Wir hätten gewollt, dass der 3. Oktober in aller
Stille hätte stattfinden können, vereint im Gedenken und im gemeinsamen
Gebet aller Religionen. Wir wollten die Instrumentalisierung vermeiden
und den politisch-institutionellen Laufsteg. Wir haben aber erfahren,
dass das Komitee genau am 3. Oktober auf Lampedusa an einem
Diskussions-Forum mit Exponenten aus Politik und Institutionen teilnimmt
und damit dem Geist der Bewegung widerspricht und den tiefen Sinn des
Gedenkens und der Erinnerung verneint.“ [15]
2014
wird das Komitee 3. Oktober eine gemeinnützige Organisation „mit dem
Ziel, den 3. Oktober als symbolisches Datum des ´Tages des Gedächtnisses
und der Aufnahme`, sowohl auf nationaler wir auch auf europäischer
Ebene einzusetzen.
An
jedem 3. Oktober, einem Datum mit starkem symbolischen Wert, wollen wir
die Öffnung von humanitären Korridoren anregen und ankurbeln, um all
die aufzunehmen, die Krieg, Diktatur und Elend entkommen sind; wir
wollen die Suche und die Rettung auf dem Meer verstärken und zur
Wiedererkennung der Opfer eine europäische DNA-Datenbank schaffen. [16]
Und hier die Beschreibung der Fakten, die man auf der Seite der gemeinnützigen Organisation Komitee 3. Oktober lesen kann:
Am
3. Oktober 2013 sank ein Schiff, beladen mit Geflüchteten, die in der
Mehrzahl aus Eritrea stammten, eine halbe Meile vor der Küste
Lampedusas. Am Ende wurden 368 Tote gezählt, unter ihnen Kinder, Frauen
und Männer. Die Körper der Opfer wurden alle geborgen und zum ersten Mal
in der Geschichte der Schiffbrüche auf dem Mittelmeer wurden sie der
Welt in einem dramatischen Aufschrei kollektiver Hilfe gezeigt. [17]
Das
Komitee 3. Oktober, eine gemeinnützige Organisation, wurde aktiver
Teilnehmer bei allen Kundgebungen und Initiativen, die mit dem Gedenken
an den 3. Oktober 2013 verbunden sind und in allen Varianten der
Veranstaltungen, die seit diesem Tag begonnen haben, nicht zuletzt dem
Museum der Zuversicht und des Dialogs.
Neben
den vielen Mitbegründern, die das Komitee 3. Oktober verlassen haben,
stellte man 2014 auch die Weigerung von einigen zivilen Rettern fest, an
den Kundgebungen, die von der Kommune und dem Komitee organisiert
wurden, teilzunehmen.
GEGENSTAND: VERWEIGERUNG DER TEILNAHME AN DER ZEREMONIE, DIE VON DER KOMMUNE UND VOM FESTIVAL „SABIR“ ORGANISIERT WIRD.
Anlässlich
des Jahrestages des Schiffbruchs vom 3. Oktober 2013, der den Tod von
368 Personen verursacht hat, VERWEIGERE ICH, der unterzeichnende Vito
Fiorino, persönlich und im Namen von sieben Personen, die sich mit mir
bei der Rettung von 47 Menschenleben an Bord meines Schiffes engagiert
haben, AUSDRÜCKLICH, die Teilnahme an irgendeiner Zeremonie, die von der
Kommune Lampedusa organisiert wird.
Kurz
nach dem Unglück im vergangenen Jahr bis heute sind wir von der ersten
Bürgerin Giusi Nicolini weder zu Rate gezogen noch angehört worden. Als
Antwort auf die Einladungen, die vom Bürgermeister und vom Komitee 3.
Oktober verschickt wurden, drücke ich daher unsere Weigerung aus, an
solchen Veranstaltungen teilzunehmen. Diese Weigerung, die sich gegen
die Institutionen richtet, ist motiviert durch die nicht vorhandene
Berücksichtigung durch die Kommune Lampedusa, repräsentiert durch die
Bürgermeisterin Giusi Nicolini, eine Berücksichtigung, die wir
selbstverständlich erwartet haben, die aber nie stattgefunden hat. Diese
Weigerung wendet sich nur gegen die Institutionen, in vollem Respekt
vor den Opfern, den Überlebenden und ihren Familien. Wir ziehen es vor,
bei unserem Schweigen zu bleiben und hätten es vorgezogen, wenn auch die
Institutionen dabei geblieben wären; ein Schweigen, das sie seit dem
Tag der Tragödie für 12 Monate beibehalten haben und das jetzt von
Veranstaltungen zerstört wird, die auf ein Schauspiel abzielen,
medienwirksam instrumentalisiert, vom unnützen und kostspieligen
Aufmarsch der Politiker*innen ganz zu schweigen. Unser Gedenken bleibt
privat, so wie es seit dem Tag der Tragödie bis heute war.
Hochachtungsvoll
Vito
Fiorino , Grazia Migliosini , Linda Barrocci, Marcello Nizza,
Alessandro Marino, Anna Bonaccorso, Rosaria Racioppi, Carmine Menna.[18]
Immer
noch in jenen Tagen des Jahres 2014 hat Valerio Cataldi zwei der Helfer
wegen verbaler Gewalt anzeigt. Hier das, was Alessandro Marino, einer
der angezeigten Helfer, dazu schreibt:
Die
Geschichte beginnt in der tragischen Nacht des 3. Oktobers 2013. Wir
befanden uns mit unserem Boot bei dem größten Schiffbruch, der sich auf
dem Mittelmeer ereignet hat. Ich, Alessandro Marino, stand am Ruder
unseres Bootes Gamar und war einer der ersten, der mittels VHF bei der
Hafenbehörde von Lampedusa um Hilfe angerufen hat, ein Anruf, der nach
dem Gesetz von der Hafenmeisterei aufgenommen wird, wenn es einen
Notfall gibt. Die Details jener Anrufe sind von der Magistratur in die
Untersuchung einbezogen worden und folglich wichtige Beweise. Auf
irgendeine Weise gelang es dem RAI-Journalisten Valerio Cataldi, in den
Besitz der Aufnahme dieses Tages durch die Hafenbehörde auf Lampedusa zu
kommen. Er brachte einige Rai-Sendungen mit meiner Stimme zur
Übertragung, machte eine partielle Rekonstruktion und manipulierte so
die wahre Geschichte. Niemals und unter keinen Umständen hat Cataldi die
Zusage der Augenzeugen in einer so wichtigen Sache eingeholt und
niemals haben wir Kontakt zu Cataldi gehabt, der in der Zwischenzeit das
Komitee 3. Oktober gegründet hat; auch dieses Komitee hat niemals mit
uns gesprochen, weder zur Klarstellung noch um die Wahrheit über diesen
traurigen Tag zu erfahren. Ich persönlich kann seit dem Tag, an dem ich
meine Stimme gehört habe, nicht mehr schlafen und leide an Depressionen;
ich kann es nicht mehr ertragen, meine Stimme zu hören, die Cataldi in
mehreren RAI-Sendungen benutzt hat, unter denen speziell von TG2:
Standpunkt vom 29.11.2013 und um eine Dokumentation zu beenden (Zum
ersten Mal Schnee), in der man immer meine Stimme hört. Ich habe nie
irgendeine Zustimmung dazu gegeben, meine Stimme zu benutzen, weder an
Cataldi noch an RAI. Und vor allem: Die Aufnahmen müssten Beweise sein
zur Prüfung des Gerichts, aber Cataldi nutzt sie, um Gewinn damit zu
machen. Am 3. Oktober 2014, während einer Demonstration, habe ich mit
Cataldi gesprochen und ihn gebeten, meine Stimme nicht mehr zu benutzen
und dass ich ihn anzeigen würde; die Diskussion war aufgeregt und wir
schrien alle wegen unserer Rechte, die uns abgesprochen wurden und wegen
der journalistischen Manipulationen von RAI, die den Friedhof der
Schiffe als Kinofilmset nutzen wollte; ein heiliger Ort für alle, der
Respekt verdient. Auch von Cataldi flogen die Beleidigungen; er sagte
mir, dass ihn unsere Zeugenaussagen nicht interessierten und er könne
wegen des Rechts auf Nachrichten übertragen, was er wolle. Auch an jenem
3. Oktober 2014 hörte ich wieder meine Stimme auf Tg2. Ich fühlte noch
einmal meine Privatsphäre verletzt… wer sollte uns schützen? ... Auf Tg2
beschrieben sie uns als Straftäter und Schüler der selbstverwalteten
Sozialzentren. Am nächsten Tag, den 4. Oktober 2014, war ich mit
Freunden bei einer anderen Kundgebung, und wir sprachen unter uns über
einige Journalist*innen, und ich habe sie als Stück Scheiße bezeichnet;
Cataldi, der sich zusammen mit einem Kameramann in der Nähe befand,
drehte sich um und schickte uns mit dem Mittelfinger dahin wo der
Pfeffer wächst. Dann ging er zu den Carabinieri und zeigte uns wegen
verbaler Gewalt an. Am folgenden Tag sahen wir die Nachricht auf
mehreren Online-Tageszeitungen; ganz eindeutig nutzte Cataldi seine
Macht als Journalist, um uns als Aggressor*innen zu bezeichnen, uns, die
wir Pazifist*innen sind und nationale und internationale Preise für den
Frieden bekommen haben; wir könnten überhaupt nicht daran denken,
Cataldi anzugreifen. Wir fühlen uns beleidigt und sind entrüstet über
seine Worte und seine Anzeige, die noch zu beweisen ist; im Gegenteil,
es gibt zig Zeug*innen, die die Fakten bestätigen. Oder hat er uns
vielleicht angezeigt, weil er Angst vor meinen Erklärungen hat?
Die
Helfer werden zu Aggressor*innen, die Militärs hochgejubelt zu
Menschenretter*innen, die politisch Verantwortlichen führen sich auf als
diejenigen, die die Probleme in den Griff bekommen, die sie in
Wirklichkeit selber mit geschaffen haben.
IV So viel Geld
Es
gibt die ECHO (Europäische Kommission für humanitäre Hilfe und
Zivilschutz), die Generaldirektion der Europäischen Kommission für die
humanitäre Hilfe und den Zivilschutz. Sie wurde geschaffen, um dazu
beizutragen, menschliches Leben zu retten und zu schützen, das Leiden zu
verringern und die Integrität und die Würde der Menschen zu schützen.
Sie verteilt Zelte und Decken und andere Dinge des Grundbedarfs, wie
Essen, Medikamente, medizinische Ausrüstung, Wasseraufbereitungsanlagen
und Brennmaterial. Sie finanziert Ärzt*iinnen-Teams und gibt
Unterstützung beim Transport und bei der Logistik (Aktivitäten, die
perfekt passen zu der aktuellen Situation der Migration). ECHO verfügt
über ein Jahresbudget von 1,3 Milliarden Euro. Mittel aus diesem Fond
werden aber ausgegeben für Gehälter, Erwerb von Dienstleistungen, Mieten
für Hochhäuser und verschiedene Niederlassungen. Dann gibt es das
europäische Programm SOLID – Solidarität und Steuerung der
Flüchtlingsströme, verwaltet von der Direktion für allgemeine innere
Angelegenheiten der europäischen Kommission. Es verfügt über ein Budget
von insgesamt 4 Milliarden Euro (vermutlich nicht die finale Summe, da
eine Fortschreibung des Programmes bis 2015 beschlossen wurde). Für
Italien wird es vom Innenministerium über vier Töpfe verwaltet:
Integration von Bürger*innen aus Drittländern, Geflüchtete,
Rückführungen, äußere Grenzen. Dazu kommt Frontex, „die europäische
Agentur für die Verwaltung der internationalen Zusammenarbeit der
Staaten der europäischen Union an den Außengrenzen“, mit einem Budget
von 115 Millionen Euro für 2015 – von denen aber 40 Millionen in die
Ausgaben für Verwaltung gehen, die Miete von 5 Millionen Euro für ein
Hochhaus in Warschau inbegriffen und 615.000 Euro für „nicht-operative
Besprechungen“ (sic!). Und dann noch EASO, das Europa-Büro zur
Unterstützung in Asylfragen, von dem man, wie es scheint, nur die
Betriebskosten von gut 10 Millionen Euro kennt. [19]
Zu
diesen Fonds kommen noch die Gelder, die vom italienischen Staat zur
Verfügung gestellt werden: Für 2015 werden die Kosten für die Verwaltung
der Migration auf 3,3 Milliarden Euro geschätzt, davon 3 Milliarden für
die laufenden Ausgaben. 50% der Ausgaben betreffen die „Aufnahme“,
während 20%-30% für die Rettung auf dem Meer bereitstehen – 2014 sind
die Kosten verdoppelt worden im Vergleich zum Zeitraum 2011-2013 und
2015 waren sie dreimal so hoch.
Gerade
im Jahr 2013 lief die EU-Finanzierungsperiode 2007-2013 aus und man
musste die neue Zuweisungsphase der Finanzen 2014-2020 eröffnen. Am 2.
Oktober 2013 lehnte der einstimmig angenommene Bericht der Kommission
für Migration der Parlamentsversammlung des Europarates die
Migrationspolitik des italienischen Staates ab und definierte sie als
„verfehlt oder kontraproduktiv“. Italien wurde für den fortdauernden
Ausnahmezustand kritisiert, der damit erklärt wurde, „außerordentliche
Maßnahmen anzuwenden, die über die Grenzen nationaler und
internationaler Gesetze hinausgehen“. Es wurde sogar behauptet, dass
einige der von den italienischen Behörden getroffenen Entscheidungen es
„riskierten, das Vertrauen in die gesetzliche Ordnung Europas und in das
Dublin-Abkommen“ zu untergraben. Am nächsten Tag hatte niemand mehr
Zweifel daran. Nach dem Massensterben vom 3. Oktober traten alle
europäische Staaten, was die Migrationspolitik angeht, für Italien ein.
Das ging soweit, dass für das Finanzierungsprogramm 2014-2020 an Italien
weitere 500 Millionen Euro gingen, von einer Gesamtsumme von 3,1
Milliarden aus den Mitteln für Asyl, Migration und Integration (AMIF).
Italien ist der größte Nutznießer europäischer Gelder für den Kampf
gegen die irreguläre Migration und für die Immigration.
Es gibt zwei Positionen zur Finanzierung:
• AMIF
(Der Fond für Asyl, Migration und Integration), der in 7 Jahren an die
Mitgliedsstaaten 3 Milliarden 137 Millionen Euro verteilt hat, für Asyl
und begleitete Rückführungen (310 Millionen Euro für Italien);
• ISF (Der Fond für Innere Sicherheit), an den in 7 Jahren insgesamt 3,8 Milliarden Euro gingen (212 Millionen Euro für Italien)
Darüber
hinaus wurden 872 Millionen Euro eingerechnet, bestimmt für die Lager
für syrische Geflüchtete und angrenzende Länder, die oft von NGOs und
Agenturen der UNO verwaltet werden. Enorme Geldsummen, an deren Umlauf
das internationale Kapital, die Institutionen, die Mafia und die
Betreiber von Zentren für Migrant*innen beteiligt sind.
Es
gibt eine Interessengruppe, die von der Flüchtlingskrise profitiert und
im Besonderen von den Investitionen der Europäischen Union zum „Schutz“
der Grenzen. Es sind die Firmen im Militärsektor und in der Sicherheit,
die die Grenztruppen mit Systemen und Ausrüstung versorgen,
Überwachungstechnologie, um die Grenzen zu kontrollieren und
Informatik-Infrastruktur, um die Migrationsbewegungen zu überwachen. […]
Die Hauptprofiteure der Verträge zur Sicherheit der Grenzen sind die
gleichen wie die Produzenten und Verkäufer von Waffen an Länder des
Mittleren Ostens und Nordafrika: Waffen, die die Konflikte unterhalten,
vor denen die Geflüchteten fliehen. Zusammengefasst: Die Firmen, die die
Krise entflammen, sind diejenigen, die den größten Profit daraus
ziehen. Diesen Firmen wird von den europäischen Regierungen unter die
Arme gegriffen, die ihnen die Lizenz zum Waffenexport zugebilligt haben
und die ihnen dann Verträge zur Sicherheit der Grenzen gewährt haben.
Ihre Aktionen sind im Zusammenhang mit der immer militärischer
ausfallenden Antwort der EU auf die Flüchtlingskrise zu sehen.
Mit
dem Aushängeschild „Kampf der illegalen Immigration“ sieht die
Europäische Kommission vor, die Agentur für die Sicherheit der Grenzen,
Frontex, in eine schlagkräftigere „Wache für die Küste und die
europäischen Grenzen“ (European Border and Coast Guard - EBCG)
umzubauen. Das würde die Kontrolle der Sicherheitsaktivitäten an den
Grenzen der europäischen Staaten und eine aktivere Rolle als Grenzschutz
erlauben, den Kauf eigener Ausrüstung inbegriffen. Die Agentur wird
unterstützt von Eurosur, einem europäischen System, das die
Mitgliedsstaaten und die übrigen Staaten für die Kontrolle und
Überwachung der Grenzen miteinander verbindet. Die Militarisierung der
Sicherheit der Grenzen zeigt sich auch in den militärischen Zielen „der
Seestreitkräfte der EU – Mittelmeer-Operation Sophia“ (EUNAVFOR MED),
wie auch in den Militär-Einsätzen an vielen Grenzen, darunter Ungarn,
Kroatien, Mazedonien und Slowenien. Die Nato-Marine-Missionen im
Mittelmeer unterstützen schon aktiv die Sicherheit der Grenzen der EU
[20]
Aus
einem kürzlich erschienenen Bericht zum Thema gehen einige Daten
hervor, von denen wir glauben, dass sie von bemerkenswertem Interesse
sind:
Der
Markt für die Grenzsicherheit ist in voller Expansion. Geschätzt auf
ca. 15 Milliarden Euro im Jahr 2015, ist voraussehbar, dass er bis zum
Jahr 2022 jährlich um mehr als 29 Millionen Euro steigen wird.
Auch
der Waffenexport, insbesondere der Verkauf im Mittleren Osten und in
Nordafrika, von wo aus der größte Teil der Geflüchtete flieht, befindet
sich in voller Expansion. Der Export von Militärsystemen in den
Mittleren Osten ist zwischen 2006-2010 und 2011-2015 um 61% gestiegen.
Zwischen 2005 und 2014 haben die Staaten der EU Exportlizenzen für den
Export von Waffensystemen in den Mittleren Osten und nach Nordafrika im
Wert von über 82 Milliarden Euro erteilt.
Die
europäische Politik für die Geflüchteten, die sich darauf konzentriert,
die Schleuser zu bekämpfen und die Außengrenzen zu stärken (auch in
Ländern außerhalb der EU) hat zu einer stattlichen Steigerung der Bilanz
beigetragen, von der die Firmen dieser Sparte profitieren.
• Die
Gesamtfinanzierung der EU für Maßnahmen der Sicherung der Grenzen quer
durch alle Programme beläuft sich auf 4,5 Milliarden Euro zwischen 2004
und 2020.
• Die
Bilanz von Frontex, die Hauptfirma der EU-Grenzkontrolle ist zwischen
2005 und 2016 um 3688% gestiegen (von 6,3 Millionen auf 238,7 Millionen
Euro)
• An
die neuen EU-Staaten sind als Aufnahmebedingung politische Forderungen
gestellt worden, die Grenzen zu stärken, und so einen Markt für mehr
Profit zu schaffen. Das mit Haushaltsmitteln des Fonds angeschaffte oder
erneuerte Material umfasst 545 Überwachungssysteme für die
Außengrenzen, 22.347 Systeme für die Überwachung der Grenzen und 212.881
operative Systeme für die Kontrollen an den Grenzen;
• Einige
der Exportgenehmigungen in den Mittleren Osten und nach Nordafrika
betreffen die Grenzkontrollen. Im Jahr 2015 z.B. hat die niederländische
Regierung der Thales Netherland eine Lizenz für den Export im Wert von
34 Millionen Euro erteilt, bestimmt für die Ausrüstung Ägyptens mit
Radar- und C3-Systemen, trotz der wiederholten Klagen über
Menschenrechtsverletzungen in diesem Land.
Die
europäische Industrie zur Sicherheit der Grenzen wird dominiert von
großen Firmen, deren Ziel die Produktion von Militärsystemen ist. Alle
haben einen Sektor für Sicherheitsprodukte und Beziehungen zu
verschiedenen kleinen, spezialisierten Firmen auf dem Gebiet der
Informationstechnologie aufgebaut oder erweitert. Finmeccanica, der
Koloss in der Waffenindustrie, hat „ die Kontrolle der Grenzen und die
Sicherheitssysteme“ als einen Hauptantreiber für das Wachstum der
Aufträge und des Verkaufserlöses ausgemacht.
Die
großen Spieler um die Sicherheit der Grenzen Europas sind Produzenten
von Militärsystemen wie Airbus, Finmeccanica, Thales und Safran, und der
Technologiegigant Indra. Finmeccanica und Airbus sind die Gewinner der
Verträge mit der EU, die besonders wichtig sind im Blick auf die
Stärkung der Grenzkontrollen. Airbus ist auch Gewinner der größten
Verträge mit der EU zur Finanzierung der Forschung auf dem Gebiet der
Sicherheit.
Finmeccanica,
Thales und Airbus, Protagonisten auf dem Gebiet der Sicherheit der EU,
sind auch drei der ersten vier Produzenten und Exporteure von
europäischen Militärsystemen und Versorger des Mittleren Ostens und
Nordafrikas mit Militärsystemen. Ihre Gesamtgewinne im Jahr 2015 lagen
bei 95 Milliarden Euro.
Unter
den nichteuropäischen Firmen, die Finanzierungen für die Forschung
erhalten haben, sind nur einige aus Israel: Das wird durch einen Vertrag
zwischen der EU und Israel aus dem Jahr 1996 ermöglicht. Diese Firmen
haben bei der Verstärkung der Grenzen Ungarns und Bulgariens eine Rolle
gespielt; sie haben ihr Knowhow eingesetzt, welches sie durch die
Erfahrungen mit der Trennmauer in Jordanien und der Grenze zwischen Gaza
und Ägypten erworben haben. Die israelische Firma BTec Electronic
Security Systems wurde von Frontex ausgewählt, um an einem Workshop
teilzunehmen, der im April 2014 unter dem Titel „Sensoren und
Plattformen der Grenzüberwachung“ stattfand. Die Firma prahlte in ihrer
Bewerbung per E-Mail damit, dass ihre „Technologie, Lösungen und
Produkte an der israelisch-palästinensischen Grenze installiert sind“.
Die
Waffen- und Sicherheitsindustrie hat einen Beitrag dazu geleistet, die
europäische Politik der Grenzsicherheit zu definieren, durch
Lobbyaktivitäten und durch die gewohnten Interaktionen mit den
europäischen Institutionen für die Grenzen und auch, indem sie die
Forschungspolitik mitprägt. Die europäische Organisation für Sicherheit
(EOS), zu der Thales, Finmeccanica und Airbus gehören, hat Druck
ausgeübt für eine größere Sicherheit der Grenzen. Darüber hinaus sind
viele ihrer Vorschläge, wie zum Beispiel der Vorstoß, eine europäische
Agentur für die Grenzsicherheit einzurichten, europäische Politik
geworden: Das ist der Fall bei der Umformung von Frontex in einen
„Schutz der europäischen Küste und Grenze“ (European Border and Coast
Guard – EBCG). Schließlich garantieren die zweijährliche Tagung von
Frontex/EBCG, ihre Teilnahme am runden Tisch zum Thema Sicherheit und an
Messen, die militärischen Systemen und der Sicherheit gewidmet sind,
eine regelmäßige Kommunikation und eine natürliche Affinität mit der
Kooperation.
Die
Waffen- und Sicherheitsindustrie hat auch einen Großteil der
Finanzierung von 316 Millionen Euro erhalten, die von der EU für die
Forschung in Sachen Sicherheit bereitgestellt worden sind. Denn sie hat
dazu beigetragen, die Agenda für die Forschung und ihre Realisierung zu
definieren; als Konsequenz profitiert sie oft von Verträgen, die daraus
hervorgehen. Seit 2002 hat die EU 56 Projekte auf dem Gebiet der
Sicherheit und der Grenzkontrolle finanziert.
Insgesamt
zeigen die Fakten eine wachsende Konvergenz zwischen den Interessen der
Führer europäischer Politik, die versuchen, die Grenzen zu
militarisieren und den Hauptfirmen auf dem Gebiet der Verteidigung und
der Sicherheit, die ihre Dienste anbieten. [21]
„Agir
pour la paix“ hat kürzlich eine Lobby-Tour organisiert und dabei die
Beziehung zwischen der Waffen- und Sicherheitsindustrie und der
Migrationspolitik in den Mittelpunkt gestellt. Eine Tour, auf der die
Nähe, auch physisch, zwischen den Produzenten von Waffen und
Sicherheitstechnologien und den europäischen Institutionen aufgezeigt
wurde.
In
der Nummer 11 des Kreisverkehrs Schuman, zum Beispiel, hat das Büro des
europäischen Konsortiums der Produzenten von Raketen MDBA seinen Sitz.
[…] MBDA ist ein joint-venture zwischen Finmeccanica Leonardo, der
britischen Firma BAE-Systems und der deutsch-französischen Gruppe
Airbus, den drei Produzenten, die gemeinsam mit Thales den größten
Profit aus der Stärkung der Kontrollen an den europäischen Grenzen und
aus der Kooperation mit Drittländern ziehen, um so die „Unerwünschten“
auf ihrem Weg nach Europa zu blockieren [...]. Die Konvergenzen zwischen
den Firmen dieses Sektors und europäischen Institutionen kommen nicht
nur dank der Lobbyarbeit zustande, der man den Verdienst zuerkennen
muss, dass sie sich als das präsentiert, was sie tatsächlich ist: Lobbys
sind Gruppen die Druck ausüben und Interessen eines bestimmten Sektors
verteidigen (auf mehr oder weniger korrekte Art und Weise, aber das ist
ein anderes Thema). Viel zweideutiger ist die Rolle anderer
Gegebenheiten, die von Stephanie heraufbeschworen werden; so einige
Studienzentren oder Expertengruppen, die, weil sie zahlreiche
Repräsentanten der Industrie als Geschäftsführer oder Mitglieder zählen,
die europäischen Institutionen mit Ansichten und Empfehlungen versorgen
und sie als unparteiisch präsentieren. […] Der aktuell Verantwortliche
Finmeccanicas in Brüssel für die Beziehungen zu den Institutionen,
Massimo Baldinato, wurde 2015 angestellt; er hatte zuvor sechs Jahre im
Kabinett des damaligen Europakommissars für Industrie und
Unternehmertum, Antonio Tajani, gearbeitet. Die Drehtür-Fälle sind hier
nicht selten, aber wenn wir in Betracht ziehen, dass die
Hauptproduzenten der Sicherheitstechnik, Finmeccanica, die einzigen
sind, die einen Repräsentanten haben, der aus den europäischen
Institutionen hervorgegangen ist. Für den beruflichen Werdegang
Baldinatos hat sich auch Corporate Europe Observatory interessiert, die
seit Jahren die Laxheit der Kommission gegenüber solchen Fällen beklagt
[…]. Als Stéphanie das Ende der Führung ankündigt, ist die Stimmung, die
unter den Teilnehmern herrscht, eher entmutigt. „Die Migrant*innen sind
das Brennmaterial der Sicherheitsindustrie“, fasst sie zusammen. Es ist
nicht so sehr die Skrupellosigkeit der Produzenten, die schockiert,
sondern die Mitwisserschaft der europäischen Institutionen: Der
Europarat, durch den die Regierungen die Interessen der nationalen
Unternehmen verteidigen und die von Juncker geleitete Kommission, die
noch nicht den Kampf mit (fast) allen Mitteln gegen die sogenannte
illegale Immigration eröffnet hat, hat daraus einen Kernpunkt seiner
Migrationsagenda gemacht. [22]
Es
ist gut, sich zu erinnern, dass die militärischen Geräte, die mithilfe
der humanitären Rhetorik der „Rettungen auf dem Wasser“ gekauft werden
und die Militarisierung der Grenzen jene militärischen Apparate gestärkt
haben, die sich unter in Vorbereitung auf eine totale Konfrontation
reorganisieren, und dass diese militärischen Mittel für Operationen des
militärischen Angriffs sehr oft gebraucht werden. In diesem Zusammenhang
erinnern wir daran, dass Ende 2015 das amerikanische State Department
der 2012 gestellten Anfrage Italiens zugestimmt hat, zwei seiner Drohnen
MQ-9 Reaper mit Luft-Boden-Raketen vom Typ Hellfire auszurüsten,
lasergeführten Bomben und anderer Munition. Ein Vertrag über 129,6
Millionen Dollar. Nur die USA und England besitzen als Ausrüstung diese
Waffen. Übrigens ist die italienische Luftwaffe die erste alliierte
Luftstreitmacht, die 2001 die USA-Predator geordert hat, die im
Kosovokonflikt 1999 eine Hauptrolle gespielt haben. Es ist eine
Nachricht vom 14. April 2016, dass „das Amphibienschiff, beschrieben als
Unterstützung bei der Rettung von Migrant*innen (844 Millionen) sich
als Kriegsschiff für die F35 (1,1 Milliarden) entpuppt hat“ und dass von
den Parlamentarier*innen gefordert wurde, die gigantische Zahlung von
5,4 Milliarden Euro im Winter 2014/15 bereitzustellen; wie aus
Dokumenten hervorgeht, gaben Marine und Verteidigung zu jener Zeit Teil-
oder verdrehte Informationen über die wahre Natur und die wahre
Dimension des Programms heraus. Man sprach von einem preisgünstigen
Marineschiff mit „doppelter Gebrauchsmöglichkeit“, für Aufgaben
humanitärer Hilfe und des Zivilschutzes; und man verschwieg Daten und
technische Eigenschaften, die die wahren Absichten der Militärs
aufgedeckt hätten. Man plante mit niedrigeren Kosten gegenüber jenen der
vereinbarten Verträge nach dem OK des Parlaments. [23]
V Die Bühne von Lampedusa
Das Spektakel um die Grenze und die Grenzen des Spektakels
Die
Vorstellungswelt reflektiert nicht die Praxis, sondern, im Gegenteil,
sie hat Teil an dieser Praxis als Element, dass sie konstituiert.
(Pierre Ansart)
Am
9. November 1973 publizierte Paolo Pasolini im „Corriere de la Sera“
einen Artikel mit dem Titel „Akkulturation“, ein kultureller
Anpassungsprozess, bei dem er die komplette Verflachung der
italienischen Gesellschaft unter dem Einfluss der neuen
Kommunikationsmittel und dem von ihnen propagierten Konsumverhalten
vorhersah. Noch vorher beschrieb Guy Debord 1967 in seinem Buch „Die
Gesellschaft des Spektakels“ eine Gesellschaft, in der sich das Kapital
als Schauspiel ausdrückt und darin Gestalt gewinnt. Dieses
„auf-den-Kopf-stellen“ des Wirklichen wurde bereits durch das System der
Produktion und des Handels hervorgerufen: Die Ware selber bekam einen
Handelswert, der ihren Gebrauchswert übersteigt, er zieht an ihm vorbei
und bewirkt so, dass er das Wirkliche selbst übersteigt.
Damit
der Handel stattfinden kann, ist es notwendig, dass der Wert jeder Ware
in einer anderen Ware abgebildet wird, und dann, bei steigendem Wert,
dass der Wert jeder Ware in einer unbegrenzten Serie anderer,
gleichwertiger Waren abgebildet wird. Das will sagen, dass der Handel,
was die effektive Praxis angeht, eine bestimmte Organisation der
Vorstellungen voraussetzt; die Waren erscheinen nicht mehr als ein
unmittelbarer Qualitäts- und Gebrauchswert; sie verwandeln sich in
Objekte einer neuen Wahrnehmung und werden durch den Produzenten und
Händler zu einem Bild oder einem Ausdruck dessen, was sie nicht sind.
[24]
Wenn
in der Lohnarbeit die Produktion der Ware stattfindet und die
Ausbeutung, mit der sie den Mehrwert herauszieht, geht die Ware nach der
Arbeit in einen anderen Moment des Fließbandes über, der Illusion, vor
einem Bildschirm im wirklichen Leben zu „sein“. Seit den sechziger
Jahren bis heute haben die Kommunikationsmittel und neuen Technologien
diesen Prozess bis zu einem Punkt geführt, an dem es kein Zurück mehr
gibt. Parallel zu diesem Prozess der totalen „Überführung ins
Spektakel“, treten die realen Widersprüche hervor und verstärken sich
aus an den neuzeitlichen Grenzen: Militarisierte Orte, in denen man das
„Spektakel der Grenze“ in Szene setzt, dass wieder einmal „die
Wirklichkeit auf den Kopf stellt“ , ihre Transformation in eine
virtuelle Wirklichkeit zum Gebrauch und Verbrauch durch die
Konsument*innen-Zuschauer*innen. Massen von Personen, oft auf der Flucht
vor dem Krieg und dem Krieg des Kapitals, werden zu einem Heer von
Reservearbeiter*innenn, medial umgedreht, umgestaltet, neu definiert,
kriminalisiert und benutzt, die große „europäische Angst“ und die
Sicherheitspolitik zu schüren; oder sie können, mit einer doppelten
Verrenkung, zu Massen „armer Schlucker*innen“ werden“, die man retten
muss, sogar mit Militärschiffen und Drohnen der neuesten Generation.
Ein doppeltes Schema, das weiterhin reproduziert wird
1) Erstes Schema: Illegale Geflüchtete; Terroristen; Schlechte; Invasoren; Diebe; etc. etc.
Diese
Darstellung und Vorstellung kriminalisiert und stigmatisiert die Person
des Immigranten / der Immigrantin im gleichen Augenblick, indem man
diese Vorstellung bildet.
Wie Nicholas De Genova gut erklärt:
Die
Migrant*innen werden „Illegale“ nur, wenn die Maßnahmen, legislative
oder exekutive, spezifische Arten oder Typen von Migration für „illegal“
erklären – oder in anderen Worten: sie „illegalisieren“. Von diesem
Standpunkt aus, sind sie nicht wirklich „illegale“ Migrant*innen,
sondern eher zu Illegalen gemachte Migrant*innen. [25]
2.)
Zweites Schema: Der arme Schlucker, der arme Migrant, die arme
Migrantin; ein verlassener Mensch, der migriert aus Gründen des Klimas,
Naturkatastrophen, wegen eines höhnischen Schicksals, wegen einer nicht
näher definierten menschlichen Boshaftigkeit etc. etc.
In
dieser anderen Vorstellung sehen wir einen Körper, der auf eine
exklusiv biologische Verfassung reduziert ist, beraubt seiner
politischen und geschichtlichen Dimension. Eine "humanitäre“
Vorstellung, die aus den „armen Migrant*innen“ einen tierischen Leib
macht, unterernährt, unterkühlt, Instand zu setzen, den Durst zu
stillen. Das „naturalistische / animalistische“ Element verbindet sich
mit dem „humanitären“, das heißt verbunden mit einem Recht, das
herausgerissen ist aus der Wirklichkeit und aus der Eigentümlichkeit der
Subjekte, die in einen kollektiven und historischen Prozess eingefügt
sind. Ein Recht, das gegründet ist auf eine abstrakte Universalität und
auf eine Unveränderlichkeit der Bedürfnisse, die immer die Gesellschaft
der „Retter“ definiert und normiert.
In
beiden Darstellungen und Vorstellungen finden die Worte der direkt
Betroffenen keinen Raum; und beiden Darstellungen/Vorstellungen folgen
die gleichen Antworten und die gleiche Politik: Militarisierung der
Grenzen, Ausnahmezustand, Zentren, in denen die Migrant*innen
weggesperrt werden und folglich die Kommerzialisierung ihrer Körper,
Voranstellung militärischer Strategien „der Rettung“ vor humanitären,
Umwälzung der örtlichen Gemeinschaften, überfahren von der „Verwaltung
der Migration“, Schaffung einer Heeres von ausbeutbaren Arbeiter*innen
ohne Rechte.
Beide
Paradigmen im Blick Migration werden als Faktum dargestellt, etwas was
so ist, naturgegeben. Wir wissen nicht, warum sie erzeugt wurden, welche
historische Dimension sie haben sollen und warum diese Personen nicht
so reisen können wie wir. Das ökonomische System des Kapitalismus
entwickelt sich durch die Ausbeutung großer Flächen des Planeten und
großer Massen von Arbeiter*innen*innenn und hat eine seiner
Ursprungs-Prämissen in der Akkumulation, die in den Kolonien
stattgefunden hat. Kriege, Ausplünderungen, Sklaverei, Ausrottungen,
Konzentrationslager waren die Praxis der europäischen Staaten gegenüber
den Kolonien seit dem XV. Jahrhundert und haben „das Ambiente“ der
Emigrationsländer geschaffen. Der Profit als letztes Ziel jeder
menschlichen Aktivität ist die Religion unserer Zeit geworden und die
Kommunikationsmittel werden mächtige Orakel, die in der Lage sind, die
göttliche Wahrheit zu vermitteln.
Lampedusa
ist eins der Schlüsselworte im zeitgenössischen Diskurs geworden, ein
multifunktionales Instrument in der Hand der herrschenden Macht:
Medienwirksame Bühne, militärischer Vorposten, Ort für soziale
Experimente, Ort, um den fortdauernden Notstand zu schaffen und in Szene
zu setzen, „Tür zu Europa“, Insel der Abschiebungen oder Symbol für die
Aufnahme und die Menschenrechte, „moralische Hauptstadt des
Mittelmeeres“, „wichtige emotionale Szenerie“.
Der
beherrschende Diskurs, einmal strukturiert, wird quasi automatisiert
und von dem oft wiederholten Diskurs wird man aufgesaugt. Es gibt viele
Beispiele über Lampedusa, die sich, ausgehend von einer vorgefassten
Vorstellungswelt, die funktional ist zu den imperialistischen Prozessen
(Krieg, Anhäufung des Kapitals, Ausbeutung) multiplizieren und
reproduzieren. Man betrachtet nicht mehr eine Wirklichkeit, die immer
dialektisch ist und die im Fall von Lampedusa äußerst komplex ist,
sondern man bewegt sich unkritisch von einer vorgegebenen Darstellung
und Vorstellung aus.
In
anderer Form ist es das, was in der Malerei des XVI. Jahrhunderts, dem
Manierismus geschehen ist. Mit dem Unterschied, dass Vasari sich an die
Künstler seiner Zeit wandte und vorschlug von Michelangelo, Raffaello
und Leonardo auszugehen, von ihrer Interpretation der Natur, um sich die
„schöne Art“ anzueignen. In unserem Fall sind es natürlich andere
geeignete Modelle und andere Ergebnisse, die man erhält. Es ist der
Konstruktionsprozess des Wissen zum Nutzen des Kolonialisten,
beschrieben von Edward Said in „Orientalismus“, das man sich als Modell
hernehmen kann, um das Werk der Mystifikation Lampedusas zu lesen.
Versuchen
wir also zu verstehen, welchen Typ von Bildern man von Lampedusa
konstruiert hat, auf stärkere Art und Weise seit 2013 (zuerst mit dem
Besuch des Papstes und dann mit dem Massensterben vom 3. Oktober und den
Vorstellungen, die daraus hervorgesprudelt sind) bis heute.
• Die
Menschen von Lampedusa: Held*innen, gastfreundlich und bereit, ihr
Leben für die Rettung zu riskieren und Migrant*innen freundlich
aufzunehmen;
• Militär und Ordnungskräfte, die Menschenleben aus dem Meer retten;
• Die NGOs und die humanitären Vereine, die Lampedusa überwachen, um die Menschenrechte für die Migrant*innen zu garantieren;
• Das Aufnahmezentrum, das trotz der Schwierigkeiten ein Exportmodell für Europa ist;
• Die
Migrant*innen: Arme Schlucker*innen, die dem Krieg und dem Mangel
entkommen sind oder mögliche Terroristen, die zu identifizieren und zu
registrieren sind;
• Eine
Reihe von Definitionen für die Insel, die wiederholt werden: Tür zu
Europa, Moralische Hauptstadt des Mittelmeeres, Gewissen Europas, Insel
der Aufnahme, Insel der Anlandungen;
Zu diesem Bild passt eine Reihe von Botschaften, mehr oder weniger verhüllt, die wir jetzt zu entschleiern versuchen.
Beginnen wir mit einem Film für das Fernsehen, der vor kurzem von RAI ausgestrahlt wurde.
Der
leicht vorhersehbare Misserfolg der TV-Miniserie „Lampedusa“ ist das
Produkt einer Kette von Verantwortlichkeiten, die den Regisseur
Pontecorvo nur in letzter Instanz mit einbeziehen; er hat nicht einmal
das Drehbuch abgezeichnet, das von Andrea Purgatori zusammen mit Laura
Ippoliti geschrieben wurde.
Wir
befinden uns vor einem Megaengpass des Grundkonzeptes: Unwillkürlich
denkt man, dass die Ergebnisse auf der Ebene der
Darstellungs-/Vorstellungsweisen nur verheerend sein können: bestimmte
Orte unverzichtbare Optionen der Handlung und Inszenierung – der
Standpunkt, fast ausschließlich mit "bioitalienischem" Personal zu
besetzen, die systematische Asymmetrie zwischen individualisierten
Italiener*innen und Migrant*innen, reduziert aufs Klischee, Verwendung
der italienischen Sprache bei 99% der Dialoge. […]
Aber
es gibt noch einen anderen Aspekt in der Überlegung, die die
Anfertigung dieser Miniserie beherrscht hat und den ich entsetzlich
finde. Nicht nur, dass man zu verstehen gibt, dass der Großteil der
Zuschauer*innen von „Lampedusa“ in den letzten zehn Jahren in einer
gottverlassenen Einsiedelei gelebt haben, ohne je von dem gehört zu
haben, was tagtäglich auf einem Abschnitt des Mittelmeeres geschieht,
der Straße von Sizilien, die sich in einen wahren Friedhof verwandelt.
Man gibt sich auch friedlich gegenüber jenen, die hingegen eine gewisse
Kenntnis der Sache haben, wenngleich total verzerrt, da sie von zig
schlechten Informationen vergiftet wurden und von dem einzigen Gedanken,
der sich gegen die Anerkennung eines wesentlichen Menschenrechtes wie
dem der Bewegungsfreiheit richtet: Diese täglichen Massensterben
geschehen wegen eines, sicher schmerzlichen, Wettbewerbs der Umstände,
der aber zur Ordnung der Dinge hinzugehört. Bleibt Serra/Amendola im
Abspann zu sagen, dass man, bevor man urteilt, nach Lampedusa gekommen
und mit eigenen Augen gesehen haben muss; aber gerade der in der
Gesamtkonstruktion der fiktiven Serie gewählte Blickwinkel ist einer,
der die Migrant*innen behandelt, als seien sie „nur“ Migrant*innen und
als hätte keine und keiner von ihnen ein Herkunftsland, eine Geschichte,
ein anderes Ziel zu erreichen; und nicht einmal auf indirekte Weise
wird auf die kolossalen Interessen anspielt, die jeden Tag auf Kosten
dieser Menschen ausgespielt werden; man kann dem, der mehr wissen will,
auch sagen, dass es im Grunde nichts zu verstehen gibt, dass alles da
ist, dass die Realität der Sachen selbstevident ist, dass es reicht, die
Augen zu öffnen. [26]
Hier ein Artikel, der die TV-Serie vorstellt:
Lampedusa,
Fiktion der RAI, mit dem Hauptdarsteller Claudio Amendola, wird am 20.
und 21. September auf Sendung gehen, außer wenn es eine Programmänderung
des öffentlichen TV gibt. Die Handlung wird sich, wie es der Titel
nahelegt, um das Thema der illegalen Immigration drehen und sich in
besonderer Weise auf die konzentrieren, die die Migrant*innen
beherbergen (Küstenwache und Bewohner*innen*innen der Insel) und auf
die, die den Weg als erste verfolgen (Freiwillige,
Mitarbeiter*innen*innen im Gesundheitsbereich und öffentliche
Verwaltung). Claudio Amendola wird die Rolle von Serra übernehmen,
Verantwortlicher der Hafenbehörde, während Carolina Crescentini Viola
sein wird, die Verantwortliche des Aufnahmezentrums. Der Termin für die
Mini-Serie im Programm von RAI1 ist festgelegt auf Dienstag, den 20. Und
Mittwoch, den 21. September 2016 am frühen Abend. [27]
Im Licht dessen, was gesagt wurde, können wir einige Punkte entwickeln:
• Bei der Handlung des Filmes stehe, wie es der Titel nahelegt, die illegale Einwanderung im Mittelpunkt.
Der
Titel der Serie ist „Lampedusa“ und für den, der den Artikel schreibt,
ist die Insel automatisch mit dem Thema illegaler Immigration verbunden;
er vereinfacht die historische und politische Komplexität der Insel und
reduziert sie genau auf „die Insel der Anlandungen“.
• Man
konzentriert sich in besonderer Weise auf diejenigen, die die
Migrant*innen beherbergen (Küstenwache und Bewohner*innen*innen der
Insel). Der Film präsentiert als diejenigen, die die Migrant*innen
aufnehmen, die Bewohner*innen*innen der Insel und die Küstenwache. Eine
Behauptung, die keinerlei Anhaltspunkt in der Wirklichkeit hat, in der
die Migrant*innen im Hotspot weggeschlossen werden und denen es ab und
an gelingt, durch ein Loch in der Umzäunung dieses Gefängnisses
hinauszugehen. Die Küstenwache hatte nie die Aufgabe, Migrant*innen
aufzunehmen sondern allein die Rettung auf dem Meer; und die
Bewohner*innen haben nur in seltenen Ausnahmefällen Migrant*innen in
ihren Häuser willkommen geheißen. Unter anderem hat es in diesem Jahr,
in dem die Migrant*innen zum ersten Mal auch im Sommer aus dem Hotspot
gegangen sind (immer durch ein Loch in der Umzäunung), eine Reihe von
Klagen von Seiten einiger Verwalter von Tourismuseinrichtungen gegeben,
weil die Migrant*innen gemeinsam mit den Tourist*innen am Strand gebadet
haben (Klagen, die oft auch von einigen Tourist*innen erhoben wurden).
Unter anderem ist diese Frage bei einem Treffen mit dem Präfekten von
Agrigent diskutiert worden, während dessen einige
Tourismusbetreiber*innen der Insel verlangt haben, die Migrant*innen
nicht herauszulassen oder ihnen wenigsten zu verbieten, dass sie ihr Bad
am Strand nehmen.
• Über
die, die den Weg selbst mitverfolgen (Freiwillige,
Gesundheitsmitarbeiter*innen und öffentliche Verwaltung). Man versteht
nicht, von welchem Weg man spricht, da der Weg der Migrant*innen durch
politische Entscheidungen der EU und dem militärischen Apparat
vorgezeichnet und vorgefasst ist. Der Wirkungskreis dieser Personen ist
durch ihre organische Verbindung zur militärischen und politischen
Verwaltung der Migration und durch ihre Instrumentalisierung stark
begrenzt. Ausnahmen sind in diesem Rahmen äußerst selten, zum Beispiel
das Projekt Mediterranen Hope, das wir für positiv anders halten
als den Rest der unterschiedlichen Projekte, die einander in diesen
Jahren auf Lampedusa gefolgt sind, oder auch das Forum für Aufnahme.
Im Allgemeinen aber leisten fast alle Menschen, die in den
Migrationsapparat eingebunden sind, ihre Aktivitäten gegen Bezahlung.
Darüber hinaus folgt der ganze Weg für den Asylantrag oder für die
Arbeitssuche der Logik der Marginalisierung und der Schaffung von
Illegalität, die durch die von der EU angenommenen Gesetze geschaffen
wird, welche die Funktion hatten, die Schaffung des europäischen
Binnenmarktes zu erleichtern, das Kapitel in wenigen Händen zu
akkumulieren und die sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen
der Arbeiter*innen*innen zu zerstören. Ein Asylsuchender kann auch zwei
Jahre darauf warten, bevor er vor die Kommission geladen wird, die
beschließt, den Status eines Geflüchteten zuzuerkennen oder eben
weniger. In diesen Jahren des Wartens kann der / die Asylbeantragende
nicht arbeiten und ist gezwungen, sich vom Staat unterhalten zu lassen.
Diese Zeit und dieser Umgang sind für die Anwälte, die sich um die
politischen Asylsuchenden kümmern, ein Manna des Himmels. Wenn der
Antrag nicht akzeptiert wird, steht der Migrant / die Migrantin mit
einem Ausweisungsbescheid in der Hand allein da und fast immer geht er /
sie in die Schwarzarbeit, ohne Dokumente und ausgebeutet.
• Man
spricht von Aufnahmezentren, wo hingegen das Zentrum von Lampedusa seit
Jahren Formen angenommen hat, die in erster Linie Gefangenschaft und
erkennungsdienstliche Maßnahmen bedeuten.
Seit
Jahren werden die Verhältnisse im Zentrum für Migrant*innen auf
Lampedusa von verschiedenen Seiten angeprangert; aber diese Klagen
werden überdeckt durch das Besuchsspektakel von wichtigen Exponent*innen
des Staates, wie dem Präsidenten der Republik, Mattarella: Sein Besuch
im Zentrum für Migrant*innen auf Lampedusa wird in einem Video gezeigt;
es verbreitet davon ein Bild der Ruhe und Heiterkeit, der Sauberkeit und
Herzlichkeit.
Das Video vom Besuch des Präsidenten der Italienischen Republik, Sergio Mattarella, im Hotspot auf Lampedusa
Ein Video über die Bedingungen im Hotspot in der gleichen Zeit, publiziert von Askavusa
Mattarella
erklärte darüber hinaus, sich an das Militär wendend: „Sie sind Helden
des täglichen Lebens. Und dank Ihnen hat sich das Mittelmeer nicht in
ein großes Grab verwandelt.“
Diese
Behauptungen und Bilder werden gerade von den Darstellungen bestätigt
und verbreitet, die aus Lampedusa einen Film machen wie dem, der für RAI
im September auf Sendung gegangen ist, oder, auf noch geschicktere Art,
von Filmen wie Fuocoamare.
Am
10. Juni 2016 kam ausgerechnet Richard Gere, um das Drehbuch, das über
Lampedusa geschrieben wurde, zu bestätigen: „Ich bin erstaunt über das
familiäre Klima, das ich im Zentrum gefunden habe […] Gere hatte das
gleiche Menu wie die Bewohner*innen gegessen: Hühnchen mit Gemüse und
gewürzten weißen Reis.“ [28]
Der
Besuch von Gere wird angereichert durch eine Notiz, die ein Hinweis
darauf gibt, wie wichtig diese Besuche auch für die lokalen
„Darsteller*innen“ sind. Tatsächlich schrieb die Bürgermeisterin Giusi
Nicolini aus Anlass des Hollywood-Besuches einen Brief an den Präfekten
Morcone, um ihrer Enttäuschung Ausdruck zu verleihen: Nicht wegen der
Erklärungen Geres, der eine verzerrte Wirklichkeit im Blick auf den
Hotspot von Lampedusa beschrieb, sondern wegen der Tatsache, dass sie
nicht benachrichtigt worden war und den Schauspieler nicht hatte treffen
können. „Wenn man der Gemeinschaft nicht begegnet, hilft man der Insel
nicht“ [29], erklärte Nicolini.
Das gleiche Drehbuch war für den Besuch des Senatspräsidenten Grasso am 8. Juli 2016 gültig (hier eine Vertiefung);
er erklärte, dass „das Modell Hotspot von Lampedus exportiert werden
muss“, und rasselte die ganze Lampedusa-Rhetorik herunter: „Die
italienischen Bürger*innen müssen stolz auf das sein, was man auf
Lampedusa macht, auf das, was die Lampedusaner*innen, die Verwaltung,
die Ordnungskräfte für die Werte von Solidarität und Willkommen, an die
wir glauben, tun.“ [30]
Am
22. Juli 2016 aber erklärt Frederico Gelli (PD), Präsident der
Untersuchungskommission Migrant*innen: „Die Aufnahmeeinrichtung auf
Lampedusa hat sich als total ungeeignet erwiesen, mit einer dürftigen
Instandhaltung und einer Verwaltung, bei der man noch mal hinsehen muss,
ob sie in der Lage ist, dem Notfall Migrant*innen zum Besten zu
dienen.“ [31]
Nachdem der Film Fuoccoamare (hier eine Kritik des Films von uns)
in Berlin den goldenen Bären gewonnen hat, folgte ein Strom von
politischen Erklärungen und Spots, von denen wir nur ein paar
wiedergeben:
Boldrini, Laura, Präsidentin der Abgeordnetenkammer :
Der
Kunst gelingt es, ein wichtiges Thema ins Rampenlicht zu stellen, bei
dem die europäische Politik nicht zum Ende kommt, sich als ineffizient
erweist und bei dem ein Wettstreit in Gang zu sein scheint, zwischen
dem, der Mauern baut und dem, der es noch schlechter macht. Ich bin
stolz auf mein Land, das auf Kurs bleibt und weiterhin Menschenleben
rettet. Und seitens der Kunst ist dieser Film ein Beispiel; er kann eine
wertvolle Hilfe in diesem Sinne werden, eine Hilfe, auf Kurs zu
bleiben. [32]
Es
ist der 25. Februar, derselbe Tag, an dem Italien die Intervention in
Libyen plant und sich eine Regierung der nationalen libyschen Einheit
wünscht, die eine Militärintervention der Nato gegen den IS beantragen
kann. Übersetzt: Die Nato braucht für eine Invasion in Libyen eine
internationale Legitimation und eine Rechtfertigung durch die
öffentliche Meinung.
Renzi
schenkt den Oberhäuptern der europäischen Staaten anlässlich eines
Gipfeltreffens eine Kopie von Fuoccoamare und auf dem Briefchen, das die
DVD begleitet, steht geschrieben: „Eine Arbeit, die von der Magie des
Willkommens erzählt, und von den außergewöhnlichen Gaben der Menschen
von Lampedusa, für die ein Migräne, eine Migrantin immer und vor allem
ein Mensch ist.“
Kehren
wir zur Darstellung des Hotspots auf Lampedusa in Fuoccoamare zurück:
Eine Gruppe von Migrant*innen singt ein Art Gospel, in dem sie unter
anderem sagen: „Sie haben uns ins Gefängnis weggeschlossen. Viele sind
für ein Jahr im Gefängnis gewesen. Viele sind für sechs Jahre im
Gefängnis gewesen, viele sind im Gefängnis gestorben. Das Gefängnis in
Libyen ist schrecklich. Sie gaben uns nichts zu essen. Sie haben uns
jeden Tag geschlagen, es gab kein Wasser und viele sind abgehauen. Heute
sind wir hier und Gott hat uns gerettet.“ Die andere Szene im Hotspot
zeigt ein Fußballspiel. Klar, wenn die Präfektur Dir die Erlaubnis zum
Drehen gibt, wird sie es so machen, dass du den Hotspot in einem
einigermaßen würdigen Zustand antriffst; aber Rosi (der Regisseur von
Fuocoammare) hat auch uns im Blick auf die Zustände des Hotspot
angehört. Er hat es vorgezogen, von den „schrecklichen“ libyschen
Gefängnissen zu sprechen statt von den realen Bedingungen im Hotspot von
Lampedusa. (Kurz danach wird er zum dritten Mal angezündet, zum vierten
Mal, wenn man auch den Brand in der alten Einrichtung in der Nähe des
Flughafens dazuzählt).
So schrieb eine Gruppe von Migrant*innen im Protest in einer Verlautbarung im Mai 2016:
Protest einer Gruppe von „migrantischen“ Personen wegen der Bedingungen im Hotspot und des Verfahrens der Identifikation.
„Wir
sind Geflüchtete/Asylsuchende; wir sind hierhergekommen, weil wir aus
unseren Ländern, die sich im Krieg befinden, geflohen sind. Die Länder,
aus denen wir kommen, sind Somalia, Eritrea, Dafur (Sudan), Jemen,
Äthiopien. Die Behandlung, die wir im Lager von Lampedusa erfahren, ist
unmenschlich (es gibt auch Fälle von Misshandlung durch die
Ordnungskräfte wegen der erzwungenen Abgabe von Fingerabdrücken). Wenn
wir unsere Fingerabdrücke nicht abgeben, sind die Mitarbeiter*innen der
Verwaltung des Zentrums uns gegenüber verbal und physisch aggressiv; es
gibt Diskriminierungen bei der Verteilung des Essens und sie verbieten
uns, im Hof Fußball zu spielen. Die Matratzen sind nass vom Wasser, das
aus den Bädern kommt und das kann auch Krankheiten verursachen. Es gibt
Minderjährige, schwangere Frauen und Personen mit Gesundheitsproblemen,
die keine adäquate Behandlung bekommen. Wir sind auf Lampedusa, der eine
seit zwei Monaten, der andere seit vier Monaten. Bis jetzt haben sie
uns noch keine Möglichkeit gegeben, aus diesem Gefängnis wegzugehen, an
einen Ort, an dem die Lebensbedingungen würdiger sind; wir weigern uns,
hier Fingerabdrücke abzugeben. Wir sind gekommen, weil wir Freiheit
brauchen, Menschlichkeit und Frieden, von denen wir gedacht haben, dass
es sie in Europa gäbe. Wir wollen nicht in einem Gefängnis
weggeschlossen werden, ohne dass wir eine Straftat begangen haben; wir
wollen ein würdigeres Leben und versuchen, Schutz zu bekommen, da wir
aus Situationen geflohen sind, die uns dazu genötigt haben, unser Leben
zu riskieren. Die Fingerabdrücke unter diesen Bedingungen abzugeben,
lässt uns nicht die Freiheit für unsere zukünftigen Entscheidungen, wie
zum Beispiel, sich mit den eigenen Familien wieder vereinigen zu können,
die sich schon in anderen Ländern befinden.
WIR
WOLLEN VON LAMPEDUSA WEGGEHEN, UM DEN SCHUTZ ZU HABEN, DEN WIR GESUCHT
HABEN, ALS WIR AUS UNSEREN LÄNDERN FLOHEN. VIELE VON UNS BEFINDEN SICH
IM HUNGERSTREIK UND DURSTSTREIK UND WIR HÖREN NICHT AUF, BEVOR UNSERE
FORDERUNGEN NICHT ERFÜLLT SIND. [33]
Die
Zeitschrift „Ich liebe Sizilien“ widmete im Februar 2016 das Deckblatt
dem Goldenen Bären, der in Berlin von Fuocoammare gewonnen wurde und
Lampedusa.
Die
Rhetorik ist immer die gleiche und noch einmal lassen wir im Blick auf
die Vorstellung von Lampedusa einige Mystifikationen der
Humanitätsrhetorik vorüberziehen, wie sie von Imperialismus und
Atlantikismus benutzt werden. Auf einer der Seiten des „Lungo servizio“,
voll von Phrasen wie „Ein Nobelpreis für Lampedusa“ oder „Die normalen
Helden von Lampedusa“ ,wurde ein Auszug des Buches Lampeduza von Davide
Camarrone publiziert:
Der
Tod hier auf Lampedusa hat zwei Mägde. Die Grausamkeit der
Schlepper*innen übers Meer; sie pferchen mit Stockhieben so viele
Migrant*innen wie möglich auf die alten Kähnen mit auseinanderbrechenden
oder kurz vorm endgültigen Ausfall stehenden Motoren […] Und dann gibt
es die Grausamkeit der Regierungen. Der libyschen vor allem. Unter
Muammar al Gaddafi, einem der vielen korrupten Diktatoren des
afrikanischen Kontinents, war das Leben der Migrant*innen eine Sache,
die man kaufen, verkaufen und handeln konnte, genau wie alles andere.
Dies
ist ein klares Beispiel, wie sich ein beherrschender Diskurs
reproduziert und vervielfältigt, zuerst über ein Buch mit dem Titel
Lampeduza und dann mit Hilfe einer Monatsschrift (unter anderem ein
Monatsschrift zu „Stil, Trend und Konsum“). Mit den befremdlichen
Erklärungen dieses Gurus des bewaffneten und neokolonialen Humanismus
verbindet sich gut, jener Boldrinis, die am 3. Oktober 2014 erklärte,
dass „es jetzt einen Krieg zwischen den Menschen und dem Meer gibt“.
Darüber hinaus: Die Schuld an den Toten auf dem Meer auf Gaddafi oder
auf die Schleuser*innen abladen, ist ein weiterer Fall aus dem Handbuch
des imperialistischen Diskurses über Lampedusa und über die Migration.
In
dieser enormen Verfälschung trifft man sich wieder, um mit jener auf
den Kopf gestellten Wahrheit, von der Guy Debord meisterhaft sprach,
abzurechnen: „In der auf den Kopf gestellten Welt ist tatsächlich das
Wahre ein Moment des Falschen.“
Man
kann erleben, dass dieselben Leute, die sich beklagen, weil der
Immigrant / die Immigrantin an einem öffentlichen Strand badet, der von
Tourist*innen besucht wird, einen Preis für die Aufnahme erhalten.
Dieselben Leute, die sich beklagen, wenn Migrant*innen gegen die
Bedingungen im Hotspot protestieren, finden sich in der ersten Reihe, um
Matarella zu applaudieren, wenn er bestätigt, dass die Leute von
Lampedusa ein Beispiel sind für Aufnahme und Solidarität.
In
der vorherrschenden Darstellung wird der Immigrant / die Immigrantin
passiv gezeichnet, vielleicht innerhalb eines Rahmens, der aus einem
goldenen Bären besteht oder dargestellt in einer an Tourist*innen zu
verkaufenden Weihnachtskrippe inklusive viel „Tür zu Europa“, Möwe und
Schildkröte. Wenn dagegen ein Immigrant, eine Immigrantin als Träger von
Forderung und Konflikt zum Subjekt wird, dann wird er/sie ignoriert (im
besten Fall) oder umgestaltet. Der Satz, den man oft jemanden
aussprechen hört, ist: „Wie das denn, wir nehmen ihn auf und er benimmt
sich so?“ Offensichtlich wäre es angebracht, die Dynamiken zu vertiefen,
die einige Lampedusaner*innen dazu gebracht haben, gewisse
Verhaltensweisen anzunehmen; aber das, was wir in diesem Moment
unterstreichen müssen, ist, dass der Gebrauch Lampedusas in den Medien
präzise Ziele hat und dass die humanitär-militärische Rhetorik die
größten Ruchlosigkeiten der letzten Jahre verdeckt hat; dazu gehört die
Schaffung und Verwaltung (durch Gesetze und Praxis) der illegalen
Immigration von Seiten der EU und der Nato.
Vom
30. September bis zum 2. Oktober feiert man auf Lampedusa den Prix
Italia, einmal mehr organisiert von RAI, die das Hauptinstrument des
Regimes bei der Konstruktion des kollektiven Bildes ist. RAI spielt eine
entscheidende Rolle bei der Konstruktion der Bühne und des Symbols
Lampedusa mit der dazu gehörenden humanitär-militärischen Rhetorik.
Wie
sollte man nicht an den Film „La scelta di Catia - 80 Meilen südlich
von Lampedusa“ erinnern. Er wurde am 6. Oktober 2014 auf RAI3 gesendet
(während die Mission Mare Nostrum noch lief). Geben wir einen Teil der
Beschreibung wieder, der sich auf der Internetseite von RAI befindet:
Catia
hat auf dieser Erfahrung ihre Mission gegründet und ihre Art und Weise
zu lenken und ihrer Crew Motivation einzuflößen. Wenn die
Marinesoldat*inne die weiße Uniform der Sanitäter*innen tragen und sich
bereit machen, den Migrant*innen zu helfen, scheinen sie sich in
unfreiwillige „Engel“ zu verwandeln; die,die dazu ausgebildet sind,
Krieg zu führen, sind jetzt in der Trostlosigkeit des Mittelmeeres, das
manchmal Angst macht, damit beschäftigt, Leben zu retten.
Beim
Prix Italia sind 87 öffentliche und private Radio- und Fernsehanstalten
aus 46 Ländern von 5 Kontinenten in die Veranstaltung mit einbezogen.
Der Zeitpunkt ist nie zufällig, wenn Fuoccoamare sofort nach dem Angriff
in Libyen erschien und sofort nach der deutschen Propaganda bezüglich
der Aufnahme syrischer Geflüchteter; der Film für das Fernsehen und der
Preis der RAI kamen in einer fortgeschrittenen Phase des Krieges, als es
wahrscheinlich war, dass auch die Zahlen der Geflüchteten steigen.
Wieder einmal nehmen wir an einem Phänomen der Reproduktion und
Multiplikation der bestehenden Bilder teil. Wir haben das Massensterben
vom 3. Oktober und die Verfälschung der Fakten, die durch die
medienwirksamen Apparate des Staates geschehen, immer mit RAI an der
Spitze. Die Rhetorik rund um das Massensterben vom 3. Oktober wird dann
jedes Jahr durch die Gedächtnis-Kundgebungen, die mit dem Komitee 3.
Oktober an der Spitze auf Lampedusa stattfinden, reproduziert. Diese
Rhetorik und die durch sie bewirkte Verfälschung werden in dem Film
Fuoccoamare weiter gereicht, der seinerseits über Artikel, Zitate und
politische Erklärungen in Umlauf gebracht wird. Für das, was Marc Augè
die „Fiktionalisierung“ der Welt nennt, bieten die Prozesse der
Medialisierung Lampedusas eins der besten Beispiele.
Auch
auf dem Gebiet der „Musealisierung“ haben dieselben Leute, die die
kollektive Vorstellungswelt geschaffen haben, auf Lampedusa das „Museum
des Vertrauens und des Dialogs“ verwirklicht. Kürzlich hat Pietro
Clemente auf „Mittelmeer-Dialoge“ einen interessanten Artikel über
Museen veröffentlicht, in dem er sich auch Gedanken zu Lampedusa macht.
Es
sind als auch die Objekte eine Welt der Mächte, die es zu erforschen
gilt und die zuweilen mit magischer Kraft begabt sind; wie in einigen
afrikanischen und amerikanischeingeborenen Museen wird an mächtige
Gründer von Museen und an Fetische der Sammler erinnert, aber auch an
andere Wirklichkeiten, um anthropologische Spuren verschiedener Welten
aufzuspüren. Ich denke jetzt an verschiedene Initiativen der
Museumswissenschaft, die auf Lampedusa im Zusammenhang mit den
dramatischen Veränderungen dieser Insel zu einer weltweiten
Schnittstelle der Migrationsprozesse vom Süden in den Norden der Welt,
entstanden sind. Ich denke an meine Zweifel anlässlich des Projektes des
Museums der Zuversicht; es wurde vor kurzem auf Lampedusa vom
Präsidenten Matarella und so vielen Würdenträger*innen eingeweiht, mit
Werken aus großen Museen, ein Caravaggio aus den Uffizien, ein
archäologisches Dokument aus dem Bardo in Tunis, alles „für ein Museum
des Vertrauens und des Dialogs für das Mittelmeer“. Schwierig, die Welt
der Migration mit unseren Symbolobjekten zu konfrontieren, die aus
Museen gezogen wurden, die ihrerseits Ausdruck einer Kultur der Elite
sind. Wie viel ungeheure Mühen hat man auch im Dialog zwischen
Museumsleuten und der Macht vergeudet: Wie sollte man nicht daran
denken, dass das große Europa-Mittelmeer Projekt des Museums von
Marseille (Ableger des MNATP in Paris; nach Marseille überführt und
eingedost), das MUCEM, Museum der Zivilisationen Europas und des
Mittelmeeres, eben das versuchte: Eine gemeinsame Welt Europas und des
Mittelmeeres zu konstruieren, dessen Weg ich als unnützes Mitglied des
Wissenschafts-Komitees verfolgt habe, und es hätte der Bezugsrahmen sein
können für das, was auf Lampedusa entstehen sollte, wenn es nicht von
der französischen Regierung auf den Weg in eine andere Richtung gebracht
worden wäre, zum Ruhm Frankreichs und nicht für den Dialog zwischen den
Völkern. Ich erinnere, dass zu Beginn des Sommers 2009 die Vereinigung
Simbdea einen Protestbrief an den französischen Kulturminister geschickt
hat; das Erstaunliche war, dass wir eine Antwort bekamen, die der
damalige Minister Mitterand schrieb, Neffe des sozialistischen
Expräsidenten und Mitglied der rechten Regierung, der uns beruhigte;
aber der Knick war und blieb: Faktisch das größte französische Museum
zur europäischen Volkskultur, geschaffen von G. H. Rivière, liegt
eingepackt in Marseille. Man fängt immer wieder von vorn an, auch auf
Lampedusa. Kann man von diesem Museum behaupten, dass ernsthafte Studien
zehn Jahre lang das Mittelmeer umgewendet hätten, um Wege der Technik,
des Wissens, des Materials aufzuzeichnen? Gerade an den Orten, die jetzt
Zentren des Krieges sind und die mit unserer mittelalterlichen und
modernen Geschichte verbunden sind? Niemand würde dir zuhören. Man
versteht den guten Willen für das Museum der Zuversicht, auch die
Desorientierung; kaum aber versteht man die Investitionen in das, von
dem man glaubt, es sei ein universaler Wert, der die Aufnahme ehrt:
Stücke aus dem Museum, im Wortsinn antik.
Diese
zeitübergreifenden Bemühungen, die versuchen, auf verneintem Leben zu
fußen, gibt es mehr im Werk von Mimmo Paladino: die Tür, die symbolisch
die in jenem Meer ertränkten Toten begrüßt. „Die Tür, die Afrika
betrachtet im Gedenken an die, die nie angekommen sind.“ Und sie sind
auch zu finden in den Projekten Gegenstände von Migrant*innen zu sammeln
der Vereinigung Askavusa von Lampedusa (die Barfüßige), in den
Fotos von Matt Cardy von den Gegenständen, die in den Dauerlagern für
Geflüchtete zurückblieben, insbesondere in Griechenland. [34]
Seit
Jahren verbinden wir unsere Arbeit der Wiederaneignung der Erinnerung
mit politischen und geschichtlichen Analysen, mit der alltäglichen
Praxis, verbinden wir das Studium der Migration mit dem Kampf vor Ort.
Schon immer haben wir uns geweigert, Teil des großen politisch,
medienwirksamen Apparates zu sein und haben uns Finanzierungen durch
Personen wie Soros verweigert, die zu jener Galaxie von
Unterstützer*innen der Menschenrechte und der Demokratie gehören, die
die Errungenschaften der Arbeiter*innen*innen demontiert und Nationen
destabilisiert haben. In der Fleischwolfrhetorik sind auch die
Nationalstaaten geendet, die letzten politischen Institutionen, die die
Macht haben, die totale Expansion neoliberalen Kapitals einzudämmen. Die
Rhetorik von der Welt ohne Mauern und Grenzen wird wiederholt wie ein
Mantra, sinnentleert und frei von politischer/ historischer Einordnung.
So finden sich auch die mit den besten, aber naiven Absichten,
hineinverwickelt in den neoliberalen und imperialistischen Diskurs. Auch
hier auf Lampedusa spielt die Deklination eines solchen Paradigmas eine
wichtige Rolle: „Menschen schützen, nicht Grenzen“, ist einer der
Slogans des Komitees 3. Oktober und es ist jener, den man vor sich auf
der Mauer liest, bevor man die Mole Favaloro betritt (auf die die
Militärs die Migrant*innen bringen, und von dort werden sie dann mit
Linienbussen in den Hotspot verlegt). Aber die Grenzen sind eine
politische Tat, wie es die Nationalstaaten sind. Es sind keine
natürlichen Gegebenheiten und sie implizieren keine vordefinierten und
unveränderbaren Praktiken: ihre Kritik und Neudefinition vom Standpunkt
der Untergebenen aus, kann also einen gewissen Sinn für sich in Anspruch
nehmen. Die Idee, sie niederzureißen, hat in der kapitalistischen und
globalistischen Perspektive, verborgen von einem humanistischen
Gutmenschentum, einen drastisch anderen Sinn. Lampedusa insgesamt bleibt
eines der Zentren der kollektiven zeitgenössischen Mythos-Produktion,
auch dieser Mythos verkehrt. Ein Mythos ohne Mythos, bevölkert von
„normalen Held*innen“.
Anmerkungen / Verweise
[1]
Auf der Grundlage der Zeugenaussagen der Schiffbrüchigen und der
Ersthelfer*innen und der Dokumente, bei denen es uns gelungen ist, sie
in unseren Besitz zu bringen.
[2]
Ein Angehöriger des italienischen Heeres, der aus Eritrea stammt, auf
der Insel angekommen, um den Überlebenden in den Tagen nach dem
Schiffbruch nahe zu sein
[3]http://palermo.repubblica.it/cronaca/2013/10/03/news/lampedusa_naufraga_barcone_dopo_incendio_82_vittime_fra_loro_donna_incinta_e_2_bambini_ma_mancano_all_appello_250_persone-67793321/.
[4] Pressestelle des Bürgermeisters von Lampedusa und Linosa, 6. Oktober 2013
[5] Zeugenaussage von Vito Fiorino, einem der ersten Helfer
[7] Der Verteidigungsminister Pinotti – 1. Oktober 2014 – Antwort auf die Befragung n4-01005
[9] Cfr. (JRS Dispatches, Europa: Grenzkontrollen und Schutz der Menschenrechte http://it.jrs.net/newsletters_detail_L4?ITN=MC-20120730051529.
[10] (L. Eduati, in «L’Huffington Post» 11/10/2013, http://www.huffingtonpost.it/2013/10/11/lampedusa-eurosur_n_4084899.html.
[11] ebenda
[12] F. Gatti, Die Wahrheit über den Schiffbruch vor Lampedusa. „So hat Italien sie sterben lassen”, http://espresso.repubblica.it/inchieste/2013/11/07/news/la-verita-sul-naufragio-di-lampedusa-quella-strage-si-poteva-evitare-1.140363.
[14] Pressestelle des Bürgermeisters von Lampedusa und Linosa, 28. Oktober 2013
[15] Musik auf Lampedusa. Sabir, das Festival der Polemiken http://www.ilfattoquotidiano.it/2014/09/20/musica-a-lampedusa-sabir-il-festival-delle-polemiche/1127635/.
[16] Von der offiziellen Seite des Komitees 3.Oktober http://www.comitatotreottobre.it.
[17] ebenda
[18] Brief, adressiert an die Bürgermeisterin von Lampedusa und Linosa, Giusi Nicolino Lampedusa 01/03/2014.
[20]
M. Akkerman, Grenze des Krieges. Wie die Waffenproduzenten aus der
Tragödie der Geflüchtete in Europa Profit ziehen, 2016, in http://www.disarmo.org/rete/docs/5039.pdf.
[21] ebenda
[22]
F. Spinelli, Reise unter den Lobbys, die die europäische
Migrationspolitik beeinflussen, in «Internazionale», 22 settembre 2016.
[24]
(P. Ansart, Marx und die Theorie des sozialen Vorstellungswelt, in E.
Colombo (a cura di), L’immaginario capovolto, Eleuthera, Milano 1987, p.
82.
[28]http://palermo.repubblica.it/cronaca/2016/06/10/foto/richard_gere_a_lampedusa_pranza_con_i_giovani_migranti-141725926/1/#2.
[29] ebenda
[31] http://agrigento.gds.it/2016/07/23/migranti-gelli-pd-lhotspot-di-lampedusa-e-inadeguato_543228/.
Hier gibt es einen Link mit einigen Fotos über die realen Verhältnisse
im Hotspot von Lampedusa und eine Vertiefung hinsichtlich des Besuches
von Grasso auf Lampedusa https://askavusa.wordpress.com/2016/07/07/tutto-grasso-che-cola/.
[33] Verlautbarung, übersetzt und verbreitet vom Kollektiv „Askavusa“
Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber