siciliamigranti.blogspot.com ist ein italienischsprachiges Monitoringprojekt zur Situation der Flüchtlinge in Sizilien, dort finden Sie die Original-Berichte, hier finden Sie die deutschen Übersetzungen. Klicken Sie auf die auf die Namen der Schlagworte (keywords), wenn Sie bestimmte Themen suchen.

Montag, 31. Oktober 2016

Warum weiter gestorben wird

Wenig mehr als 100 Euro und einige Wochen Wartezeit - das ist, was jede*r italienische Staatsangehörige braucht, um einen Pass zu erhalten. Ob wir, wenn wir unsere persönlichen Dokumente anfordern und brauchen, uns bewusst sind, dass diese banalen und routinemäßigen Behördengänge für viele noch nie möglich waren oder noch immer nicht möglich sind. Ob die Bürger*innen der europäischen Union auch nur einen Moment daran denken, dass andere für die ihnen selbstverständlichen Freiheiten mit dem Leben bezahlen, oder ins Gefängnis kommen oder ihren Körper verkaufen müssen.
Wer in vom Krieg zerstörten Ländern lebt, kann nicht einfach die Flucht ergreifen. Wer in einem Staat geboren wird, dem die Bodenschätze, ökonomisches und menschliches Kapital gestohlen werden durch unsere neoliberale Politik, der kann sich nicht einfach aufmachen auf der Suche nach einem besseren Leben, so selbstbestimmt und in Sicherheit, wie wir es können. So brechen sie auf aus Syrien, Afghanistan und Pakistan, aus dem Jemen und vom Horn von Afrika und aus den Ländern südlich der Sahara, um nach Europa zu gelangen, dem Kontinent der Menschenrechte, dessen Gesetze die Nationen verpflichten die Migrant*innen zu schützen und ihnen Asyl zu gewähren. Skrupellosen Schlepperorganisationen ausgeliefert durchqueren sie Kontinente, Länder und Wüsten bis nach Libyen an die Küste des Mittelmeers, wo für viele die Reise mit dem Tod enden wird.

Über die unzähligen Toten der letzten Monate wird in den Medien ungenau und unwürdig berichtet, als ob es sich um eine Kriegsberichterstattung handle, die uns nicht betrifft, und die wir nicht mit verursacht haben! Es sind nicht mehr nur die lebenden Geflüchteten, die keine Schlagzeilen hergeben. Auch über die im Meer Ertrunkenen (ein exponentieller Anstieg von Toten im Mittelmeer, es sind seit Anfang dieses Jahres schon über 3800) wird nicht berichtet. Und es werden täglich mehr, ohne sichere und legale Reiserouten. Europa und Italien schauen zu und versuchen die dramatischen Konsequenzen des totalen Fehlschlages der Einrichtung von Hotspots durch weitere Abschiebungen und illegale Maßnahmen zu begrenzen. Während die Relocations die Dublinreglemente ad absurdum führen, wird jede Gelegenheit benutzt, um die Militarisierung und Kontrollen der Schiffe im Kanal von Sizilien voranzutreiben.

"Unser Boot war klein und es war bereits am Auseinanderbrechen. Wir waren nur 27 Leute, aber wir kamen nicht vorwärts. Sie haben uns gesagt, für uns sei es nicht nötig, einen Kompass zu besorgen, denn uns würde auf jeden Fall sofort Hilfe geleistet. So schien es wenigsten, dass sie für uns (ohne Überzeugung) Hoffnung hatten." L. ist erst seit ein paar Tagen in Sizilien und befindet sich mit weiteren 500 Personen im Hotspot von Pozzallo. Hier sind Überbelegung und viel zu lange Aufenthaltszeiten an der Tagesordnung. Viele müssen in Zelten schlafen, die ausserhalb des Hangars aufgestellt wurden.

"Ich weiß, dass ich großes Glück hatte, denn ich lebe noch. Aber ich bin auch wütend. Ich habe begriffen, dass es auch hier nicht leicht sein wird, ein normales Leben wie die Italiener*innen zu führen. Ich war ein Jahr lang unterwegs. Ich war sechs Monate in Libyen im Gefängnis. Hier werde ich weiterhin jeden Tag ein wenig sterben, solange ich keine Dokumente habe. Eigentlich hätte ich gar nicht weggehen sollen, aber ich musste weg."

Während Italien sich um bessere Zusammenarbeit in der Rückführung mit Nigeria bemüht und versucht, die Übereinkünfte mit dem Sudan klammheimlich durchzubringen, landen in den Häfen Siziliens junge Frauen aus Nigeria, oft minderjährig, die in Gefahr sind, in die Netze von Menschenhandel und Prostitution zu geraten oder es bereits sind. Viele von ihnen finden sich infolge des Mangels an Institutionen für besonders schutzbedürftige Personen in Gemeinschaften ohne ausgebildetes Personal oder in improvisierten, von den Präfekturen direkt beauftragten Empfangszentren wieder, so wie es in der Provinz Ragusa der Fall ist. Oft sind das Orte, die eher der Ausbeutung Vorschub leisten als zum Schutz der Migrantinnen zu dienen.

"In Nigeria ist die Prostitution der einzige Ausweg um regelmässig zu essen. Das hat mir meine Mutter beigebracht." So spricht J., eine Sechzehnjährige aus Benin City, jetzt in einer geschützten Einrichtung in Catania. "Ich bin die Jüngste von drei Kindern und meine Mutter hat die Reisevereinbarungen für mich getroffen. So hätte ich meine Familie unterhalten können. Ich habe meine Reise angetreten, ohne zu verstehen, wohin sie führt. Ich reiste eingeschlossen zusammen mit andern tagelang in einem Auto bis nach Libyen, wo mir manches klar wurde." "Seit meiner Abreise aus Abuja bin ich nur Menschenhändlern, der Polizei oder Zuhältern begegnet. Hier soll es anders sein, aber es fällt mir schwer Vertrauen zu fassen in Menschen mit der Waffe in der Hand und die alles von mir wissen wollen, ohne mir zu sagen, warum", meint eine andere junge Frau, die in der gleichen Wohnung lebt. In diesen und vielen anderen ähnlichen Fällen ist die individuelle Unterstützung durch kompetente Fachkräfte von Beginn an unerlässlich. Das ist offensichtlich nicht möglich in einem überfüllten Hotspot oder in einem Zeltlager am Hafen inmitten von Hunderten von anderen Asylbewerber*innen. Zumal der Zweck der Hotspots die Identifikation, Kontrolle und Auswahl der Migrant*innen - und die Aufgabe der Polizei die Festnahme der vermuteten "Schlepper" ist. Der Schutz von schutzbedürftigen Personen hat in der gegenwärtigen Asylpolitik sicher keine Priorität.

Das gleiche gilt für hunderte von unbegleiteten Minderjährigen, die in Europa für das Einkommen ihrer Familien sorgen sollten oder für jene, die vor dem obligatorischen Militärdienst in ihren Heimatländern flohen. "Eine der Möglichkeiten dem Militärdienst zu entkommen ist die Schwangerschaft", erklärt die 15 jährige C. aus Eritrea, "manchmal nutzt auch das nichts, weil wir vor unseren eigenen Familien flüchten müssen. Dann können wir als Ausweg auch gerade ins Ausland reisen."

Es sind hunderte von jungen Eritreer*innen wie sie, die Rettung in Europa suchen und gezwungen sind, dafür die Beziehungsnetze von skrupellosen Schleppern in Anspruch zu nehmen, die nicht davor haltmachen, sie auch nach ihrer Ankunft in Italien auszubeuten. Darum müsste ihnen hier der Zugang zu verständlichen Informationen über ihre Rechte in unserem Land und über Risiken, die sie eingehen, verschafft werden. Das ist ein anspruchsvolles, zeitintensives Unterfangen, dem in Italien wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, denn unser Aufnahmesystem ist gefangen in den sogenannten Notfallmaßnahmen und deren sichtbarer Bewältigung. Und darum tauchen viele unter, kaum sind sie von Bord gegangen, und unternehmen kilometerlange Fußmärsche auf der Suche nach dem ersten Bus, der sie in den Norden Europas bringen wird.

Wir erfahren manches von denen, die es bis in unser Land geschafft haben, über den obligaten Aufenthalt in Libyen in den Gefängnissen und Lagern. Vergessen wir nicht, dass Italien vor mehr als zehn Jahren deren Bau mitfinanziert hat.

Sie haben bei ihrer Ankunft meistens Verluste hinter sich, den Tod eines Verwandten oder Freundes und fast der ganzen Hoffnung – nicht aber ihrer Würde. Unter ihnen sind auch Syrer*innen, die der Hölle des Krieges entkommen sind und Jemenit*innen, in deren Land die Bombardements wieder aufgenommen wurden und das auch mit italienischem Waffenmaterial.

Um zu verstehen, warum so viele weitere Menschen sterben, bevor sie unser Land erreichen und auch noch danach, bräuchte es wenig: es würde genügend, wenn wir mit den Migrant*innen direkt sprechen würden, die bei uns und mit uns zusammenleben, statt denen zuzuhören, die deren Leiden und Schicksale für ihre eigenen wahlpolitischen Zwecke missbrauchen. Wir müssten uns dann fragen, was uns daran hindert, alternative Lösungen zu finden und warum wir das nicht ändern.

Lucia Borghi
Borderline Sicilia

Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne