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Dienstag, 25. Oktober 2016

Das Tagebuch von Campobello di Mazara

Wir sind Simon und Verena, zwei Anthropologiestudierende aus Bozen, die sich entschieden haben einen der Schauplätze der Migration zu besuchen, von denen uns unsere Freund*innen von Borderline Sicilia "erzählt" haben. Wir wollten diese Wirklichkeit mit unseren eigenen Augen sehen, dazu haben wir die Aktivist*innen von Campobello für mehr als einen Monat in einem Dorf begleitet, indem sich zurzeit wegen der Olivenernte viele Migrant*innen aufhalten. Unsere Erfahrungen haben wir versucht in einem Tagebuch festzuhalten.



3. September: Besuch auf dem Gehöft und im Lager

Auf dem Gehöft bei Erbe Bianche leben rund 30 Menschen aus dem Senegal, dem Sudan, Mali und Nigeria. Einige von ihnen sind im letzten Jahr nach der Ernte in Campobello geblieben. Ihnen ist es gelungen Gelegenheitsjobs in der Gegend zu finden. Anfangs haben sie im Lager „Ciao Ousmane“ gelebt. Im Frühling wurden sie von der Gemeinde weggeschickt, da der Platz für die Entsorgung von Sperrmüll benötigt wurde. 


Küche einer Baracke außerhalb des Zentrums.

Die Männer warten auf die Eröffnung eines neuen Lagers, bis dahin schlafen sie im Inneren zweier Gehöfte. In den Gebäuden gibt es keinen Strom, kein fließendes Wasser und keine sanitären Einrichtungen. Gekocht wird auf dem Feuer im Freien oder auf einem Gaskocher.


Das Tor des Lagers steht offen und niemand ist zu sehen. Es gibt drei große Müllcontainer, auf der rechten Seite wird Sperrmüll gelagert, darunter Kühlschränke und Schränke. Trotzdem würde der verbleibende Platz für 30 Personen in Zelten ausreichen. Die Sanitäreinrichtungen, zehn Trockentoiletten und zehn Duschen, befinden sich in einer Holzkonstruktion ohne Dach. Sie sind schmutzig und ohne Wasseranschluss. Für diese Einrichtung hat die Gemeinde 20.000 Euro ausgegeben. Bei der Feuerstelle, wo mit Gasflaschen gekocht wird, stapeln sich Matratzen und Abfälle.
 
Zurückgelassener Sperrmüll im Lager
8. September
Auf Mazara News wird ein Artikel veröffentlicht der besagt, dass die Gemeinde Campobello vom Ministerium 60.000 Euro „für die getätigten Ausgaben zur Aufnahme von Migrant*innen“ erhalten wird. Am 26. September sind diese Gelder, laut Aussage des Assessors, immer noch nicht eingegangen.

15. September: Besuch im Lager
Als wir nach zwei Wochen erneut das Lager besuchen, können wir keine Veränderungen feststellen. Die Gemeinde hatte angekündigt, das Lager am 1. Oktober zu öffnen.

20. September: Besuch auf dem Gehöft
Mittlerweile haben sich auf dem Gehöft rund 60 Personen niedergelassen. Sie haben Zelte und zwei Pavillons aufgebaut. Die Migrant*innen fordern die Eröffnung des Lagers. Sie selbst und auch die Freiwilligen rechnen mit einer raschen Zunahme von Personen, folglich wird sich die Situation verschlechtern. 




21. September: Treffen mit dem stellvertretenden Präfekten von Trapani
In der Präfektur von Trapani findet ein Treffen zwischen einer Delegation der NGOs sowie der Freiwilligen die sich im Lager engagieren und dem Gemeindeassessor von Campobello statt. Anders als im letzten Jahr wird die Verantwortung für das Lager einzig der Gemeinde zugesprochen. Es wird vereinbart, dass das Lager am 1. Oktober geöffnet wird, dass sechs Scheinwerfer installiert werden und dass die Gemeinde den vorhandenen Boiler repariert und damit Warmwasser garantiert.

23. September: Besuch auf dem Gehöft
Es ist bereits dunkel deshalb können wir nicht viel erkennen. Die Menschen auf die wir treffen sprechen von rund 150 Migrant*innen vor Ort. Verärgerte Stimmen fordern die Öffnung des Lagers vorzuverlegen.

24. September: Besuch im Lager
Als wir beim Lager ankommen, um Zelte aufzustellen die von einigen Vereinigungen gespendet wurden, ist das Eingangstor verschlossen. Wir machen eine Ortsbegehung im Lager „Ciao Ousmane“: Bis zur geplanten Eröffnung fehlen noch sieben Tage. Das Lager ist voll mit Sperrmüll, TV-Geräten, Kühlschränken und Matratzen. All diese Gegenstände sollten vor der Eröffnung weggebracht werden. Ein Gemeindearbeiter war bis jetzt nur an einem einzigen Tag, und zwar am letzten Donnerstag, vor Ort.

Im Inneren treffen wir auf rund 20 Migrant*innen, die sich hier Material für ihre Baracken bei Erbe Bianche holen, wo sie schlafen. Folglich liegt viel Sperrmüll auf dem Gelände verstreut. Im hinteren Teil des Lagers, in einer kaputten Holzbaracke, befinden sich die Bäder und Duschen. Der Zustand der Sanitäreinrichtungen ist unmenschlich, sie sind dreckig und ohne Wasseranschluss. Was die Vereinbarung betrifft, weder am Warmwasserboiler noch für die Scheinwerfer wurde etwas gemacht. Der überdachte Teil des Lagers, der als Feuerstelle zum Kochen dienen soll, ist voller dreckiger Matratzen, die auch weggebracht werden müssten. Zudem, wird der defekte Wasserhahn seit mehreren Tagen nicht repariert und das Wasser läuft ununterbrochen aus dem Rohr. Einige Personen sind bereits in das Lager eingedrungen und haben damit begonnen, den herumliegenden Müll zu recyceln und kleine Schlafunterkünfte daraus zu bauen.
 
Die „Feuerstelle“ im Lager

Besuch auf dem Gehöft
Sieben Tage vor der geplanten Eröffnung des Lagers befinden sich in Campobello bereits rund 200 Migrant*innen. Da die Tore des Lagers geschlossen sind, haben sie ihre eigenen Zelte auf einem Gehöft in dem naheliegenden Gebiet um Erbe Bianche aufgebaut. Bei den täglichen Besuchen fällt auf, dass ständig weitere Personen aus allen Teilen Italiens ankommen. 


Die Zeltstadt wächst von Tag zu Tag. Es kommen neue Personen hinzu, die gezwungen sind ohne fließend Wasser, ohne Elektrizität und ohne sanitäre Einrichtungen zu leben. Die Müllhaufen werden täglich größer und dehnen sich bereits über das ganze Lager aus, dadurch verschlimmern sich die hygienischen Zustände drastisch. Wegen der fehlenden Duschgelegenheiten wird das Wasser auf dem Feuer erwärmt, dort wo auch das Essen zubereitet wird. Die Menschen waschen sich in einer „Duschkabine“ aus Handtüchern die an Pfosten befestigt sind.
 

Viele der Migrant*innen kommen seit mehreren Jahren zur Ernte nach Campobello. Sie beschweren sich darüber, dass das Lager im Gegensatz zu den letzten Jahren noch geschlossen ist. Wiederholt teilen sie uns mit, dass es unter diesen Umständen nicht weiter gehen kann, auch nicht bis zum 1. Oktober. Frustration und schlechte Laune schleichen sich ein – seit Jahren weiß man über das saisonale Migrationsphänomen Bescheid und trotzdem verschließt man weiterhin die Augen vor den Folgen.
 


Im Moment halten sich aber auch viele Personen in Campobello auf, die das erste mal hier sind. Sie sind verwirrt und fühlen Unbehagen darüber, wie sie sich hier zurechtfinden müssen. Die dringende Notwendigkeit sich bei der Ölmühle niederzulassen und einrichten zu können, hat die Migrant*innen dazu veranlasst eine Delegation in die Gemeinde zu schicken, um mit den zuständigen Behörden zu sprechen und sich für eine frühzeitige Öffnung des Lagers einzusetzen. Der Termin wird für den 26. September festgelegt.

Eine Baracke im Lager „Ciao Ousmane“

26. September: Besuch im Lager
Als sie die Migrant*innen heute Morgen im Gemeindeamt präsentierten, tauchte der vereinbarte Termin nirgends auf und die Zuständigen waren nicht vor Ort. Es wurde entschieden, dass die Delegation der Migrant*innen am Mittwoch, den 28. September, am Treffen mit dem Bürgermeister, dem Sozialassessor und allen Organisationen die im Lager präsent sein werden, teilnehmen wird. Bei dieser Versammlung soll auch das Einverständnisprotokoll über die Leitung des Lagers unterzeichnet werden.

Bei unserem Besuch im Lager „Ciao Ousmane“ ist das Tor geöffnet und im Inneren bereiten Gemeindearbeiter*innen die Müllcontainer für den Abtransport vor. Der defekte Wasserhahn wurde noch immer nicht repariert und auch in den Bädern und am Boiler wurden noch keine Arbeiten vorgenommen. Im Gebäude befinden sich rund 30 Migrant*innen, die bei den Steckdosen ihre Mobiltelefone aufladen. In einem weiteren Zimmer schlafen einige Personen.

Ein LKW holt im Lager Sperrmüll ab

28. September
Telefonisch wird uns bestätigt, dass die Arbeiten weitergehen. Inzwischen wurden jedoch ca. hundert Migrant*innen, die im Lager ihre Zelte aufgestellt hatten, geräumt.

1. Oktober
Heute wird das Lager offiziell geöffnet, trotzdem wurde es noch nicht gesäubert und die Duschen sowie die Toiletten funktionieren noch nicht. Anders als in den vergangenen Jahren wurde das Einverständnisprotokoll noch nicht unterzeichnet, deshalb ist das Rote Kreuz nicht vor Ort.

Duschen innerhalb des Lagers
10. Oktober
Die Situation im Lager „Ciao Ousmane“ ist ernst, im Vergleich zum letzten Jahr wird ein personeller Anstieg verzeichnet. Momentan befinden sich rund 1.000 Menschen hier und täglich kommen mehr. Der verfügbare Platz wird immer knapper und die Migrant*innen wissen nicht mehr, wo sie ihre Zelte aufbauen sollen. Rund 30 Personen ohne Zelte sind gezwungen auf Kartons am Boden zu schlafen. Es fehlt an Decken, Zelten, warmer Kleidung und Lebensmitteln. Aufgrund der schlechten Ernte in diesem Jahr wurden viele nicht angestellt. Dadurch entstehen weitere Spannungen zwischen den Migrant*innen, die Schwierigkeiten haben Nahrungsmittel zu beschaffen. Im letzten Jahr gab es zahlreiche Lebensmittel- und Kleiderspenden, in diesem Jahr fehlt hingegen diese Unterstützung. Das Rote Kreuz hat mittlerweile den Dienst aufgenommen und ist vier Stunden am Tag im Lager präsent. Weitere drei bis vier Freiwillige die sich im Lager engagieren, sind auf Grund der fehlenden materiellen und menschlichen Ressourcen bald erschöpft.

Laut den Aussagen der Freiwilligen, wurden die Bäder und Duschen repariert und die Scheinwerfer installiert, allerdings gibt es noch kein Warmwasser. Die Reparatur des Boilers wurde beim Treffen zwischen Präfektur, Gemeinde und Vereinigungen zwar als dringlich eingestuft, bis jetzt hat sich allerdings nichts getan und es ist unwahrscheinlich, dass er noch in dieser Saison repariert werden wird. Dieser Missstand hat eine Art Warmwassermarkt entstehen lassen. Das Wasser wird in Wannen erhitzt und dann von den Bewohnern des Lagers für wenige Cents erworben.

Auf dem Gehöft von Erbe Bianche halten sich in den beiden Gebäuden aktuell noch rund 60 Personen auf. Obwohl sie bereits seit mehreren Monaten ohne Wasser, Strom und sanitären Einrichtungen leben, haben sie entschlossen nicht ins Lager zu ziehen. Hier auf dem Gehöft haben sie zumindest ein Dach über dem Kopf und ausreichend Platz. Einige von ihnen nutzen die Toiletten und Duschen im Lager „Ciao Ousmane“.

16. Oktober
Im Lager schlafen mehr als 1.200 Personen. Die ohnehin schwierige Situation ist noch beschwerlicher geworden. Die Organisation Mediterraneo Antirazzista hat ein zweitägiges Turnier auf die Beine gestellt, dass für echte und ehrliche Momente des Austauschs gesorgt hat. Nun braucht es eure Unterstützung: sprecht über das Lager und bittet um Hilfe. Es werden Lebensmittel, Decken, Kleider und Schuhe benötigt. „Ciao Ousmane“ braucht unsere Hilfe. 1.200 Personen brauchen unsere Hilfe. 








 

Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner