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Dienstag, 13. September 2016

Unbegleitete minderjährige Geflüchtete: Ihre Aufnahme bleibt eine Herausforderung

New guys arrive but their problems are not over”, so der Kommentar einiger Personen zu der Ankunft weiterer Migrant*innen vor dem Hotspot von Pozzallo. „Es sind weitere Leute angekommen, aber ihre Probleme sind noch nicht zu Ende“. Gestern sind nochmals 286 Migrant*innen am Hafen angekommen, unter ihnen ca. 20 unbegleitete Minderjährige. Kids im Alter von 15, 16, 17 Jahren aber auch jüngere 13jährige sind dabei, wie die jungen Migrant*innen mit denen wir gerade sprechen wollen. Letzten Donnerstag hat eine Delegation der OSZE (Organisation für die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) den Hotspot von Pozzallo besucht, nachdem sie das Aufnahmezentrum in Mineo besucht hatte. In den Tagen zuvor hatten wir eine große Anzahl Verlegungen vom Hotspot in die umliegenden Zentren beobachtet. Unter den verlegten Migrant*innen waren auch etliche unbegleitete Minderjährige, die demzufolge während des offiziellen Besuchs nicht im Hotspot waren.


Einige Minderjährige, die wir heute getroffen haben, haben uns eben erzählt, dass sie vor 5 Tagen in das neue Erstaufnahmezentrum verlegt wurden, eines der CAS* für Minderjährige, das die Präfektur Ragusa eröffnet hat. Das Zentrum befindet sich in Pozzallo und wird von der Genossenschaft Azione Sociale geführt, die auch bis Ende Juli den Hotspot geführt hatte. „Wir sind 25 Jugendliche dort, auf Zimmern mit 3-4 Schlafplätzen verteilt. Das neue Zentrum ist viel besser als das alte am Hafen, obwohl wir immer noch nicht verstanden haben, worauf wir warten und wie lange wir dort bleiben werden. Dort gibt es Mediator*innen, die Englisch, Französisch und Arabisch sprechen. Bis heute haben wir keine neue Kleidung, oder irgendetwas Neues bekommen, wir warten nur“. An der Bushaltestelle treffen die Gäste des neuen Zentrums diejenigen, die noch im Hotspot leben. „Wir sind nicht nach Italien gekommen, um auf den Parkbänken zu sitzen, wir wollen in die Schule gehen, arbeiten, irgendwas tun“, erzählen uns die jungen Menschen. Sie wollen wissen, wann die Sprachkurse anfangen, ob es in der Stadt eine Moschee gibt, oder einen Fußballplatz neben dem Strand. „In Zentrum gibt es keine italienische Sprachkurse, sie haben uns gesagt, dass wir später die Schule besuchen werden. Wollen wir es hoffen!!“. A. ist im neuen CAS* untergebracht, zusammen mit weiteren Jungs wie er aus Gambia und anderen aus Guinea Conakry, Nigeria und Mali. Viele von ihnen sind vor einer Woche in Italien angekommen, zehn Tage später sind die französischsprechenden Jungs immer noch im hotspot und fragen sich warum. „Wir leben seit ca. 3 Wochen im Zentrum am Hafen. Sie haben unsere Fingerabdrücke genommen, die Polizei und Frontex haben uns Fragen gestellt in Bezug auf unsere Reise und dann haben sie uns gesagt, dass wir warten müssen, weil alle Plätze für Minderjährige belegt sind. Aber wir sind sehr müde!“ Keiner von ihnen weiß, dass ihr verlängerter Aufenthalt im Hotspot unrechtmäßig ist. Die im Zentrum befindlichen NGOs geben Auskunft bezüglich der Prozedur um Papiere zu bekommen, bezüglich der Möglichkeit der Familienzusammenführung und des Schutzes. Aber anscheinend erklärt niemand den Migrant*innen wie das sogenannte italienische Aufnahmesystem funktioniert und der Grund dafür ist ziemlich offenkundig.

Der neue Betreiber des Hotspots, die Genossenschaft Domus Caritatis aus Rom, händigt den Migrant*innen jeden Tag einen Einkaufsgutschein über 2,50 € aus, um Essen und Bedarfsartikel im Dorf kaufen zu können. Jeder hat das Recht jeden zweiten Tag eine 5 € Telefonkarte zu bekommen, die jedoch nicht ausreicht, um eine vernünftige Konversation zu führen, weil nach wenigen Minuten das Guthaben verbraucht ist. „Im Zentrum (im Hotspot) sind wir viele, viel zu viele. Sie haben uns Wechselkleidung gegeben, ein wenig zu warm, und ein paar Schuhe (und sie zeigen uns die Flip-Flops mit denen sie über die Felsen laufen müssen), wir haben Shampoo, obwohl das Wasser immer eisig kalt ist und wir bekommen zwei Mal am Tag Nudeln, aber zum Glück können wir uns mit dem Gutschein auch etwas Anderes kaufen. Und jeden Tag gibt es Italienischunterricht. Wir würden aber gerne wissen, wo wir letztendlich hinkommen, wann und wo wir endlich unsere Papiere bekommen werden und somit ein wenig Autonomie erlangen können“.

Die Bemühungen des Betreibers des Hotspots wird den Minderjährigen folgendermaßen dargestellt: sie erhalten die minimale Grundversorgung, auch nach Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen maximalen Aufenthaltszeit von 72 Stunden; es wird ihnen erlaubt, tagsüber in die Stadt zu laufen; und die eigene Tätigkeit in einem ständigen „Ausnahmezustand“ auf die bestmögliche Art weiterzuführen. Das sind die Errungenschaften des Betreibers, wie sie den Minderjährigen, die im Hotspot leben, erklärt werden. Die Informationen bezüglich des Systems, in dem sie stecken, sind rar; genauso rar sind die Mögichkeiten, sich der eigenen Pflichten und Rechte bewusst zu werden. Das alles, um die unrechtmäßigen Verlegungspraktiken weiterhin auszuführen und die Migrant*innen als Zahlen und nicht als Menschen kontrollieren und verwalten zu können. Der Schutz der Minderjährigen wird immer mehr zu einer Herausforderung, und gilt nicht als eine Verantwortung, eine Pflicht und eine erzieherische Aufgabe.

Am Mittwoch, 31. August sind wir wieder zum Aufnahmezentrum für unbegleitete Minderjährige in San Michele di Ganzaria gefahren. Dort haben uns die neue Koordinatorin und Verantwortliche für die Aufsicht der Zentren für unbegleitete Minderjährige, die von der Genossenschaft San Francesco geführt werden, von den Vorfällen und der Organisation der Einrichtung erzählt. „Wir geben zu, falsche Entscheidungen in den ersten Wochen des Zentrums getroffen zu haben, aber seit August haben wir ein neues Team. Leider haben die Fehler in der Organisation, die in den ersten Wochen gemacht wurden, zu untragbaren Verhältnissen geführt, mit Streitereien und Auseinandersetzungen, innerhalb und außerhalb des Zentrums, und das hat sich auch noch negativ auf die Wahrnehmung unserer Gäste bei der Bevölkerung ausgewirkt“, erzählen sie uns. Ungeeignete Organisationsentscheidungen und neue zur Verfügung gestellte Mitteln, die wir in der Zukunft besser analysieren werden und über die wir später noch berichten werden. Gleich geblieben ist bis heute der Standort der Einrichtung, deren Eröffnung von der Region Sizilien autorisiert wurde, und zwar auf einem kleinen Hügel mitten zwischen Feldern nur durch eine kurvenreiche, etliche Kilometer lange Straße mit den nächsten Dörfern San Cono und San Michele di Ganzaria verbunden.

Ausgerechnet eine der Verantwortlichen informiert uns über die Festnahme, die einige Stunden zuvor stattgefunden hat, von weiteren Migrant*innen, die in Zentren für unbegleitete Minderjährige untergebracht waren. Der Vorfall ereignet sich in dem Erstaufnahmezentrum für unbegleitete Minderjährige, das bis vor einigen Tagen als ein „hoch-spezialisiertes“ Zentrum eingestuft wurde und das von der gleichen Genossenschaft San Francesco in Caltagirone geführt wird. Eine Gruppe von Migrant*innen hatte zu protestieren angefangen, um das Taschengeld zu reklamieren. Der Protest endete mit der Festnahme zweier vor Kurzem volljährig gewordener Migrant*innen und der Anzeige von 5 weiteren Bewohner*innen der Einrichtung seitens der von den Mitarbeiter*innen gerufenen Polizei. Solche Vorfälle wiederholen sich in letzter Zeit immer häufiger. Ein ähnliches Ereignis ist vor einigen Wochen in der Einrichtung in San Michele vorgekommen. Fehlende Ausgabe des Taschengelds; lückenhafte Erklärungen seitens des Personals; wachsende Unduldsamkeit der Gäste; Proteste der Migrant*innen und Einsperrung des Personals in die Büros; Ankunft der Polizei; Festnahme, Anzeigen und Widerruf der Aufnahmegenehmigung für etliche volljährige Migrant*innen. Das komplette Chaos! Nachdem einige ägyptische Minderjährige angegriffen wurden, sind all ihre Landsleute von San Michele nach Caltagirone verlegt worden und haben somit Platz gemacht für die angezeigten jungen Migrant*innen in San Michele. Der Konflikt ist sozusagen entfernt worden, ohne ihn zu analysieren und anzugehen, in der Erwartung des nächsten Gewaltausbruchs.

Die wiederholten Eingriffe der Polizei kennzeichnen besorgniserregende Führungs- und Vermittlungsunfähigkeit und das Fehlen einer erzieherischen Herangehensweise, die in einem Zentrum für Minderjährige unabdingbar ist, um so mehr wenn Traumata und Konflikten zu der Geschichte der Minderjährigen gehören. Leider scheinen Zwang und kontinuierliche Trotzreaktionen die Merkmale der Beziehungen zwischen Mitarbeiter*innen und Minderjährigen in vielen Zentren zu sein; Der Dialog und der Wille zu einer gemeinsamen Erziehungsleistung kommen gar nicht in den vielen Zeugenschaften, gleichermaßen von Migrant*innen und Mitarbeiter*innen, vor, die wir gesammelt haben.

“In diesem Ort ist jede Kommunikation unmöglich. Wer nach Erklärungen fragt, der bekommt schwammige Antworten und wenn er insistiert, bekommt er noch Drohungen. Sie sagen uns, dass wir aus dem Zentrum entlassen werden, oder dass wir unsere Papiere nicht bekommen werden, oder sie rufen die Polizei“, erzählen uns Gruppen von Migrant*innen, die Bewohner*innen in verschiedenen Erst- und Zweitaufnahmezentren sind und die wir regelmäßig treffen. Oft sind es nicht die technischen oder organisatorischen Fragen, die uns beunruhigen, sondern vielmehr das Klima, das von Spannung und fast komplettem Misstrauen den Mitarbeiter*innen gegenüber gekennzeichnet ist. „Falls wir die Regeln nicht befolgen oder uns beschweren, können die Verantwortlichen Berichte schreiben und wir werden dann unsere Papiere nicht bekommen. Wir haben deswegen Angst. Keiner von uns will in diesem Ort bleiben, in der Tat versuchen manche schon nach ein paar Tagen wegzugehen oder in die Zentren zurückzukehren, in denen sie früher untergebracht waren“, sagen uns andere. Und wiederum Andere sagen: „Die Polizei kommt mindestens einmal in der Woche ins Zentrum, es geht um das Essen, um die Papiere, um das Taschengeld. Am Anfang, als die Mitarbeiter*innen uns bezüglich unserer Papiere nichts sagen wollten, haben wir auch unsererseits die Polizei um Hilfe gebeten um dann feststellen zu müssen, dass sie nichts machen kann“. Entgleisung des Wohlfahrtsstaates, fehlende Professionalität und Kontrolle ersetzen den Schutz und die Auseinandersetzung, die notwendig wären, um die unvermeidbare Konfliktsituation positiv zu handeln.

„Es ist schwierig mit diesen Jungs umzugehen. Sie verstehen nicht ihre Pflichten und sie sehen nicht ein, wie glücklich sie sein sollten, mit dem was sie haben. Sie sollten uns dankbar sein, weil sie hier sind“. „Sie sollten italienisch sprechen, weil wir ja in Italien sind“. “Sie erwarten immer mehr”. Diese Sätze hören wir immer wieder von den Mitarbeiter*innen, die in den Zentren arbeiten, aus denen die Minderjährigen eindeutig flüchten wollen. Die Verantwortlichkeit für die Ereignisse wird immer den Minderjährigen zugeschoben oder dem „System“, das die Migrationsbewegungen verwaltet, oder den Institutionen oder den Gerichten oder auch Europa….Als wenn die Betreiber der Zentren nicht auch einen wichtigen Teil der Migrationspolitik wären. In den Gesprächen mit den Mitarbeiter*innen und den Verantwortlichen stellen wir fest, dass es fast unmöglich ist, die Schwierigkeiten der jungen Migrant*innen anzusprechen, ohne dass das Gespräch zu den organisierten Aktivitäten, die in den jeweiligen Zentren angeboten werden, geführt wird: wie z. B. Fußballspiele, Ausflüge, Treffen mit Migrant*innen aus anderen Zentren usw. Diese Aktivitäten sind zweifelsohne lobenswert, aber sehr oft werden sie nicht durch individuellen Schutz begleitet, der als Fundament für eine würdige Aufnahme gelten sollte. Die oben erwähnten Kommentare sollten natürlich nicht aus dem Kontext genommen werden, jedoch geben sie ein Bild der neuen Ankömmlinge wieder, als wenn sie undankbare immer konfrontationsbereite junge Menschen wären, und offenbaren eine starke Abneigung gegenüber einer Auseinandersetzung. Wie kann es sein, dass diese Migrant*innen kaum aus dem Kindesalter heraus gewachsen sind und bereits einen starken Widerstand und ein großes Misstrauen dem System, das sie nicht kennen, entgegen bringen? Einem System, dem sie sich nicht zugehörig fühlen und das sie nicht schützt? Warum gestehen wir einem flüchtenden Heranwachsenden nicht die gleichen Wünsche und das gleiche Bedürfnis nach Anerkennung und Veränderungen zu, wie jedem anderen italienischen Jugendlichen? Der Alltag in den Zentren ist für die Medien uninteressant, er empört und bewegt nicht wie die Rettungsszenen oder die Bilder der Ankünfte, aber die Migrant*innen, die die Hauptrolle spielen, sind die gleichen. Leider werden sie immer öfter nur als Gesichter, Symbole oder gar Zahlen wahrgenommen, sogar von denen, die für ihren Schutz zuständig sein sollten.

Lucia Borghi

Borderline Sicilia

*CAS - Centro di accoglienza straordinaria Außerordentliches Aufnahmezentrum
Aus dem Italienischen von A. Monteggia übersetzt