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Dienstag, 2. August 2016

Wir sitzen unter'm Holderbusch und machen alle husch, husch, husch

Das ist nicht nur ein beliebter Kinderreim, sondern beschreibt treffend den Zustand der Geflüchteten auf den Rettungsboten. Hier warten sie darauf, am Ankunftshafen identifiziert und mittels Fingerabdrücken erfasst zu werden. Sie sitzen am Boden, so dass diejenige auf sie herabschauen, die über ihr Schicksal entscheiden. 


 

 Bildunterschrift: Das Schiff „Diciotti“ in Palermo - Ph. von Alberto Biondo

Das Überlegenheitsgefühl ist bei jeder Ankunft spürbar. Am vergangenen 30. Juli erreichten wieder 120 Menschen die Küste von Lampedusa. Die Mehrheit von ihnen, vor allem die Frauen, befanden sich in sehr prekärem gesundheitlichem Zustand, aufgrund ihrer Erlebnisse in Lybien oder auf der Überfahrt. Während die Frauen weinen, verbleiben die Männer in eisiger Stille. 120 Nigerianer*innen haben ihre Füße auf festen Boden gesetzt und konnten gleich danach zu den zahlreichen Bewohner*innen des Hotspots in Contrada Imbriacola gezählt werden. Wir wissen immer noch nicht, ob ihnen ein ähnlich grausames Schicksal gilt wie ihren Vorgänger*innen aus Nigeria: diese wurden in den letzten Wochen zurück in ihre Heimat abgeschoben. 
  
Auch die 655 Menschen, die mit dem Schiff „Diciotti“ in Palermo angekommen sind, haben das gleiche Überlegenheitsgefüh der Ordnungskräfte spüren müssen, die bei der Anlandung anwesend waren, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Der Befehl der Einsatzleiter an die Polizist*innen war deutlich:  „Schnappt sie euch einzeln und lasst sie nicht entkommen, um keinen Preis.“ Bezogen war der Befehl auf die Ermittlungen, die von dem hoheitlichem Personal des Schiffes „Diciotto“ unmittelbar nach der Rettung auf dem Meer durchgeführt wurde. Die Polizeikräfte von Palermo, gemeinsam mit der Steuerfahndung und der Küstenwacht, hatten nach Anlegung des Schiffs 12 mutmaßliche Schleuser festgenommen und 24 Zeug*innen isoliert. Diese Zeug*innen werden wie üblich in den Aufnahmezentren (CAS)in der Provinz von Palermo geparkt.

Photo: Alberto Biondo 
 Während der ersten am Hafen durchgeführten Prozedere werden die Frontex-Beamt*innen, die mittlerweile abseits von anderen europäischen Agenturen operieren, von Mediator*innen der Polizei unterstützt. Diese übernehmen eine wichtige Rolle bei der Vor-Identifizierung am Landungssteg. Während dieser ersten Phase des Verfahrens sitzen oder stehen die Ankömmlinge auf dem Landungssteg und warten darauf, ein Formblatt auszufüllen, in dem sie ihren Namen, Geburtsort und Geburtsdatum eintragen. Das erscheint wie eine bloße Förmelei, berichten Migrant*innen, die dazu interviewt worden sind. Denn die übrigen Fragen im Formular füllt die zuständigen Behördenmitarbeiter*innen aus, die auch den Grund der Reise festlegen. Dabei wird „Asyl“ als Grund für die Überfahrt vom Heimatland verhältnismäßig selten angekreuzt, selbst in den Formularen von Geflüchteten, die zuvor von Mitarbeiter*innen des UNHCR erreicht und informiert worden sind.  

Unter den zuletzt Angekommenen befinden sich syrische Familien, an der Zahl 400. Sie wurden in den Hotspot von Milo gebracht, welcher diese Woche erneut die maximale Kapazitätsgrenze überschreiten wird. Dort befinden sich nämlich noch ca. hundert Menschen, die mit den letzten Schiffen kamen. Einige Ägypter*innen sind schon zurückgewiesen worden, unter ihnen ganze Familien mit Minderjährigen

Uns ist auch bekannt geworden, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Hotspots von Trapani nicht nur psychische, sondern auch physische Gewalt bei jenen angewendet wurde, die sich weigerten, ihre Fingerabdrücke zwecks Identifizierung zu hinterlassen. Trotz der "good practice" der Präfektur und der Beteriber der Aufnahmezentren, hat sich ein dienstbeflissener Polizist dazu verleiten lassen

Von den 150 Migrant*innen, die in Palermo angekommen sind, sind im Laufe des Morgens manche nach Messina, andere wahrscheinlich nach Palanebiolo und in die ehemalige Kaserne Bisconte verlagert worden, andere wiederum in die Region Kampanien. 

Photo Alberto Biondo

32 der Migrant*innen kommen aus Tunesien, Ägypten und Marokko – sie wurden ins Polizeipräsidium gebracht, um ihre Identifizierung vorzunehmen. Unter ihnen ist auch eine Frau. Es gibt keinen Zweifel daran, dass es ihnen nicht möglich sein wird, einen Asylantrag zu stellen. Warten werden sie auf dem Boden des Präsidiums. Am Ende ist wahrscheinlich, dass sie mangels Platz in den Abschiebegefängnissen an den Flughafen Falcone Borsellino in Palermo gebracht werden, mit endgültigem Zielort Tunis oder Kairo. 

Das gleiche ist auch den 28 Tunesiern ereilt, die gestern nahe Pantelleria in Haft genommen worden sind. Nachdem sie aus dem Wasser gerettet wurden, wurden sie in den Hotspot von Trapani gebracht. Von Palermo starten dann am Donnerstag ein Flug nach Tunis. 

Schließlich gibt es noch die unbegleiteten Minderjährigen in der Gruppe der 655 Neuankömmlinge. Es sind insgesamt 30. Auch sie warten am Boden bis sie ein bürokratisches Verfahren durchlaufen, was immer noch nicht fähig ist, sie würdevoll zu empfangen. Auch sie warten schon lange. Sie warten darauf, dass das Ministerium grünes Licht gibt, damit sie nach Norditalien versetzt werden. Sie sind 14 bis 18 Jahre alt. Für diese jungen Menschen greift die Lex Morcone, die die Umverteilung minderjähriger Geflüchteter regelt, dank der sie nach Bologna gebracht werden. 

 
Photo: Alberto Biondo
 Der Abend bricht an, die Scheinwerfer gehen aus. Am Boden bleiben kaputte Schuhe, nasse Kleidung, Essensreste zurück. Doch an anderer Stelle, nämlich dort, von wo Migrant*innen nach Milo gebracht wurden, ist kein Partikel Schmutz mehr am Boden zu sehen. Hier haben die Wartenden dafür gesorgt, dass sämtliche Abfälle aufgehoben und in einen Müllsack verbracht wurden. Den abgesperrte Bereich, den ihnen die Polizei zugewiesen hatte, haben sie zu einem zumutbaren Platz gestaltet. Damit haben sie uns zeigen wollen, dass auch hier Menschen leben und Teil unserer Welt sein wollen, auch wenn wir sie auf dem Boden sitzen lassen.

Mit einem Dank für diese Lektion in Sachen Zivilisation kehren wir zu unserem Julisonntag in Palermo zurück. Ein Sonntag mit schmutzigen Stränden und leeren, abgezäunten Plätzen. 

Alberto Biondo 
Borderline Sicilia

Übersetzung aus dem Italienischen von Alma Maggiore