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Dienstag, 23. August 2016

San Michele di Ganzaria: Chronik täglicher Gewalt

“Die Lage hier in San Michele ist unerträglich, ihr müsst was tun, um uns zu helfen“. Es ist Mitte Juli und ein Stadtrat der kleinen Gemeinde San Michele di Ganzaria, unweit von Caltagirone, setzt sich mit uns in Kontakt und will mit uns über die Lage der unbegleiteten Minderjährigen reden, die seit Kurzem in einer von der Genossenschaft San Francesco geführten Einrichtung untergebracht sind.
Foto: Lucia Borghi




Einen Monat davor, am 23. Juni, hatte der Bürgermeister mit einer öffentlichen Bekanntmachung angekündigt, dass 25 unbegleitete minderjährige Geflüchtete in der Einrichtung beherbergt werden sollen und dass die Migrant*innen, laut eines Protokolls des Polizeipräsidiums Trapani, welches der Gemeinde zugestellt worden war, schon am selben Tag in die Einrichtung aufgenommen werden würden. Die Bürger*innen wurden gebeten, „eventuelle gefährdende Umstände, seien sie sowohl zum Nachteil der Bewohner*innen, als auch der Einwohnerschaft, zu melden“. Schon vom Anfang an war die Zukunft der jungen Bewohner*innen, so wie die Gemeindeverwaltung diese sah, mit Schwierigkeiten behaftet und das spiegelte sich in dem Standort des Zentrums wieder. 

“Seit der Eröffnung des Zentrums fragen wir uns warum die Genossenschaft ausgerechnet dieses Gebäude ausgewählt hat. Wir haben versucht zu verstehen, warum diese Entscheidung genehmigt wurde und wir haben uns entschlossen, die Qualität der den jungen Migrant*innen angebotenen Dienstleistungen zu kontrollieren“ erklärt uns der Stadtrat. Die Unvernunft, ja sogar die Gefährlichkeit dieser Wahl hat sich schon einige Tagen nach den ersten Ankünften manifestiert: Zahlreiche Migrant*innen haben das Zentrum aus freien Stücken verlassen, wie uns ihre Freunde später erzählten, und die, die geblieben sind, laufen zu Fuß der Bundesstraße entlang, um die wenigen Kilometer entfernten Dörfer, San Cono und San Michele, zu erreichen.

„Die Kinder laufen alle zu Fuß der Straße entlang und versuchen, die Autos zu stoppen, um mitgenommen zu werden und gefährden somit ernsthaft ihre Unversehrtheit“, fährt der Stadtrat fort.“In der Gemeinde San Michele gibt es andere SPRAR* Aufnahmeprojekte– setzt er seine Erzählung fort – und es hat noch nie Vorfälle den beherbergten Migrant*innen gegenüber gegeben. Für die Einwohner*innen ist die Präsenz von Minderjährigen, die auf einmal die Straßen bevölkern,  jedoch bedrohlich: Sie fühlen sich nicht mehr sicher, sie sagen, dass die kleinen Migrant*innen sie erpressen und bedrohen“. 

Diese Ängste finden Bestätigung in den Aussagen, die neulich die Anwohner*innen Journalisten gegenüber geäußert haben und bekräftigen, wie wichtig eine flächendeckende, vernetzte und kontinuierliche Arbeit ist. „Wir haben dem Bürgermeister eine Petition zukommen lassen, in der mehr Sicherheit für die Bevölkerung der Stadt und für die minderjährigen Bewohner*innen des Zentrums verlangt wird und weitere Informationen bezüglich der Eignung der Einrichtung und des eingesetzten Personals im Einklang mit den geltenden Regelungen angefordert“. In dieser Petition vom 12. Juli wird auch nach „weitreichender Sicherheit und vermehrten Kontrollen auf den Straßen durch die Einbindung der Polizei gefragt; Es wird das direkte Einschreiten der für den Schutz und die Sicherheit der Bewohner des Zentrums zuständigen Behörden verlangt und die sofortige Meldung an den Verwalter mit dem Anliegen, sich mit Fachpersonal und Transportmitteln den Regeln anzupassen und die Bewegungen der Bewohner besser zu überwachen, angefordert“.

Die Chancen, die in der Interaktion der Migrant*innen liegen, werden zu wenig hervorgehoben und die Schwierigkeiten, die sie bei ihrer Eingliederung in die Gemeinschaft erleben, werden oft übertönt. Es ist unbedingt notwendig, dass die Bevölkerung durch interkulturelle Arbeit sensibilisiert wird, um die Interaktion und das Zusammenleben mit den Neuankömmlingen in beiderseitigem Interesse zu begünstigen. Stattdessen ist die erste Reaktion oft der Ruf nach mehr Kontrolle seitens der Polizei und das Ausrufen des Notstandes. Das ist gleichzeitig beunruhigend und kontraproduktiv: Wir sollten aus Erfahrung wissen, dass das Verlangen nach mehr Sicherheit diesen Zustand des Unwohlseins nicht nur fortsetzt sondern sogar verschlimmert. 

Der Stadtrat wiederholt seine Bereitschaft, uns zu treffen und seine Absicht, die Sachlage, durch das Wiederaufnehmen des Gesprächs zwischen Bevölkerung und kommunaler Verwaltung in Ruhe anzugehen; Wir, von unserer Seite, informieren direkt Save The Children, welche versprechen jemanden hinzuschicken und wir selbst entscheiden uns, die Einrichtung zu besuchen.

Wir erreichen das Zentrum am späten Nachmittag des 8. August. Erst später werden wir erfahren, dass nur kurz davor ein Protest stattfand: Einige Bewohner hatten demonstriert, weil das Pocket Money nicht ausgezahlt wurde und der Protest endete mit einer Anzeige wegen versuchten Menschenentführung und der Festnahme von vier Gästen, unter ihnen ein Verletzter, der ins Krankenhaus eingeliefert wurde.
Die Einrichtung liegt einige Kilometer von den Dörfern San Michele und San Cono, die sogar in den Sommermonaten nicht mehr als wenige Tausende Einwohner*innen haben, entfernt, auf einem Hügel gelegen und durch eine Schotterstraße erreichbar, die in einer der vielen Kurven von der Bundesstraße abzweigt.

Einige junge Bewohner*innen zeigen uns sogleich das Zimmer, in dem sich an die zehn Mitarbeiter*innen und der Verantwortliche versammelt haben. Wir werden informiert, dass sie im Moment leider keine Zeit für uns haben und werden gebeten, uns in den nächsten Tagen mit dem Verantwortlichen in Verbindung zu setzten, um mit ihm über die Möglichkeit eines Treffens und eines Besuchs der Einrichtung zu sprechen. Wir kommen ihrer Bitte sofort nach, haben aber bis heute immer noch keine Antwort erhalten. Da wir, aufgrund der Dringlichkeit der stattfindenden Besprechung, nicht empfangen werden, kehren wir um und dabei entdecken wir einige junge Migrant*innen, die sich auf dem Platz vor der Einrichtung zusammengefunden haben. Ungefähr zehn junge Menschen, unbewegt, fast starr an die Wand angelehnt, mit müden Gesichtern und ohne ein Lächeln: mit einem unsteten Blick beobachten sie ganz aufmerksam die Gegend und stehen einfach da. Neben ihnen steht ein Mediator, der wartet, um mit den Mitarbeitern sprechen zu können. Er informiert uns über die Schlägerei, die gerade stattgefunden hat und bleibt die ganze Zeit, die wir mit den jungen Migrant*innen verbringen, bei uns.

Die Anspannung ist sehr stark, trotzdem begrüßen uns einige der Migrant*innen und wir stellen uns gegenseitig vor. Im Zentrum sollen im Moment 15 Migrant*innen aus Ägypten, Gambia, Mali, Senegal und Nigeria untergebracht sein und zwei Jungs aus Eritrea, einer davon an der Krätze erkrankt. Manche sind schon seit einem Monat hier, manche wiederum erst seit einigen Tagen; einigen habe schon einen Vormund, manche noch keinen; aber alle sagen uns, dass sie keine genauen Informationen bez. ihrer Papieren haben. „Wir besuchen einen Italienisch-Kurs, wenn wir krank sind, kümmern sie sich um uns und bringen uns ins Krankenhaus“.

Ein junger Mann mit einem verbundenen Fuß erzählt uns, dass er in Libyen mit einer Waffe verletzt wurde: Er ist in Augusta angekommen und wurde sofort ins Krankenhaus eingeliefert und später zum Zeltlager am Hafen zurückgebracht, wo er einige Tage verbrachte, bevor er hierher verlegt wurde. „Ich kann mich nicht frei bewegen, deswegen muss ich die ganze Zeit hier bleiben, aber im Krankenhaus pflegen sie mich“ - erzählt er uns. Alle erzählen uns, dass Identifikationsfotos von ihnen gemacht wurden, manche sind in Catania angekommen, andere in Pozzallo, „Ich war einen Monat lang im Zentrum in Pozzallo, möchte aber nicht darüber reden“, vertraut uns ein Minderjähriger an.

Einige von ihnen haben Kontakte zu den Mitarbeiter*innen von Save the Children geknüpft, aber im Allgemein scheinen alle nicht wirklich über ihre Rechtslage Bescheid zu wissen und auf jeden Fall ist das nicht das Thema des Gesprächs. „Unsere Zimmer sind mit zwei, drei oder auch vier Betten ausgestattet, das Gebäude ist relativ neu, es gibt hier Mitarbeiter*innen, Mediator*innen und eine/n Lehrer*in. Wir haben aber bis jetzt noch nie das Pocket Money oder eine Telefonkarte bekommen, und das ist ein großes Problem für uns“. 

Sogar die Verteilung der Bekleidung scheint ziemlich willkürlich abzulaufen. „Ich bin seit zehn Tagen hier und habe noch keine Wechselkleidung bekommen, einige hingegen haben sie schon bekommen und wiederum andere auch nicht“. „Viele junge Migrant*innen sind auf eigene Faust weggegangen und wir wissen nicht wohin. Wir sind hier weit weg vom allen, um ins Dorf zu gehen, müssen wir stundenlang laufen, wir tun es aber trotzdem, weil es die einzige Möglichkeit ist, von hier wegzukommen. Wir sind wirklich weltabgeschieden!“. 
Diese Aussagen zeigen nachdrücklich das Desinteresse derjenigen an, die die „Aufnahme“ der Migrant*innen verwalten. Die Migrant*innen werden um ihre Möglichkeiten soziale Kontakte zu knüpfen gebracht, und somit auch die Möglichkeit, sich ein normales Alltagsleben mit Arbeit und Perspektiven in Italien aufzubauen. Die Möglichkeit zu leben und nicht nur zu überleben, und wir dürfen nicht vergessen, dass wir hier über 16- oder 17-jährigen oder sogar erst 15-jährigen sprechen. Die überwiegenden Gefühl sind Ungeduld und Frustration: Diese jungen Menschen haben ihr Leben riskiert, um die Freiheit zu erlangen und jetzt finden sie sich monatelang in einem Hotspot, einem Zeltlager oder in Einrichtungen wie dieser wieder, „gefangen“ und das ohne einen Grund und müssen sich quasi bedanken, weil sie diese Unterbringung bekommen haben. 

Einige Bewohner*innen aus Ägypten erzählen uns, dass sie abends, besonders an den Wochenenden, nach San Cono gehen. Am letzten Samstag wurden vier Minderjährige aus Ägypten, die im Zentrum untergebracht waren, von jungen Anwohner*innen San Conos überfallen. Die Nachricht wurde in fast allen lokalen und nationalen Medien wiedergegeben. Einer der zusammengeschlagenen Jungen liegt immer noch im Garibaldi Krankenhaus in Catania, wo er einer sehr schwierigen, neurochirurgischen Notoperation unterzogen wurde und sein Zustand ist immer noch sehr kritisch. Angesichts dieses unerhörten und bis hierhin beispiellosen Gewaltakts fehlen uns die Worte, aber wir sind um so mehr entschlossen, endlich den Schleier der Heuchelei zu zerreißen, der sich um die Diskussionen und Erörterungen, die bis heute über das Zentrum für unbegleitete Minderjährigen geführt wurden, gelegt hat. 

Was wir jetzt brauchen – in Anbetracht der unangemessenen, jedoch alltäglichen Gewaltanwendungen, die es nicht bis in das Flutlicht der Presse schaffen, der Vereinsamung und der Vernachlässigung, der Schwierigkeit, einen wechselseitigen Dialog zwischen Bevölkerung und Neuankömmlingen entstehen zu lassen – sind nicht weitere, strengere Kontrolle oder Absperrungen, um andere Unglücke zu vermeiden; Das was dringendst nötig wäre, ist eine kontinuierliche, alltägliche, interkulturelle Arbeit soziale Inklusion, Legalität und die Beachtung von Rechten und Pflichten beinhaltend, die wir alle gemeinsam haben.

Lucia Borghi
Borderline Sicilia

*SPRAR: Sistema di Protezione per Richiedenti Asilo e Rifugiati - Einrichtung für die Aufnahmen von Asylsuchende und Geflüchteten (mit Integrationsangeboten)

Aus dem Italienischen von A. Monteggia übersetzt