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Samstag, 7. Mai 2016

Lampedusa, „Befreit uns aus diesem Gefängnis!“

Aus La Repubblica, Giacomo Zandonini - Mehr als siebzig Geflüchtete befinden sich im Hungerstreik gegen den Identifizierungsprozess und gegen das „System Hotspot“, und haben sich gestern auf einer Piazza im Zentrum Lampedusas zusammengefunden, mit der Forderung, die Insel verlassen zu dürfen. Weitere 400 Menschen sind innerhalb von 24 Stunden auf der Insel angekommen.
LAMPEDUSA - Sie sind heute als erste auf der Insel wach geworden, bespritzt vom Salz der angespannten Luft, die vom lauwarmen Scirocco zum Levantenwind werden wird, gemischt mit Regen. Nachdem sie Freitagnachmittag alle einzeln das Erstaufnahmezentrum von Contrada Imbriacola verlassen haben, das heute mittlerweile in einen europäischen Hotspot verwandelt wurde, haben circa siebzig Flüchtlinge aus Äthiopien, Eritrea, Somalia, dem Sudan und Jemen auf dem Platz vor der Kirche geschlafen, der Hauptstraße von Lampedusa gegenüberliegend, Via Roma, die direkt nach Nordosten zeigt, nach ein Italien, das sie gern als Übergangsstraße nutzen würden. Weil sie seit Monaten auf der Insel festsitzen, sind sie entschlossen, draußen zu schlafen, „ohne zu essen, noch zu trinken, bis sie uns nach Sizilien lassen“.

„We are refugees, we need freedom“ - „Wir sind Flüchtlinge und brauchen Freiheit“, „Wir wollen raus aus diesem Gefängnis“. Mit Hand auf Papierbannern des Zentrums geschrieben haben die Forderungen der in der Einrichtung von Contrada Imbriacola ansässigen Migrant*innen die Aufmerksamkeit der Bewohner*innen Lampedusas auf sich gezogen, die es gewohnt sind, den Gästen der Insel kleine Gesten der Solidarität zu geben: vom WLAN in Bars und auf öffentlichen Plätzen über improvisierte Sprachkurse. Nur manche sind denjenigen, die nach ermüdenden Reisen über Nordafrika und den Orient auf Lampedusa landen, feindselig gestimmt.

Im Protest gegen den Hotspot. Der seit Freitag, den 6. Mai, andauernde Protest ist der dritte seit im September 2015 das ehemalige Zentrum für Erstaufnahme und -hilfe, in einem kleinen Tal mitten auf der Insel gelegen, zum Hotspot der mittlerweile zehn derartigen Strukturen (fünf in Griechenland, fünf in Italien) ernannt wurde. Eritreische Bürger*innen, die nach den von der Migrationsagenda der EU-Komission vorhergesehenen „relocation“-Prozeduren in andere europäische Länder umgesiedelt hätten werden können, sind bereits im Dezember und im Januar auf die Straßen gegangen, um das System zu kritisieren, das sie tatsächlich dazu gezwungen hätte, die Entscheidung der Funktionäre der EU zu akzeptieren.

Von den Fingerabdrücken festgehalten. Ein zentraler Punkt des Protestes ist jener der Identifizierung durch die Ausstellung von Fingerabdrücken. „Wenn wir hier identifiziert werden, werden wir in Italien bleiben müssen, obwohl wir Bekannte und Freunde in anderen Ländern haben“, erklärt uns Abdi, ein zwanzigjähriger Äthiopier, in hochschultauglichem Englisch. Im Januar auf der Insel angekommen, nachdem er Südsudan, den Sudan und Libyen durchquert hat, hat er sich wie alle Anwesenden geweigert, seine Fingerabdrücke nehmen zu lassen, „und jetzt sitze ich hier fest, ohne auch nur ein Dokument, ohne Rechte“. Den jungen Mann beunruhigen außerdem die Beziehungen zwischen seinem Land und Italien. „Ich gehöre der Ethnie Oromo an und seit Monaten nimmt die äthiopische Regierung Mitglieder meiner Gemeinde fest und bringt viele um. Ich weiß, dass Italien in vielerlei Beziehungen zu ihnen steht, euer Präsident ist sogar nach Äthiopien gefahren, bin ich hier also überhaupt sicher?!“, fragt er mit besorgtem Gesicht.

Auf der Flucht vor Kriegen und Gewalt. So wie Abdi seinen Vater verloren hat, der Opfer der Unterdrückung vom Regime in Addis Abeba wurde und ein „wunderschönes Leben, in dem es uns an nichts fehlte“, zurücklassen musste, so haben alle Geflüchteten, die auf die Straße gehen, Gewalt, Misshandlung und Trauer hinter sich. Mohammed hat sein Land direkt nach dem Universitätsabschluss in Zoologie verlassen, indem er vor einem Krieg in der Region Darfur im westlichen Sudan flüchtete, der seit zehn Jahren andauert und jüngst viele Tote und Evakuierungen forderte. Genau das Regime von Al-Bashir, Präsident des Sudan seit 1989, der beim Internationalen Strafgerichtshof unter Anklage auf Genozid und Kriegsverbrechen in Darfur steht, ist paradoxerweise einer der Partner von Italien und Europa im Kampf gegen die irreguläre Immigration vom Afrikanischen Kontinent nach Libyen.

„Kritische“ Bedingungen im Hotspot? Abdulwahab, der vor sich kreuzenden Bombardierungen von Saudi Arabien und der Houthi-Milizen im Jemen floh, hat „zwei Meere überquert, das Rote und das Mittelmeer, und zur Hälfte die Sahara“, während Umar, der neben ihm sitzt, vor der militärischen Einberufung, erzwungen von der Gruppe Al Shabaab, die einen Großteil Somalias kontrolliert, geflohen ist. Neben der Bitte, andere europäische Länder erreichen zu dürfen, zeigen die Migrant*innen die prekären Bedingungen im Hotspot an. "Wir schlafen auf dreckigen und oft feuchten Matratzen, wegen der Lecks in den Bädern", erklären sie, und erzählen dann von Erfahrungen von "Gewalt und Einschüchterung gegenüber denen, die keine Fingerabdrücke geben wollen." Im Februar seien 18 Sudanes*innen verprügelt worden, und täglich würden "diejenigen, die sich nicht identifizieren lassen, diskriminiert, erhält seine Mahlzeiten nicht pünktlich und unterliegt stetigem Druck".

Neues Anlegen und Überfüllungen. Während sich die Geflüchteten für die Nacht vorbereiten, gehen weniger als ein Kilometer von ihnen entfernt 121 Menschen von zwei Wachbooten der Küstenwache von Bord, die vom Schiff „Bourbon Argos“ von Mediciens sans frontières (MSF) gerettet wurden. Männer, Frauen und acht Kinder, das jüngste wenige Monate alt, die Donnerstag Nacht von Libyen gestartet sind, wurden in den Hotspot gebracht. Dieser beherberge heute, so örtliche Quellen, fast 550 Personen, unter ihnen mehrere dutzend unbegleitete Minderjährige. Die Landung von gestern Nacht ist die vierte auf der Insel innerhalb der letzten 24 Stunden. „ Wir sind besorgt“, sagte Sebastien Stein, Koordinator von MSF an Bord, „ denn wir wissen, dass diese Personen, gezwungen zu gefährlichen Reisen und ohne legale Einreise nach Europa, auf wirklich unangemessene Zustände treffen werden.“ Sie erwartet außerdem eine unvorhergesehene bürokratische Wartezeit, die Amtsgänge für Menschen mit sich bringt, die eigentlich Freiheit und Zuneigung suchen.

aus dem Italienischen von Sophia Bäurle