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Samstag, 28. Mai 2016

Das Notfallprinzip wird weiterhin praktiziert

Foto: Alberto Biondo
Herzzerreißendes Weinen der Kinder, der leere Blick eines jungen Mannes, der als Schlepper bezeichnet wurde, die Angst einer Frau beim x-ten Mal in einer Warteschlange stehend, das ungewisse Schicksal aller, die die Landungstreppe des Schiffes „Dattilo“ hinunterkommen, um sich in eine unendlich lange Warteschlange einzufügen auf ihrem Weg ins Ungewisse. Davon und von manch anderem sind wir Zeug*innen im Hafen von Palermo während der letzten Tage. Hier gingen 1052 Personen an Land, die in 8 verschiedenen Einsätzen der SAR, des Such- und Rettungsdienstes, durch die italienische Küstenwache gerettet wurden.


 

Foto: Alberto Biondo
Am Hafen beglückwünschen sich die anwesenden Akteur*innen, institutionelle und andere, zu den geglückten Rettungsaktionen. Aber wie jedes Mal genügt der gute Wille allein nicht, und es ist offensichtlich, wo die Schwachstellen des nichtfunktionierenden Systems sind. Die Menschen in der Warteschlange machen das sofort sichtbar. Als Antwort auf die Anordnungen der Polizei, setzen sie sich dicht hintereinander auf den Boden, genauso wie auf dem Boot, ein Zeichen von Angst und psychischem Stress. Die erlittene Gewalt und Folterungen bestimmen ihr Verhalten und bleiben unauslöschlich in ihrem Gedächtnis.
 

Foto: Alberto Biondo
Nach drei Tagen auf dem Schiff sind Schürfwunden auf ihrer Haut sichtbar. Danach einen ganzen Tag ungeschützt an der Sonne im Hafen von Palermo zu warten, ist eine Qual. Viele werden sogleich in Busse gebracht und in die Lombardei, den Veneto, die Toscana, in den Piemont und nach Kampanien verlegt. Andere, auch viele unbegleitete Minderjährige, haben die Nacht im Freien zugebracht, vor dem Weitertransport in die Empfangszentren. Andere nächtigten vor der Präfektur, um ihre Fingerabdrücke nehmen zu lassen. Für weitere 85 Erwachsene, die erklärten, nicht volljährig zu sein, hatte das Schicksal eine andere böse Wendung bereit: Sie haben die Nacht im Innern des Busses verbracht um am darauffolgenden Morgen in die Präfektur von Palermo gebracht zu werden. Von dort brachen sie gegen neun Uhr morgens auf zur Reise in ein CAS* in den Marken.


 Und die zuletzt angekommenen unbegleiteten Minderjährigen, in der Mehrzahl Jugendliche aus Gambia, Nigeria, Guinea, aus der Elfenbeinküste und dem Senegal, die in Sizilien zurückgeblieben sind, werden die Rechnung für das kollabierte System bezahlen.
Da es keine freien Plätze gibt in den Institutionen für Minderjährige, werden sie gezwungen sein, illegalerweise und für unbestimmte Zeit in einem Hotspot auszuharren (wie es in Lampedusa und Pozzallo bis heute üblich ist) oder wie in Palermo in Notunterkünften der Caritas oder in bereits vollen Zentren, wo täglich protestiert wird, wie im Zentrum Asante in der Via Monfenera in Palermo. Noch schlimmer ist es, wenn sie in defizitären Unterbringungen platziert werden, die die eben volljährig gewordenen von einem Moment auf den anderen auf die Straße setzen und ihnen damit alle Hoffnung nehmen –  so geschehen im Fall eines jungen Nigerianers, der Gast war in der Gemeinschaft "Dumbo" in Licata.
 



Natürlich durfte die Festnahme der vermeintlichen Schlepper nicht fehlen! Es waren derer 16, zwei auf jedem geretteten Boot, Sündenböcke, die auf den Titelseiten der Presse präsentiert werden und dazu 27 mögliche Zeug*innen für die Justiz.


Foto: Alberto Biondo
Was bleibt nach einer so umfangreichen Anlandung sind Plastiksäcke auf dem Pier und die unauslöschliche Erinnerung an den Gesichtsausdruck der Migrant*innen. In diesem gescheiterten Aufnahmesystem genügt der gute Wille der Betreiber und der NGOs nicht, obwohl sie ihr möglichstes versuchen, um die Ankunft und den Aufenthalt der Migrant*innen zu erleichtern. Das Scheitern des Systems reicht jedoch zum Aufschrei, dass wieder einmal der Ausnahmezustand herrscht, um den reibungslosen Ablauf der Pläne der Betreiber und der Nutznießer von diesem Massakerspiel zu garantieren.


Alberto Biondo
Borderline Sicilia


*SAR     Search and Rescue: Such- und Rettungsdienst, in Italien vor allem durch die Küstenwache
*CAS    Centro Accoglienza Straordinario: im Auftrag des Staates geführtes, außerordentliches Aufnahmezentrum


Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne