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Montag, 30. Mai 2016

Ankunft am Hafen von Palermo: 604 Personen auf dem Schiff von Ärzte ohne Grenzen

Die Geretteten auf dem Schiff von Ärzte ohne Grenzen stammen ausnahmslos aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Paola Mazzoni (Ärzte ohne Grenzen): „Wenn sie die Wahl haben entweder in Afrika oder in Europa wie Sklaven zu leben, so sind sie es noch lieber in Europa, wo sie wenigstens ein paar Rechte haben.“



Es ist bereits die x-te Ankunft von über 600 Geflüchteten, am Pier Santa Lucia im Hafen von Palermo, gerettet von dem Schiff Bourbon Argos der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Die Ankömmlinge sind alle sehr müde, jedoch fast alle in gutem gesundheitlichem Zustand. Ursprünglich stammen sie aus Nigeria, der Elfenbeinküste, dem Sudan und dem Senegal, die am vergangenen Donnerstag an der libyschen Küste in die Boote gestiegen sind. Gerettet wurden sie am Freitag Morgen von Handelsschiffen, bevor sie in der Nacht auf die Bourbon Argos umsteigen konnten. Im Hafen selbst koordiniert die Präfektur sämtliche Vorgänge. Freiwillige der Caritas, Comboni-Missionare, der Katastrophenschutz, das Rote Kreuz, Sanitäter, Psychologen der Regionalen Gesundheitsbehörde sowie Ordnungskräfte leisteten erste Hilfe und verteilten Kleidungsstücke, Essen und Trinken an die Geflüchteten. Anwesend war auch der Polizeipräsident und Stadtrat für Sozialpolitik Agnese Ciulla.

In diesem Fall handelt es sich um 500 Männer und 73 Frauen, von denen 15 schwanger sind, ca. 50 unbegleitete minderjährige Geflüchtete sowie zehn Kinder unter fünf Jahren. Der Großteil von ihnen wird in andere Regionen Italiens gebracht werden. Ca. 200 von ihnen werden jedoch nach ihrer ersten Identifizierung im Polizeipräsidium im Hafen bleiben müssen und darauf warten, dass ein Bus sie in die Zentren, für die sie bestimmt sind, bringt.

Auf dem Rettungsschiff empfing und kümmerte sich ein Team von Ärzte ohne Grenzen um die Geflüchteten, das erneut auf die dramatischen Bedingungen hinwies, vor denen die Geflüchteten in Libyen fliehen müssen. „Leider sind unter den Härtefällen, von denen uns erzählt wird, immer wieder Fälle junger Mädchen, die von ihren Familien losgerissen wurden und Opfer sexueller Gewalt wurden oder auch jungen Männern, die geschlagen wurden.“, erzählt uns Paola Mazzoni, pensionierte Anästhesistin und Ärztin an Bord der „Bourbon Argos“, dem Rettungsschiff von Ärzte ohne Grenzen. „Wir kümmern uns um Menschen, die oft monatelang unter Hunger, Kälte oder unter physischer und psychischer Gewalt gelitten haben und in den libyschen Gefangenenlagern wie Sklaven behandelt wurden. Schon in ein Boot zu steigen ist eine riskante Sache, die bei vielen häufig mit dem Tod endet, doch sogar diese Gefahr nehmen sie auf sich, lediglich um Libyen zu entfliehen, ein Land in dem ihr Leben nichts wert ist. Wenn sie sich entscheiden können wie Sklaven in Libyen zu leben oder in Europa, so sagen sie kommen sie noch lieber nach Europa, wo sie zumindest ein Minimum an Rechten haben. Als wir sie retten, danken sie uns, beten und umarmen uns. Es sind sehr emotionale Momente und ich wünsche jedem, dass er diese Momente einmal miterlebt, trotz der für uns körperlich sehr anstrengenden Arbeit. Wir sollten uns immer wieder daran erinnern, dass es Menschen wie du und ich sind, die hier ankommen. Menschen, die Hoffnungen haben und die wie neugeboren wirken, wenn sie nach langer Überfahrt endlich unsere Küsten erreichen. Ärzte ohne Grenzen fordert Europa daher auf, nicht die Augen vor diesem Problem zu verschließen, sondern vielmehr mögliche Lösungen zu suchen – Lösungen, die die Rechte dieser Menschen respektieren und stärken.

„Von 600 Personen haben wir ca. 300 auf dem Schiff untersucht“, berichtet die Ärztin von Ärzte ohne Grenzen. „Es handelt sich hauptsächlich um stark unterernährte Personen oder Geflüchtete, die aufgrund der Kälte an Unterkühlung leiden, und daher psychisch und physisch sehr angegriffen sind. Viele haben zudem einen niedrigen Blutzuckerspiegel, der bei anderen Rettungen in vielen Fällen zu einem Koma aufgrund von Unterzuckerung geführt hat“. Das Team von Ärzte ohne Grenzen hat an Bord eine erste Form der psychologischen Betreuung eingeführt. Diese wird von speziell ausgebildetem Personal übernommen, das zunächst versucht, Vertrauen wiederherzustellen und Trost zu spenden. Ziel dieser ersten psychologischen Betreuung ist es vor allem das Stresslevel der Gruppe zu senken.

An Bord des Schiffes befindet sich zudem der interkulturelle Mediator Ahmad Alrousan, der letztes Jahr zum Ehrenbürger von Orlando ernannt wurde. „Was wir mit Sicherheit feststellen können ist, dass die Gewalt in Libyen zugenommen hat, das sehen wir an den offenen und blutigen Wunden, die die Geflüchteten haben. Sie erzählen uns oft, dass sie während ihrer Zeit in den libyschen Auffanglagern geschlagen wurden und überhaupt keine Rechte hatten. Die Lager, in denen die Geflüchteten unter schlimmsten Bedingungen hausen müssen und nur auf den Tag ihrer Abfahrt warten, sind meistens einfache Gehöfte in den Peripherien der Städte. Oftmals haben sie zuvor bereits für ihre Reise nach Europa zahlen müssen. In den Lagern selbst werden sie nicht selten entmenschlicht und schlichtweg mundtot gemacht, denn jedes Mal, wenn sie nach etwas fragen, werden sie geschlagen. Als wir sie aufnehmen wird ihre Stimme zum ersten Mal wieder gehört – ein Recht das ihnen zuvor verwehrt blieb. Leider sind unter den Geflüchteten auch viele Minderjährige und junge Mädchen, die höchstwahrscheinlich Opfer körperlicher Gewalt sind. All diese Informationen werden registriert, obgleich das größte Interesse der Politiker heutzutage immer noch darin besteht, die Ankünfte der Migrant*innen zu stoppen. Auf diese Weise gibt Europa sein Grundprinzip der Solidarität und der vollen Anerkennung der Menschenrechte quasi auf.“ „Auf dem Schiff gäbe es auch lustige Momente, wenn beispielsweise mit den Kindern gespielt wird,“ erzählt er weiter, „oder wenn Real Madrid ein Spiel gewonnen hat und die Freude danach groß ist. Es sind Personen, die trotz der Dinge, die sie durchmachen mussten, immer noch große Lust haben, sich wieder zu fangen, indem sie ihr Leben wieder in die Hand nehmen und versuchen unserem Land etwas zurückzugeben“.

Unter den freiwilligen Helfern, die heute am Hafen anwesend sind, befindet sich auch der vorsitzende Pater der Comboni-Missionare, der Äthiopier Tesfaye Tadesse. „Die Ankunft der vielen Menschen berührt unsere Herzen natürlich sehr“, sagt er uns. „Zu sehen wie meine afrikanischen Brüder und darunter auch junge Frauen mit Kindern und Schwangere ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, zeigt zwar einerseits ihren Mut, andererseits jedoch auch die Mängel in unserer Gesellschaft, die ihr Verhalten und ihre Beziehung zu diesen Menschen komplett ändern muss. In Palermo wie auch in anderen Orten Italiens lerne ich immer wieder großzügige Menschen kennen, die Geflüchtete mit offenen Armen empfangen. Sehr präsent in der Stadt sind meiner Meinung nach vor allem die Comboni-Missionare. Sicherlich wird eine Antwort Italiens jedoch alleine nicht ausreichen. Vielmehr brauchen wir auch die anderen europäischen und manche afrikanischen Länder. Europa und Afrika müssen gemeinsam klare Antworten geben. Nur so kann besser mit Fluchtgründen wie Krieg und Armut umgegangen werden, die die Menschen zwingen ihre Heimat zu verlassen.“

Heikel sind vor allem Fälle von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten. „Das größte Problem, wie wir immer wieder betont haben“ – bestätigt Judith Gleitze von Borderline Sicilia – ist es, wenn Minderjährige sich als volljährig ausgeben, es jedoch keine Papiere gibt, die das belegen. Dies führt dazu, dass die Zahl der Minderjährigen auf dem Papier oftmals deutlich geringer ist als die anfänglich veröffentlichten Zahlen der anwesenden Minderjährigen. Zudem enden Einige, die sich als volljährig ausgeben, immer wieder in außerordentlichen Aufnahmezentren, in denen sie unzähligen Gefahren ausgesetzt sind. Das alles sollte einerseits für ihr Wohlsein vermieden werden, andererseits, um das hohe Risiko Schleppern jeglicher Art ausgeliefert zu sein, zu minimieren.“ „Was das Thema der Immigration generell betrifft, so verschließen weiterhin viele europäische Länder ihre Türen für die Migrant*innen. Auch das Relocation-Programm konnte bisher nicht wie geplant umgesetzt werden, so wurden nur sehr wenige Geflüchtete umgesiedelt.“ Das ganze System müsste von Grund auf erneuert werden. Stattdessen sind wir weiterhin damit beschäftigt unsere europäischen Regierungen aufzufordern, es nicht weiter hinzunehmen, dass Menschen unter solchen Bedingungen zu uns kommen und dabei ihr Leben auf offenem Meer aufs Spiel setzen, ohne dabei überhaupt ernsthaft über eine menschenwürdigere Form der legalen Einreise nachzudenken.“ (set)


Aus dem Italienischen von Marlene Berninger