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Freitag, 1. Januar 2016

Newsletter SICILIAMIGRANTI – Dezember 2015

  • Europa möchte neue HOTSPOTS. Italien verletzt weiterhin Rechte der Migrant*innen
  • Lampedusa, Agrigent und Syrakus. Zurückweisungen, Haft und Abschiebungen: zwischen den Protesten der Migrant*innen und der Gleichgültigkeit der Institutionen
  • Neue Ankünfte: Immer mehr Verwirrung und weniger Respekt für die Würde der Menschen
  • Unbegleitete Minderjährige: Wenn die Schwächsten die Ersten sind, die abgewiesen werden
EUROPA MÖCHTE NEUE HOTSPOTS. ITALIEN VERLETZT WEITERHIN DIE RECHTE DER MIGRANT*INNEN

Europa verlangt die beschleunigte Öffnung von neuen Hotspots in Sizilien und drängt auf die Abnahme von Fingerabdrücken unter Anwendung von Zwang. Europa begründet die Verzögerung bei den  Unterbringungen mit der geringen Anzahl der Migrant*innen, die als „Kandidaten“ zur Verfügung stehen. In der Zwischenzeit werden die Zurückweisungen, Rückführaktionen sowie Abschiebungen zulasten der Migrant*innen fortgesetzt, die willkürlich auf Grundlage ihrer Herkunft ausgewählt werden, ohne dass sie Zugang zu irgendwelchen Informationen erhalten. Borderline Sicilia prangert bei Radio Popolare die Heuchelei eines Systems an, das weiterhin behauptet, die Integration und den Schutz von Geflüchteten zu gewährleisten, während der Strom mit Gewalt und mit „außerhalb des Rechtssystems“ liegenden Mitteln gestoppt wird.

Die italienische Regierung verwandelt den getroffenen Abmachungen gehorchend unvermittelt das CIE*  Contrada Milo in Trapani in einen Hotspot, ohne jegliche rechtliche Grundlage oder einem klaren Rechtsstatus. Die ersten Migrant*innen werden weiterhin in ein sich noch in der Sanierung befindliches Gebäude verlegt.

Ärzte ohne Grenzen beschließt, das Projekt der medizinischen und psychologischen Versorgung im CPSA* von Pozzallo und in einigen CAS* in der Gegend von Ragusa zu beenden. Einen Monat nach Vorlage eines detaillierten Berichts über die kritische Lage im CPSA* stellt ihr Personal nicht einmal ein Minimum an politischem Willen fest und sieht sich unfähig, das eigene Mandat fortzusetzen. Es handelt sich hierbei um eine starke, anprangernde Geste, mit der ÄoG seinen Appell wiederholt, konkrete und dringende Antworten zu liefern. Andere Projekte in Sizilien außerhalb der Aufnahme- und Verteilungszentren werden jedoch fortgesetzt.


LAMPEDUSA, AGRIGENT UND SYRAKUS.  Zurückweisungen, Haft und Abschiebungen: zwischen den Protesten der Migrant*INNEN und der Gleichgültigkeit der Institutionen

Die neue Migrationspolitik konkretisiert sich durch repressive und polizeiliche Maßnahmen gegenüber den Flüchtlingen, und wieder einmal ist Lampedusa ein Präzedenzfall, dem andere Zentren folgen: Migrant*innen, die zu Fotoaufnahmen gezwungen werden, die auf Grundlage der neuen Abkommen mit alles anderem als sicheren Ländern zurückgeschickt werden; Migrant*innen, die bei ihrer Ankunft in Sizilien abgewiesen und auf der Straße zurückgelassen werden; Abschiebungen von Asylsuchenden, die auf die Anfechtung der behördlich angeordneten Abschiebungen warten, ein Ausdruck der willkürlichen Entscheidung der jeweils zuständigen Beamten, die die Macht haben, rechtswidrig und diskriminierend die Opfer ihrer Unterdrückung auszusuchen. Das passiert Hunderten von Migrant*innen aus dem subsaharischen Afrika und auch dem Horn von Afrika, oft schutzbedürftige Minderjährige und Opfer von Gewalt. Zerstörte Leben, die mit ansehen müssen, dass ihr Wunsch nach Freiheit von einem Land zerstört wird, das sich als ausgewiesen rassistisch zeigt. In der Zwischenzeit berufen sich die zuständigen Akteure der Institutionen auf neue Übereinkommen mit Europa und Drittländern und treten das Asylrecht mit den Füßen.

Die düstere Praxis der befristeten Abschiebungen  ist auch in der Provinz von Syrakus wieder aufgenommen worden, durch welche sich dutzende Migrant*innen auf der Straße mit der Aufforderung wiederfinden, Italien vom Flughafen Rom Fiumicino aus in sieben Tagen zu verlassen. Wer versucht, die wahren, oft tragischen Gründe seiner Flucht zu erklären, stößt auf unsichtbare Mauern.  Zu einem Zeitpunkt des voranschreitenden Abbaus jeglichen Schutzes, verlangt Borderline Sicilia in einer gemeinsam mit anderen sizilianischen Unterstützervereinen verfassten Stellungnahme mit Dringlichkeit die Wiederherstellung der nötigen Bedingungen zur Garantie der Erhaltung der Grundrechte.

Aber auch die Migrant*innen haben es geschafft, ihre Stimmen bemerkbar zu machen. Mehr als zweihundert Geflüchtete, die in den Hungerstreik getreten sind, haben in den Straßen von Lampedusa demonstriert und für ihre Bewegungsfreiheit und das Recht auf die Wahl eines Landes zum Aufbau ihrer Zukunft protestiert. Nachdem sie gesetzeswidrig wochenlang im überfüllten Hotspot festgehalten wurden und psychologischem Druck sowie menschenunwürdigem Handeln ausgesetzt waren, protestieren sie dagegen, von Europa nur als Nummer betrachtet zu werden; ein Europa, das nur daran denkt, nach Lust und Laune über sie zu bestimmen, zu selektieren und zu verteilen. Derjenige, der von diesem ausschließenden System als illegal angesehen wird, sieht sich im Stich gelassen und in extremer Unsicherheit ebenfalls der Bedrohung durch wiederholte xenophobe Handlungen, die durch die neuen Praktiken der Regierung begünstigt werden, ausgesetzt, sodass die Aufmerksamkeit von dem, was sie weiterhin nicht tun, abgelenkt wird.


NEUE ANKÜNFTE: IMMER MEHR VERWIRRUNG UND WENIGER RESPEKT FÜR DIE WÜRDE DER MENSCHEN

Die Zahl der Ankünfte nimmt nicht ab – und sie sind begleitet von einer sichtbaren Zunahme der Sicherheitsmaßnahmen. Wer überlebt, trifft an Land sofort auf den Kontrollapparat und auf die Unterteilungsmaßnahmen (zur Aufnahme oder Abschiebung, Anm. d. Red.) – Maßnahmen, von denen die Zivilgesellschaft strikt ferngehalten wird.  Die Einweisungen ins CARA* von Mineo nehmen inzwischen wieder zu, nachdem in den letzten Monaten von dort nur Abgänge verzeichnet wurden.

Über die Zustände im CARA* von Mineo sind die Untersuchungen der parlamentarischen Antimafia- Kommission der Sizilianischen Regionalversammlung immer noch im Gange. Die Existenz eines "roten Fadens", der die Geschehnisse im CARA* und in den SPRAR* im Gebiet zwischen Catania und der Inselmitte mit politischen Kreisen und Institutionen in Rom verbindet, hat sich bestätigt. Die Ermittlungen machen die Rollen der Schlüsselpersonen und politischen Vertreter*innen deutlich: gesteuerte Anstellungen, vorgetäuschte Integrationsangebote, dazu die katastrophale Betriebsführung des CARA*, wo die Migrant*innen Nummern bleiben und als solche auch verschwinden können.

Entgegen allen Anstands werden die Bürger*innen weiterhin mit falschen Versprechungen davon abgelenkt, was wirklich geschieht. So haben sich verschiedene Regierungsvertreter*innen bereit erklärt, die tausend Migrant*innen, die am Jahresende in Palermo gelandet sind, aufzunehmen. Sie versicherten, sich insbesondere für die mehreren hundert Jugendlichen darunter zu engagieren. Sobald die Scheinwerfer erlöschen, will die italienische Regierung hingegen Europa nicht enttäuschen: so kam es, dass die Jugendlichen aufgrund von neuen und konfusen Anordnungen die Nacht im Hafen verbrachten, wieder in gänzlich ungeeigneter Unterbringung. Auf der Mole spielte sich die barbarische Unterteilung ab, in solche, die Hoffnung auf eine Zukunft in Italien haben können und die anderen, die davon ausgeschlossen werden. Schlussendlich bleibt eine einzige Feststellung: die Abwesenheit des Rechtsstaates.      


UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE: WENN DIE SCHWÄCHSTEN DIE ERSTEN SIND, DIE ABGEWIESEN WERDEN
Unter den Migrant*innen, die auf dem Land- und Seeweg nach Europa ihr Leben verlieren, sind auch im Monat Dezember viele unbegleitete Minderjährige. Die Heuchelei derer, die wegen der jugendlichen Opfer Schmerz und Wut kundtun, ist unerträglich in Anbetracht der Behandlung, die den Überlebenden zu Teil wird. Tatsächlich werden viele unbegleitete Minderjährige im CSPA* von Pozzallo wochenlang festgehalten, während hunderte Andere im abgelegenen Zentren im sizilianischen Hinterland endlos auf eine Entscheidung warten. Dort, wo wegen der Wirtschaftskrise und der sozialen Isolation die Gefahr von wiederaufflammendem Rassismus groß ist und gute Zukunftsaussichten unwahrscheinlich sind.

Der karitative Ansatz oder der auf das Geschäft ausgerichtete, unternehmerische Ansatz der verschiedenen Akteure  der Flüchtlingsaufnahme ist klar ersichtlich, vor allem bei der Art und Weise der Umsetzung des Schutzstatus und in der Ablaufplanung der Unterbringung der Jugendlichen.
In den Provinzen Palermo und Agrigent dauern die Wartezeiten in den hochspezialisierten Zentren Monate und Monate. Bei der Unterbringung der Geflüchteten in Gemeinden, die Unterkünfte bereitstellen, wird kein vernünftiges und gerechtes Kriterium angewandt. Integrationskurse, die unter großem Engagement in Gang gebracht wurden, werden unterbrochen. Leute werden wie Postpakete behandelt, und das oft mit der Begründung, dass Plätze freigemacht werden müssen. Dagegen haben Migrant*innen aus Trapani, nachdem ihr Zentrum geschlossen wurde, protestiert. Ihr langer Marsch endete vor der Präfektur, um diejenigen, die ihre Rechte schützen sollten, daran zu erinnern.

Neben vielen schlechten Beispielen gibt es darunter zum Glück auch solche, die die Ankommenden einfach für das nehmen, was sie sind – Bürgerinnen und Bürger. Die Betreiber des Zentrums für unbegleitete Minderjährige in Mazzarino fördern deren Integration: sie organisieren die Interaktion mit Gleichaltrigen über die Schule und sportliche Aktivitäten. Aber vor allem geht es ihnen darum, ein Verhältnis des Vertrauens und der Teilhabe mit den Ortsansässigen zu ermöglichen. Zu diesem Zweck planen sie innovative Projekte unter der Leitung der jungen Bewohner*innen des Zentrums.

*CIE - Centro di Identificazione ed Espulsione: Abschiebungshaft
*CSPA - Centro Soccorso e Prima Accoglienza: Zentrum für Erstaufnahme nach der Ankunft, geplante Verweildauer 48-72 Stunden 
* CAS - Centro di accoglienza straordinaria, außerordentliches Aufnahmezentrum
*CARA - Centro Accoglienza per Richiedenti Asilo: Erstaufnahmezentrum für Asylsuchende
*SPRAR - Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 - 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchteten dienen.

Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne und Lan Gatti


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