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Dienstag, 19. Januar 2016

Frontex und humanitäre Organisationen treffen sich in Catania

Pressemitteilung

Am Donnerstag, den 14. Januar haben sich im Presseraum des Polizeipräsidiums von Catania Vertreter der Polizei, der humanitären Organisationen, Frau Paglialunga und Herr Nicolao, der regionale Verantwortliche von Frontex, zu einem Austausch getroffen. 
Es haben teilgenommen: Vertreter der Organisation Rete Antirazzista catanese*, des Verbandes Catania Bene Comune*, der Kampagne LasciateCIEntrare* und Vertreter von Borderline Sicilia sowie der Organisation ADIF* (Diritti e frontiere).

Herr Nicolao hat zuerst die allgemeinen Aufgaben von Frontex erläutert und dann speziell die für Sizilien, wo Frontex seit Juli 2015 präsent ist. Er verteidigt die von Frontex betriebene Praxis der Abnahme der Fingerabdrücke bei allen Migrant*innen, die zur See gerettet wurden, sowohl in den Hotspots (Lampedusa und Trapani) als auch in den Häfen ihrer Ankunft. Das Frontexbüro in Catania, das die Koordination aller Frontexbeamten auf Sizilien übernehmen sollte, ist noch nicht in Betrieb, denn die Räumlichkeiten in einem ehemaligen Kloster, die von der Gemeindeverwaltung zur Verfügung gestellt wurden, sind wegen der laufenden Renovierungsarbeiten noch nicht bezugsbereit.

Zur See unterstützt Frontex die italienischen Strafverfolgungsbehörden. Auf die Fragen der Vertreter der humanitären Organisationen erklärte Nicolao:
  • Die Operation Triton verfügt über Flugzeuge und Schiffe, die aber unter italienischem Kommando stehen. Ihr Einsatz wird von der Guardia di Finanza mit Sitz in Pratica di Mare bei Rom koordiniert. 
  • Die Prioritäten liegen auf der Überwachung des Schiffsverkehrs für die Rettungseinsätze sowie der Identifizierung von allen Geretteten. 
  • Die im Einsatz stehenden Schiffe werden von den Mitgliedstaaten nach Kriterien und Bewertung von Frontex zur Verfügung gestellt. 
  • Falls die bereits zur Verfügung stehenden Mittel für die Operation Triton nicht genügen, fordert Frontex von den Mitgliedstaaten die Mittel zur weiteren Finanzierung ihrer Aufgaben innerhalb der Operation Triton an, welche durch die Europäische Union finanziert wird. 
An Land unterstützt Frontex die italienischen Ordnungsbehörden wie folgt:
  • Screeningexperten versuchen anhand von Fragen, die zusammen mit interkulturellen Mediator*innen gestellt werden, die Nationalität der Migrant*innen festzustellen. 
  • Experten für die Digitalisierung der Fingerabdrücke unterstützen die erkennungsdienstlichen Behörden bei der Abnahme der Fingerabdrücke und der Erstellung eines Fotos zur Identifikation. 
  • Unterstützung durch Experten im Debriefing in anonymen und freiwilligen Interviews, die den Verlauf der eventuellen Asylverfahren nicht beeinflussen würden - und die nicht als Aussagen vor richterlichen Behörden verwendet werden sollten. Das Debriefing diene lediglich zur Information über die Reiserouten und Fluchtwege. 
  • Unterstützung bei Verfahren zur Rückführung von Wirtschaftsmigrant*innen, Beschaffung der Reisepapiere und finanzielle Unterstützung des italienischen Staates. 
Der Vertreter von Frontex hat betont, dass die Agentur die grundlegenden Menschenrechte einhält: ein Experte für die Einhaltung der Menschenrechte begleite die Operation Triton und die Agentur wende sich ebenfalls ans unabhängige Consultant Forum (darin sind Nichtregierungsorganisationen, das UNHCR*, Save the Children und andere Organisationen vertreten) die sie beraten und Empfehlungen abgeben.

Herr Nicolao hat bestätigt, dass Frontex die erzwungene Identifizierung befürwortet, denn, wer sich nicht identifizieren lassen wolle, "hat etwas zu verbergen". Frontex müsse die Sicherheit Europas erhalten und müsse darum Terroristen und "foreign fighters" aufdecken. Identifikationen, bei denen Gewaltanwendung nötig sei, kommen zum Teil vor. Es kann auf Grund von vorhergehenden Informationen geschehen, oder wenn sich jemand weigere, oder ein Transfer in andere Unterkünfte notwendig werde. So oder so, die italienischen Polizeiorgane verlangen die Fingerabdrücke in jedem Fall. Der Frontexvertreter hat betont, dass Frontex mit seinen Agenten nur zur Unterstützung der Arbeit der italienischen Behörden diene.

Die Vertreter der humanitären Organisationen haben in Bezug auf folgende Punkte Zweifel und Kritik geäußert:

  • Hotspots: das Vorgehen im Zusammenhang mit der Abnahme der Fingerabdrücke, mögliche Gewaltanwendungen bar jeder juristischen und gesetzlichen Grundlage.
  • Die Unterscheidung bei der Ankunft in "Wirtschaftsmigrant*innen" und "Geflüchtete" aufgrund der Anleitungen auf dem "foglio notizie", einem kurzen Fragebogen der Polizei, der irreführende Fragen und keine klaren Merkmale zur Unterscheidung von Wirtschaftsmigrant*innen und Asylsuchenden enthalte.
  • Die „aufgeschobene Rückweisungen“ mit der Anordnung, das italienische Staatsgebiet binnen 7 Tagen zu verlassen; Migrant*innen werden sich selbst überlassen (Agrigent) ohne Dokumente und Mittel zum Überleben.
  • Die Verlegungen und Transfers funktionieren nicht und erzeugen Spannungen in den Hotspots.
  • Rückführungen mit polizeilicher Begleitung wenige Tage nach der Einreise mit der Begründung, es sei Teil der Rettungsmaßnahme; es sind vor allem Menschen aus Nigeria und Ägypten betroffen; es wird auf die zusammengelegten Flüge verwiesen, die monatlich von Rom Fiumicino nach Lagos durchgeführt werden. 
  • Das Dublin-Abkommen betreffend: die Nichtanwendung des Rechts der Familienzusammenführung. 
  • Die zu lange Aufenthaltsdauer in Empfangszentren verschiedener Kategorien, wie im CSPA* Pozzallo, wo Frontexbeamte präsent sind und das ohne richterliche Anordnung zu einem Hotspot werden soll. 
  • Das gemeinsame Vorgehen von Frontex mit der Operation Eunavformed*, unter besonderer Beachtung der Operationen entlang der libyschen Küste und dem damit verbundenen Anspruch, auch Forschungs- und Rettungstätigkeiten auszuüben. 
Auf diese verschiedenen, klar formulierten Fragen können die Antworten des Frontexrepräsentanten, aufgrund von Daten, die auch in den offiziellen Unterlagen der Europäischen Union einsehbar sind, folgendermaßen zusammengefasst werden:
  • Frontex hofft, dass alle geplanten Hotspots (in Sizilien sind es 5) so rasch wie möglich in Betrieb genommen werden; dass Italien die Reglemente dafür erstellt, denn in der ganzen EU gibt es dazu keine verpflichtenden Normen. 
  • Eine Verstärkung in Form erhöhter Präsenz von Frontexbeamten, in Folge des neu lancierten Grenzpolizeikorps und der neuen europäischen Küstenwache, ist vorgesehen. 
  • Im neuen Hotspot in Milo, Trapani, dessen Betrieb am letzten 28. Dezember aufgenommen wurde, sind 4 Frontex- und zwei EASO*-Mitarbeiter tätig. 
  • Im früheren CPSA* in Pozzallo besteht seit November eine ständige Niederlassung von Frontex. Diese soll in Kürze in einen Hotspot umgewandelt werden, wo mindestens 12 Frontex- und 2 EASO*-Mitarbeiter tätig sein werden. 
  • Im Erstaufnahmezentrum Contrada Imbriacola auf Lampedusa, das als Hotspot erklärt wurde, sind 17 Frontex- und ein EASO*-Mitarbeiter tätig. 
  • Es ist noch nicht klar, wann die anderen zwei Hotspots auf Sizilien ihren Betrieb aufnehmen werden. Der eine ist in Porto Empedocle, der andere in Augusta, gegen den Einwände auf administrativer Ebene geäußert wurden. 
  • Der HUB in Siculiana (Villa Sikania) ist kein geeigneter Standort weder für die Aufnahme jener Geflüchteten, deren Fingerabdrücke abgenommen wurden und einen Asylantrag stellen wollen, noch für jene, die berets einen Antrag für den Transfer gestellt haben. Das CARA* in Mineo, wo keine Frontexmitarbeiter stationiert sind, hat eine ungewisse Zukunft, die von den italienischen Behörden abhängt.
  • Was die Revision des Dublin-Abkommens und die Transfers betrifft, hält der Frontexrepräsentant fest: ein Kriegsflüchtling kann nicht wählen, wo er den Asylantrag stellt (außer bei familiären Verbindungen, die bereits vom Abkommen berücksichtigt werden). Er hat berichtet, dass für Migrant*innen, die sich nicht identifizieren lassen und die nicht verlegt werden wollen, Skypeanrufe organisiert werden. Die angerufene Person soll den Migrant*innen positiv von der Erfahrung des Transfers berichten. 
  • Schließlich hat Herr Nicolao Ärzte ohne Grenzen (ÄoG) aufgrund ihres Berichts über das CSPA* in Pozzallo scharf kritisiert. Es seien alles Lügen. ÄoG habe das nur geschrieben, weil deren Vertragsverlängerung mit der Präfektur ausgeblieben sei; Frontex arbeite seit langem im Aufnahmezentrum von Pozzallo und der Bericht entspreche nicht der Wahrheit.
  • Den Aussagen der Repräsentanten der Polizei und von Frontex konnten wir auch entnehmen, dass die Betreiber (Save the Children, OIM*, UNHCR*), die ursprünglich am Projekt Praesidium beteiligt waren, aufgrund der verschiedenen noch gültigen Verträge auch heute noch vom Innenministerium angestellt sind. Diese Organisationen ließen sich nur noch selten blicken, vielleicht während einer Anlandung und bei kollektiven Anhörungen. Sie würden aus Mangel an Mitarbeitern und dem stetigen Mangel an Übersetzern nicht mit einzelnen Migrant*innen arbeiten. 
Am Tag nach dem Meeting erlebten wir, bei einer erneuten Anlandung von Migrant*innen im Hafen von Catania, die Bestätigung der Angaben des Frontexmitarbeiters.
Besonders erbärmlich ist die Lage für die Migrant*innen, die klamm vor Kälte noch in die Folien eingewickelt sind, die sie vor dem Erfrieren auf See bewahren sollen. Sie stehen im Regen vor dem Pavillon, wo ihnen soeben ihre Fingerabdrücke abgenommen wurden.
In dieser ersten Phase konnte keine Gewaltanwendung festgestellt werden. Der Hafen ist durch Panzer gesichert und nur die Polizei war unter totalem Ausschluss der humanitären Organisationen anwesend, die vormals dazu beitragen konnten, dass den Migrant*innen eine humane Behandlung zuteilwurde.
Das neue Jahr hat in Sizilien mit einer Verschärfung der Bedingungen begonnen - für die Migrant*innen und deren Schicksal und für die, die sie begleiten. Das Vorgehen der Polizei eilt den Beschlüssen voraus, für die in Bruxelles noch nach rechtlichen Grundlagen gesucht wird.
Die gesamte Aufmerksamkeit richtet sich auf die Abnahme der Fingerabdrücke und auf die Identifizierung von sogenannten "Wirtschaftsmigrant*innen", die dann kollektiv zurückgewiesen werden. Es kommt zu einer Masse an nicht begründeten Zurückweisungsverfügungen, die wiederum neue "Illegale" schaffen. Nur bei einer geringen Anzahl kommt es dann zur polizeibegleiteten Rückführung an die Staatsgrenze.
Die humanitären Organisationen lehnen strikt die Militarisierung der Erstaufnahme ab. Genauso betonen sie ihre Zweifel bezüglich der Legitimität der Praxis, die Migrant*innen solange zurückzuhalten, bis die Fingerabdrücke genommen wurden und bezüglich der Gewaltanwendungen der Polizei gegenüber denjenigen, die sich weigern, Fingerabdrücke abnehmen zu lassen, lediglich um nicht dem ungerechten Dublin-Abkommen zum Opfer zu werden. 
  • Sie verlangen mit Nachdruck die sofortige Aufhebung der Dublin-Abkommen, die Rückumwandlung der Hotspots in CSPA*, in denen die Hilfsorganisationen regulär mitarbeiten und bei den Anlandungen und in den Zentren selbst kulturelle, linguistische, unabhängige Mediatoren tätig sind. 
  • Sie verlangen die Beendigung der administrativen Praxis der sizilianischen Polizeibehörden, Migrant*innen kollektiv zurückzuweisen, oft nur aufgrund der Nationalität. Sie verlangen deren freien Zugang zum Antragsverfahren auf internationalen Schutzstatus. Zudem müssen die Migrant*innen sofort über ihre Rechte informiert werden, so wie es die Weisungen der EU vorschreiben, welche aber nicht angewendet werden. 
  • Sie verlangen den Rückzug der Rundschreiben des Innenministeriums (wie jenes vom 6. Oktober 2015), welche Praktiken ohne rechtliche Grundlagen auf nationaler Ebene festsetzten. Diese betreffen die Behandlung und Festhaltung der Personen in den Hotspots oder ähnlichen Strukturen der Erstaufnahme durch die Polizei, wo eine Einschränkung der persönlichen Freiheit herrsche. 
  • Sie regen in Anbetracht der schlechten Wetterbedingungen und der Verschlechterung der politischen Lage in Libyen die Verstärkung der Rettungs- und Suchmissionen im zentralen Mittelmeer an. Die Rettung von Menschenleben zur See müsse in jedem Fall jeglichem Zweck militärischer Natur übergordnet sein. 

Rete Anntirazzista Catanese, ADIF, Borderline Sicilia, Campagna LasciateCientrare, Catania Bene Comune


*Rete Antirazzista catanese: antirassistisches Netzwerk Catania
*ADIF Associazione Diritti e Frontiere: Organisation Rechte und Grenzen
*Catania Bene Comune: Verband für das Gemeinwohl in Catania
*Campagna LasciateCIEntrare: Kampagne Lasst uns Einreisen - mit dem eingebauten Akronym CIE für Centro per I'Identificazione ed Espulsione, das für die Ausschaffungszentren steht
*CSPA Centro Soccorso e Prima Accoglienza: Zentrum zur Erstaufnahme nach der Ankunft für maximal 72 Stunden
*Eunavfor Med (European Union Naval Force Mediterranean): multinationale militärische Krisenbewältigungsoperation der Europäischen Union zur Bekämpfung des Menschenschmuggels- und der Menschenhandelsnetze und der Bekämpfung von Schleusern und deren Infrastruktur im südlichen zentralen Mittelmeer zwischen der italienischen und der tunesischen und libyschen Küste. Die Abkürzung NAVFOR steht für Naval Forces: Seestreitkräfte.
*EASO European Asylum Support Office: Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen
*CARA Centro Accoglienza Ricchiedenti Asilo: Aufnahmezentrum für Asylsuchende
*OIM Organizzazione Internazionale per la Migrazione: internationale Organisation für Migration
*UNHCR: UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge



Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne