siciliamigranti.blogspot.com ist ein italienischsprachiges Monitoringprojekt zur Situation der Flüchtlinge in Sizilien, dort finden Sie die Original-Berichte, hier finden Sie die deutschen Übersetzungen. Klicken Sie auf die auf die Namen der Schlagworte (keywords), wenn Sie bestimmte Themen suchen.

Dienstag, 29. Dezember 2015

Wir sind unfähig aufzunehmen

Sogar an Weihnachten! Wir sind nicht fähig den aufzunehmen, der in Schwierigkeiten steckt; wir haben einen Grundwert des zivilen Zusammenlebens verloren: Den Respekt und die Aufmerksamkeit für den anderen.

Die Weihnachtszeit ist par excellence die Zeit, in der wir imstande sind, „einen Platz am Tisch hinzuzufügen“. Wir aber töten auch in dieser Zeit weiter in betäubender Stille; eine Stille, die am meisten die ständigen Tötungen verheimlicht, die von einem tauben Europa, das von der Macht nicht genug kriegt, fortgesetzt werden: Einer Macht, die tötet, einer Macht, die unsichtbar macht, einer Macht, die Irreguläre innerhalb eines illegalen Systems, gemacht aus rassistischen und diskriminierenden Gesetzen, produziert.

Die Irregulären dieses Systems sind die Somalis, die sich auf der Straße nach Agrigent befinden, die Gambier, die von Gesetzen in Palermo gestoppt werden. Und weitere 40 Personen, die mit den letzten Anlandungen zwischen Catania und Syracus angekommen sind, die sich hinzuaddieren zu den unzähligen Abgewiesenen und Verlassenen in diesem Land, mit Folgen für das friedliche Zusammenleben aller.

Wir wissen nicht, wie man aufnimmt; stattdessen sind wir fähig, auch Kinder zu töten. Die Schätzungen sprechen von ungefähr 750 toten Minderjährigen. Aber eine Gesellschaft, die nicht weiß, wie man die Wehrlosesten verteidigt, ist keine Zivilgesellschaft.
Wir wissen nicht, wie man aufnimmt, weil wir hinter dem Gott Geld herlaufen, der die Toten verursacht, angesichts derer wir uns nicht mehr empören und die kein großes Aufsehen mehr erregen.

Die Situation ist paradox: Sizilien ist ein Hotspot unter freiem Himmel geworden, aber die Risse dieses illegalen Systems, die doch offensichtlich sind, scheint niemand zu sehen. Die Eritreer, die in den vergangenen Tagen auf Lampedusa gegen die Durchsetzung der Festung Europa protestiert haben, sind noch immer auf der Insel; man wartet, dass sie aufgeben; jetzt sind sie die Opfer von Gewalt und der psychologischen Kriegsführung, die im Hotspot seit der Eröffnung ausgeübt werden.
Aber seit dem 23. Dezember ist das Zentrum erneut überfüllt; kurz vor Weihnachten sind an zwei Tagen weitere 450 Geflüchtete angekommen; jetzt leben 900 Personen im Zentrum, das höchstens für die Hälfte Kapazität hat.

Aber die Situation verschlimmert sich noch, da auch der Hotspot von Milo (Trapani) aktiviert wurde. Ja, die alte CIE1-Ruine die schon vergangenen Juni umgewandelt werden sollte, ist jetzt zu einem Hotspot geworden, ohne dass die seit langem angekündigten Instandsetzungsmaßnahmen durchgeführt wurden (die Einrichtung muss saniert werden, da ganze Bereiche außer Betrieb sind). Von einem Tag auf den anderen hat das Innenministerium der Präfektur und der Betreibergesellschaft die geänderte Nutzung mitgeteilt. Völlig unvorbereitet wurden daraufhin gestern die 128 Personen (123 Männer, eine Frau und vier unbegleitete Minderjährige), die im Kanal von Sizilien gerettet wurden und im Hafen von Trapani angelandet sind, in das ehemalige CIE verlegt. Die Migranten sind unterschiedlicher Nationalität: 40 kommen von der Elfenbeinküste, 44 aus Guinea, 25 aus Mali, 6 aus Kamerun, 4 aus dem Senegal, 4 aus Gambia, 2 aus Libyen, 2 aus Liberia. Es liegt auf der Hand: Unvorbereitet sind auch die, die gestern noch nach bestimmten Kriterien und Regeln in einem CIE gearbeitet haben und heute in einer Einrichtung ohne einen klaren juristischen Status neue und nicht kodifizierte Regeln umsetzen sollen.
Was in dem neuen Hotspot passieren wird, können wir nicht wissen; aber sicher ist Trapani nicht Lampedusa, wenigstens nicht geographisch. Wir werden sehen, ob die Ordnungskräfte mit den gleichen psychologischen Repressalien arbeiten, die auf der Insel angewendet werden und in die Praxis umsetzen, was Europa fordert; das bedeutet mit noch mehr Entschiedenheit, Fingerabdrücke zu nehmen und eine Auswahl zu treffen.
Wir sind nicht in der Lage aufzunehmen, wie es erforderlich ist; und Italien akzeptiert es,  Gewalt gegen Personen anzuwenden, die sich weigern zu kollaborieren und sich Fingerabdrücke abnehmen zu lassen; auch gegen Minderjährige, die zu oft aus Bequemlichkeit und Zweckdienlichkeit wie Erwachsene behandelt werden, da Plätze für ihre „Aufnahme“ fehlen.
Die „Nicht-Aufnahme“ und die Unfähigkeit eine Musterlösung zu entwerfen, die ihren Namen verdient und eines zivilisierten Landes würdig ist, betrifft auch die Minderjährigen, selbst bei den Projekten, die vom Innenministerium ausgearbeitet worden sind. Wir beziehen uns auf das Projekt „Rainbow“, ein hochspezialisiertes Pilotprojekt der MSNA2. Anlässlich unseres Besuches im Zentrum von Trabia in der Provinz Palermo (begleitet von einem Abgeordneten der Präfektur der Hauptstadt) haben wir bemerkt, wie ungeachtet der Anstrengungen der Betreibergesellschaft (ein zeitweiliger Zusammenschluss von Firmen, gebildet aus „New Generation“ und „Sviluppo Solidale“) die Resultate, gelinde gesagt, katastrophal sind. Dieses Pilotprojekt unterscheidet sich von anderen spezialisierten Aufnahmeprojekten auf Sizilien, weil der Ansprechpartner für „Rainbow“ direkt das Ministerium ist und nicht die Region Sizilien, wie zum Beispiel bei dem entsprechenden Zentrum von San Giovanni Gemini (AG), geleitet von derselben Betreibergesellschaft. Ein greifbarer Unterschied besteht vor allem in der Tatsache, dass in dem Projekt „Rainbow“, im Gegensetz zu Zentren, die an die Region gebunden sind, die direkte Verbindung mit dem Ministerium ein wirksames Instrument sein müsste, um auf die Probleme zu reagieren, die sich täglich in der Verwaltung zeigen.
Aber der gute Wille der Betreibergesellschaft reicht alleine nicht. Tatsächlich haben wir sowohl im Projekt „Rainbow“ wie auch im Zentrum San Giovanni Gemini herausgefunden, dass die Mehrzahl der anwesenden Bewohner*innen keinen zugewiesenen Tutor hat; darüber hinaus gibt es in Trabia 40 Jugendliche, die am 5. Mai angekommen sind, die sich dem Projekt zufolge nur 60 Tage in der Einrichtung aufhalten sollten (verlängerbar auf maximal 90 Tage); sie sind seit mehr al 7 Monaten dort; viele haben erst vor einem Monat die Zuweisung eines Tutors (durch das Gericht in Termini Imerese) bekommen. Die Prozedur zur Ernennung der Tutor*innen ist nicht transparent (aber nicht nur in Trabia); und vor allem ist die Dauer des Aufenthalts nicht sicher. In Trabia, wie an anderen Orten, beachtet man die Reihenfolge der Ankunft in der Jugendeinrichtung mit Blick auf ihre Verlegung in eine endgültige Aufnahmeeinrichtung nicht; das verursacht beachtliche Konflikte zwischen den Gästen und der Betreibergesellschaft. Die Jugendlichen haben uns unisono gebeten, ihnen zu helfen; im Chor haben sie uns gesagt, dass es für sie sehr schwer ist, eine solch lange Zeit zu verstehen und zu warten.
Wie im Zentrum von Alcamo, so auch in dem von Trabia: Wer in einem Monat 18 Jahre alt wird, bleibt in der Einrichtung, ohne dass er eine soziale Eingliederung und eine Legalisierung durchlaufen hat; für ihn gibt es eine Verlegung in ein CAS3, wo die ganze Prozedur für Volljährige wieder beginnt. „Durch sie habe ich 7 Monate meines Lebens verloren und jetzt?“ fragt uns ein Bewohner, der am 1. Januar 18 wird. Viele erzählen uns, dass sie sich wie Gefangene fühlen, auch weil es keine Interaktion mit der Umgebung gibt; andere sagen uns, dass niemand antwortet, nicht einmal die humanitären Organisationen, die das Zentrum besucht haben, und so setzen sie auch in uns nicht viel Vertrauen, obwohl wir deutlich erklären, dass wir leider keine Macht haben; zumindest können wir ihnen eine Stimme geben und diese Projekte, die nicht funktionieren, anprangern.
Wir haben die Jugendlichen verlassen, die mit den Mitarbeitern diskutierten; diese werden nicht müde, den Jugendlichen ihre eigenen Schwierigkeiten und ihr Unvermögen zu erklären, in diesem System zu arbeiten, dass unfähig ist, selbst Minderjährige aufzunehmen.

Alberto Biondo
Borderline Sicilia Onlus

1CIE - Centro di Identificazione ed Espulsione: – Zentrum zur Identifikation und Ausweisung
2MSNA - Minori Stranieri Non Accompagnati – unbegleitete Minderjährige
3CAS – Centro di accoglienza straordinaria, Außerordentliches Aufnahmezentrum


Aus dem Italienischen von Rainer Grüber