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Sonntag, 1. November 2015

Die Zeltstadt von Campobello di Mazzara

Im Herzen von Campobello di Mazzara, wo der Olivenanbau eine 30-jährige Geschichte hat, ist es bis jetzt niemandem gelungen, Alternativen zu den beschämenden und menschenunwürdigen Erntemethoden zu finden; Wieder einmal müssen wir über die Ausbeutung der Migranten während der Ernte sprechen. Wir sind erneut zu der Zeltstadt gefahren, um die Problematik besser zu verstehen, die sich hinter der Ausbeutung in Campobello verbirgt. 


Wir wurden von den freiwilligen Helfern der Zeltstadt empfangen (Menschen, die ihr Leben denen widmen, die in Schwierigkeiten sind), von „den Engeln“, wie sie von denjenigen, die in der ehemaligen Ölfabrik Fontana leben, genannt werden. Dieses ehemals der Mafia gehörende Gebäude wurde konfisziert und ist heute Herberge für mehr als 700 Migranten in circa 400 Zelten. 
Zuerst haben wir festgestellt, dass diese Situation, wie so oft in den Immigrationsfragen, nicht neu ist, sondern mit der Zeit eine fest verankerte Praxis geworden ist. Die freiwilligen Helfer erzählen uns, dass die Migranten, die in die Felder rund um Campobello kamen, um zu arbeiten und somit ihre Familien zu unterstützen, schon im Jahre 2003 ihr erstes Zeltlager hier aufgebaut hatten.

In den letzten 20 Jahren hat die Landflucht der Jugend aus Campobello dazu geführt, dass immer weniger Menschen auf den Feldern arbeiteten, weshalb es besonders in der Zeit der Olivenernte, also von Ende September bis Anfang Dezember, notwendig war, junge arbeitswillige Männer zu finden. Die Lösung lag nah: Warum nicht junge Männer ausbeuten, die keine Arbeitserlaubnis hatten und die alles dafür tun würden, ein paar Pfennige zu verdienen? So sind die ersten Zeltlagen entstanden: Den Migranten wurde zwar Arbeit angeboten, eigentlich Sklavenarbeit, aber keine weiteren Leistungen (wie zum Beispiel Unterkunft und Mahlzeiten). Diese ersten Zeltlager haben sich mit der Zeit ausgeweitet bis in die Ortschaft Erbe Bianche, wo weiterhin Zelte aufgeschlagen, aber auch halb verfallene Gebäude bewohnt werden und Abfallprodukte (sogar Asbest) zum Kochen und Heizen benutzt werden. Hunderte von Migranten leben in einem Ortsteil von Campobello ohne Wasser, ohne Strom und ohne Toiletten und sie wissen, dass für die Landbesitzer ihr Wert gleich Null ist.  
Sehr oft wiederholen die freiwilligen Helfer das Wort „Ausbeutung“ mit einer Mischung aus Wut und Mitgefühl und dann, den Tränen nah, erzählen sie uns von dem Wandel, von dem Willen, die verfahrene Situation zu ändern.
Der Wandel, wie so oft, kommt nicht von der Politik oder den Institutionen, sondern von der Straße, von Unten, vom Guten Willen einiger Bürger, die auf die menschenunwürdige Lebenssituation in der Ortschaft Erbe Bianche aufmerksam machen und die Behörde dazu drängen, Wasserstellen einzurichten, die Gegend zu sanieren und letztendlich die Wohnsituation ein wenig würdiger zu gestalten. 

Im Jahre 2014 gelingt es den freiwilligen Helfern weitere Organisationen für ihre Projekte zu gewinnen und die Institutionen vor vollendete Tatsachen zu stellen. So wurde die Zeltstadt in Erbe Bianche geräumt und den „Sklaven“ ermöglicht, ihre Zelt innerhalb der ehemaligen Ölfabrik aufzuschlagen: Es wurden Toiletten und Duschen aufgestellt, ein wenig Beleuchtung hinzugefügt und die Situation wurde ein wenig erträglicher für diejenigen, die jahrelang alles geduldet hatten, um ein „Stück Brot“ zu verdienen, obwohl diese Lebenssituation absolut keinen Platz für Menschenwürde lässt. Das wichtigste Ergebnis der Arbeit der freiwilligen Helfer ist zweifelsohne die Sensibilisierung der Landarbeiter bezüglich der Ausbeutung. Jahrelang haben sie Flugblätter verteilt, demonstriert, Leitfäden bezüglich Arbeiterrechte und die Wichtigkeit der Tarifverträge konzipiert. 

In den letzten 10 Jahren hat sich die Lage, mindestens was die Tarifverträge angeht, komplett geändert: In der Zeltstadt leben mehr als 700 Migranten, die meisten von ihnen haben eine reguläre  Aufenthaltserlaubnis und viele einen Arbeitsvertrag. Ein kleiner Sieg, eine kleine zivile Errungenschaft, die die Normalität überall auf Sizilien sein könnte, aber nicht überall gibt es Menschen wie Angelo, Ismael oder Patrizia, die alles dafür geben, den Migranten das zurückzugeben, was ihnen das Ausbeutungssystem weggenommen hat. 

Der Weg ist noch sehr lang. Das wissen die freiwilligen Helfer ganz genau. Die Allgemeinlage wird sich nicht schnell ändern, weil das Ausbeutungssystem fest verwurzelt ist. Alle wissen, dass die Arbeitskraft benötigt wird und dass die jungen Einheimischen nicht zu diesen ausbeuterischen Konditionen arbeiten wollen. Alle wissen, dass die Olivenernte für die ganze Gegend überlebenswichtig ist und dass nur die Migranten bereit sind, unter diesen Umständen zu arbeiten. Es ist den Polizeikräften bewusst, es ist den Institutionen bewusst, es ist den Politikern bewusst und es ist den Landbesitzern, denen die Olivenhaine gehören, bewusst.
Der Politik ist es bewusst, dass man das fragile, entstandene Gleichgewicht nicht stören sollte und deswegen fährt die Polizei regelmässig vor der Zeltstadt Streife und kontrolliert, dass niemand von außerhalb die Migranten belästigt. Wenn rassistische Vorfällen oder Gewaltakte, wie Steinewerfen oder Säureattacken, geschehen, mobilisieren sich alle, um den Ruhezustand wieder herzustellen. Nichtsdestotrotz empfindet der Teil der Bevölkerung, der kein direktes Interesse an der Olivenernte hat, die Anwesenheit der Migranten als störend und wenn die Migranten versuchen, nach Wohnungen im Dorf zu fragen, ernten sie Absagen, des öfteren „geschmückt“ mit Beschimpfungen wie die Migranten seien schmutzig, gewalttätig und Vergewaltiger

Nur die aus dem Maghreb stammende Migranten, die schon seit Jahren hier leben, haben einen besseren Stand, öfters zusammen mit einer besseren Bezahlung (normalerweise bekommen sie ihren Lohn pünktlich und korrekt ausbezahlt). Das führt zu einem Krieg zwischen Nord – und Zentralafrikanern (Migranten aus Senegal, Sudan und Gambia), die einen werden beschuldigt, für den Preisverfall verantwortlich zu sein  und die anderen, Privilegien zu genießen. 


Zwar haben fast alle in der Zeltstadt lebende Migranten einen Arbeitsvertrag, und das ist sicherlich eine Errungenschaft, aber die Lohnauszahlung erfolgt nicht immer pünktlich und vor allem entspricht sie nicht dem, was schriftlich vereinbart wurde. Auch dies ist eine stillschweigend akzeptierte Vereinbarung zwischen Staat und Landbesitzern: Die Verträge schützen die Landbesitzer vor den sehr hohen Bußgeldern (das letzte Jahr wurden nach Kontrollen mehr als 100 000 Euro Strafe kassiert und dieses Jahr 35 000), aber es ist den Migranten kaum möglich, den schriftlich vereinbarten Lohn zu bekommen. 

Die Migranten erzählen uns, dass sie ca. 40 bis 50 Euro pro Tag verdienen, dass sie 10 oder 11 Stunden täglich arbeiten (von 6:00 bis 16:00 oder 17:00 Uhr), während andere 3 Euro pro Kiste bekommen. Es gibt aber auch schlimmere Fälle: z.B. die zuletzt angekommenen Gambier oder die Nigerianer (vermutlich ohne Aufenthaltsgenehmigung), die nicht weit weg von der Zeltstadt in verlassenen Gebäuden ohne jeglichen Komfort, auch ohne Wasser und Strom, leben, verdienen 2 Euro pro Kiste. 
Wir leben in einer Welt, in der versucht wird die Schwächeren zu übermannen, das Maximum mit dem geringsten Aufwand zu erreichen, in der es logisch erscheint, eine barbarische Situation um jeden Preis erhalten zu wollen, die nur für eine Handvoll Menschen Gewinn bringt. Heute noch, im Jahre 2015, gibt es in der Zeltstadt Campobello immer noch keine sanitären Einrichtungen.
(die Freiwilligen erzählen uns, dass sie im Notfall die Migranten zur Notaufnahme fahren); Die Ärzte vom Roten Kreuz kommen ein oder zwei Mal in der Woche vorbei, als ob die Leute nur an den Tagen krank werden würden und nicht immer auf medizinische Versorgung angewiesen wären.

Die Lebensbedingungen sind schon sehr schwierig: die Duschen funktionieren nur mit kaltem Wasser, die harte Arbeit dauert bis zu 12 Stunden und fast ohne Pausen. Darüber hinaus tragen die psychologischen Problemen beachtlich dazu bei, das Immunsystem zu schwächen, so dass Atemwegserkrankungen und Muskel- und Gelenkschmerzen sehr verbreitet sind.
Die Würde jedoch hilft, die Schwierigkeiten und die Unmenschlichkeit der politischen Entscheidungen zu überwinden und das Nicht-Vorhanden-Sein der Institutionen zu bewältigen. Die Lehre, die wir von den auf den Feldern arbeitenden Migranten erhalten, steht im krassen Gegensatz zu jener der Politik: Menschen, die hauptsächlich aus Norditalien kommen, um ihre Familie zu unterstützen, junge Menschen, die sich bewusst ausbeuten lassen, um die Steuer für die Universität zahlen zu können und nicht auf der Tasche der Eltern liegen zu müssen. Wir treffen einen sehr jungen Mann, der hier das nötige Geld verdienen will, um sich an die Uni einzuschreiben und er sagt uns, dass er nicht erwartet hätte, so viel Zerfall, so viele Schwierigkeiten und so viel Vernachlässigung seitens der Autoritäten anzutreffen. 

Die Freiwilligen erzählen uns von der Gemeinschaft und der Bereitschaft zu teilen zwischen den Migranten, zwischen den Leuten aus dem Senegal (die ca. 70% der Bevölkerung der Zeltstadt ausmachen), denen aus dem Sudan und denen aus dem Maghreb (die im diesem Jahr zugenommen haben). Innerhalb der ehemaligen Ölfabrik befinden sich ethnische Restaurants (3 mit sudanesischer, 1 mit senegalesischer und 1 mit tunesischer Küche), aber auch wer keine Arbeit oder kein Geld hat, muss sicherlich keinen Hunger leiden, auch diejenigen nicht, die in den verlassenen Gebäuden in der Nähe hausen. Die Migranten haben auch einen Gebetsraum errichtet und Sonntags, anstatt sich auszuruhen, putzen die freiwilligen Helfer und die hier Lebende zusammen.
Das Leben in dem Lager ist absolut nicht einfach, aber die Solidarität lindert das Leiden. Deswegen geben wir den Appell von Patrizia, Ismael und Angelo weiter: Es werden weiterhin Matratzen, Decken, Schuhe und Bekleidung gebraucht, man kann nicht arbeiten in den gleichen Klamotten, mit kaputten Schuhen und nach einer Nacht in der Kälte und mit einer Holzpalette als Schlafplatz.

Alberto Biondo
Borderline Sicilia Onlus

Aus dem Italienischen übersetzt von Antonella Monteggia