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Dienstag, 20. Oktober 2015

Treffen der Organisationen und Institutionen in Catania, um über die Abschiebungen zu sprechen

Angesichts der wiederholten Abschiebungen, die seit Ende September in verschiedenen Provinzen Siziliens stattgefunden haben, hat der Verein Borderline Sicilia, stellvertretend für mehrere Vereine aus Catania, um ein Treffen mit dem Präfekt und dem Polizeidirektor gebeten, um Erklärungen bezüglich dieses Vorgehens zu erhalten.    
An dem Treffen, das gestern stattfand, haben Vertreter der Vereine Borderline Sicilia, Rete Antirazzista Catanese, Centro Astalli, Arci Catania, Asgi sez. Sicilia, Arci Catania, Catania bene comune teilgenommen, wie auch der stellvertretende Präfekt, der für die Immigration zuständig ist, die Verantwortlichen der Polizeidirektion für die Ankünfte an den Häfen und die Leiterin des Immigrationsbüro der Polizeidirektion.

Am Anfang des Gesprächs haben einige Vertreter der Vereine bekräftigt, dass die getroffene Vorkehrungen, die von den zuständigen Justizbehörden durchgeführt werden, illegal sind, außerdem haben sie über die derzeitige Situation berichtet: Seit der Abschiebung der 32 Migranten, die am 30. September angekommen waren, gibt es auf dem Gebiet in und um Catania weitere Personen, die keinen Platz zum schlafen und zum Leben haben. Einige von diesen 32 Migranten sind in Unterkünften untergebracht worden, die von freiwilligen Vereinen zur Verfügung gestellt wurden. Andere haben keine andere Wahl gehabt, als sich auf den Weg in Richtung von anderen Städten zu machen, die offener für die Aufnahme von Migranten sind, und wiederum Andere sind von den Menschenhändlern abgefangen worden und man weiß nicht, wo sie sich zur Zeit aufhalten.
In der Zwischenzeit ist aber die Anzahl der abgeschobenen Migranten, die zu den Obdachlosen in Catania hinzugekommen sind, weiter gestiegen: Sie kommen aus anderen Ankunftshäfen, hauptsächlich Pozzallo und Lampedusa, und sind nach Catania gekommen, in der Hoffnung hier Hilfe zu finden. Hier haben sie warme Mahlzeiten, Rechtsbeistand, saubere Kleidung und die Möglichkeit sich zu waschen bekommen. Das ungelöste Problem bleibt der Schlafplatz und die komplette Unsicherheit, was aus ihnen wird, wo sie hingehen werden, ob sie lieber hier warten sollten und ob sich das Warten überhaupt lohnen wird.  
Es herrscht Konfusion und große Besorgnis; Diese Menschen fühlen sich vom italienischen Staat abgewiesen  ohne den Grund dafür zu verstehen und die einzigen, die ihnen helfen, sind Freiwilligen, die trotz der großen gezeigten Hilfsbereitschaft nur eine temporäre Betretung leisten können.  
Diese Situation wird sich nicht nur auf das Leben der Migranten, sondern auf das der ganzen Stadt auswirken. Die Zunahme der Obdachlosigkeit wird zu einem sozialen Brennstoff werden: Sie wird zu der Überfüllung der Gerichte als Folge der Berufungen, die als Antwort zu den Abschiebungen, nicht nur in Catania sondern auch in Ragusa und Syrakus, eingereicht werden – und zu der Zunahme des Arbeitspensums in den Polizeidirektionen – aufgrund der vermehrten Asylanträge, die gleichzeitig gestellt werden – führen. 
Also in der Hoffnung potentielle Asylantragsteller „loszuwerden“ und somit das Aufnahmesystem zu schonen, wird man tatsächlich die entgegengesetzte Situation heraufbeschwören und deren Folgen werden fast ausschließlich von den sizilianischen Städten getragen werden müssen. 
In Anbetracht dieser Ausführungen wollten die Vereine verstehen, welche Logik sich hinter den Abschiebungen verbirgt und welche die Zukunftsperspektiven sind, in Bezug auf die zu erwartenden Konsequenzen. 
Nach einer kurzen Einführung des stellvertretenden Präfekten Gullotti, der auf die Richtlinie, die das Innenministerium Ende September herausgebracht hat, hingewiesen hat, hat Frau Doktor Scacco vom Immigrationsbüro die Anordnungen im Detail erklärt. 
Sie hat klargestellt, dass infolge des Europäischen Gipfeltreffens Ende September das Innenministerium deutlich neue Anordnungen erlassen hat, an die sich die Polizeidirektionen zu halten haben. Zuallererst muss bei der Ankunft eine Trennung zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und Vertriebenen anhand der Staatsangehörigkeit erfolgen: Syrer, Eritreer und Bürger der Zentralafrikanischen Republik werden als politische Flüchtlinge eingestuft, alle andere werden automatisch zu den Wirtschaftsflüchtlingen gezählt.  

Um diese Operation zu vereinfachen, sind neue Formulare, die zur Bestimmung der Identität der Migranten führen sollen, entwickelt worden, und ersetzen die viele verschiedenen Formulare, die bis dato benutzt wurden – so viele Formulare wie Ankunftshäfen – um eine Einschätzung der Staatsangehörigkeit zu garantieren, die nicht ortsabhängig ist.  
Das neue Formular enthält die Frage „Warum bist du nach Italien gekommen?“ und als  Antwort kann man zwischen: Arbeit, Krieg, Asyl und Andere auswählen. Die Aufgabe, den Ankömmlingen Rechtsbeistand zu leisten, sollte von den Organisationen, die mit dem Ministerium ein Abkommen geschlossen haben (UNHCR, Save the Children, OIM und Rotes Kreuz), wahrgenommen werden, auch weil nur diese Organisationen die Erlaubnis haben, das Hafengelände zu betreten. Ihre Aufgabe wäre, den ankommenden Migranten alle Informationen bezüglich ihrer Rechte zu geben und das während sie in der Schlange stehen und auf die Identifizierung warten. Das ist aber nur in der Theorie möglich. In Catania kommen Hunderte von Menschen auf einmal an. Die zur Verfügung stehende Zeit ist sehr begrenzt und reicht gerade Mal für die Identifizierung. Der leitende Angestellte des Immigrationsbüros ist sich der Schwere der jetzigen Situation bewusst, betont jedoch die Anordnungen des Innenministeriums bezüglich der aktuellen Abschiebepraxis. Außerdem weist er auf die europäischen Entscheidungen hin und auf die unvermeidbaren Folgen, die eben diese Entscheidungen auf nationaler Ebene haben.    
Dieser Kurswechsel ist und bleibt inakzeptabel. Einige der anwesenden Rechtsanwälte betonen, dass politischen Entscheidungen auf gar keinen Fall den Rechtsvorschriften bezüglich des Internationalen Schutzes widersprechen dürfen. Das Recht auf Asyl ist ein subjektives Recht und es ist mit der persönlichen Geschichte jedes Einzelnen  verflochten und kann nicht an vorgegebenen Klassifizierungen anhand des Herkunftslandes geknüpft werden.   

Die Massenabschiebungen und die Liste mit den Ländern, deren Bürger den Antrag auf Internationales Schutzrecht stellen dürfen, sind komplett widerrechtliche Vorgänge.  
Schlussendlich gibt es auch große Unklarheit in Bezug auf die von den Humanitären Organisationen geleistete Arbeit bei der Ankunft der Migranten.  All die Migranten, die die Abschiebung zugestellt bekommen haben,  sagen aus, dass sie mit niemandem gesprochen haben und dass sie von niemandem über das Asylrecht aufgeklärt worden sind. Offensichtlich ist die Zeit für die Aufklärung nicht ganz klar definiert und ist auf jeden Fall sehr gering. Nichtsdestotrotz entstehen Zweifel bezüglich der Wirksamkeit der Arbeit,  oder ihrer Effizienz oder möglicherweise der Anzahl der für diese sehr wichtige Operation zur Verfügung stehenden Mitarbeiter.  Unter Umständen, auch angesichts der Präsenz der Frontex-Mitarbeiter, ist es für die Organisationen noch schwieriger geworden, mit den Migranten zu sprechen bevor sie identifiziert werden. Daraufhin wird vorgeschlagen, dass auch andere Organisationen das Hafengelände betreten dürfen und somit einen zusätzlichen Beitrag in der Informationsphase während der Landungsaktionen leisten können. 

Zum Schluss hat der stellvertretende Präfekt den Freiwilligen gedankt für die wertvolle Hilfe, die sie geleistet haben in einer von Unsicherheit gekennzeichneten Zeit, bedingt durch die neuen Richtlinien, die als solche Überwachung und Anpassungen benötigen. 
Das Treffen hat den beteiligten Organisationen ermöglicht, mit den Institutionen ins Gespräch zu kommen und sich mit ihnen auf konstruktiver Weise auseinanderzusetzen. Das ist gewürdigt worden und hat erlaubt, einige Aspekte zu durchleuchten.
Abschließend wollen wir festhalten, dass die Richtung, die Italien aufgrund der europäischen Anweisungen eingeschlagen hat, große Besorgnis hervorruft. Das Risiko ist eine zunehmende Erschwernis des Zugangs zum Internationalen Schutz mit schrecklichen Folgen für das Leben von extrem verwundbaren Menschen und das in einer Zeit, in  der Europa anstelle von Lösungen zu suchen, um das Asylrecht zu garantieren und zu stärken,  insbesondere angesichts der aktuellen, gravierenden humanitären Katastrophen, nichts anderes im Sinne hat, als Mauern und Hindernisse aufzubauen.   

Giulia Freddi 
Borderline Sicilia Onlus

Aus dem Italienischen von Antonella Monteggia