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Mittwoch, 21. Oktober 2015

Trapani. Aufnahmemaschinerie außer Kontrolle

Anlandung ohne Ende, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge allein gelassen: 5 Monate zum Ausfüllen des Modells C3*, 18 Monate Wartezeit für einen Termin vor der Gebietskommission, kein Taschengeld mehr. Und schließlich ein Lager mit 600 Migranten, um auf „unserer“ Erde zu arbeiten und Oliven zu ernten für „unser“ extra reines Öl.

 
Aber der Reihe nach. Die vor kurzem zu Ende gegangene Woche war für die Region Trapani nicht besonders positiv. Es gab Proteste und Hungerstreiks wegen der schlechten Aufnahme, Ablegerin eines Systems, dass unfähig ist, die Bedürfnisse der Menschen wahrzunehmen, die ohne Ende in Angst leben.
Am vergangenen 12. Oktober ist das Schiff von „Ärzte ohne Grenzen“, das 700 Menschen gerettet hat, am späten Nachmittag im Hafen von Trapani angekommen und hat versucht anzulegen. Vielleicht wegen der Wetterbedingungen (starker Wind? – aber das ist keine Neuigkeit im Hafen von Trapani) oder weil die Willkommensmaschinerie nicht bereit war, hat das Hafenamt zunächst verlangt, die Anlandung der Migranten auf den nächsten Tag zu verschieben; wegen der endlos langen Reise der Passagiere ist man dann doch zur Ausschiffung übergegangen; sie hat um 19:00 Uhr begonnen und wurde am kommenden Tag, dem 13. Oktober, um 13:30 Uhr beendet.

Die 700 Migranten haben mit den wenigen Wärmedecken, die zur Verfügung standen (für alle reichten sie nicht) im Hafen geschlafen; unter ihnen waren 160 Frauen (davon 10 schwanger) und ca. 50 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge; sie haben am eigenen Leib erfahren, was Aufnahme in Italien bedeutet: Eine Maschinerie in andauerndem Notstand, ohne ein seriöses Programm, das die Menschen im Blick hat. Circa ewige 15 Stunden dauerte die Anlandung, die noch kein Ende gefunden hat, da fast alle Personen in den Norden verlegt werden; in der Gegend von Trapani fehlt es an Plätzen.

Ungefähr hundert Migranten haben im CAS** Platz gefunden, das von Badiagrande in Valderice geleitet wird. Es ist zu einer Art Zentrum zur Weiterverteilung geworden, da es auch mehr als 200 Personen aufnehmen kann. Für die letzten, die auf dem Landungssteg ankamen, gab es nicht mal mehr eine Tüte mit Essen: Die Aufnahmemaschinerie war nicht auf Frühstück eingestellt. So haben die „Ärzte ohne Grenzen“ dafür gesorgt, dass Kraft-Nahrung verteilt wurde, die sich an Bord des Schiffes, der Bourbon Argos, befand.

Der kritischste Punkt, sowohl was die Anlandungen selbst als auch die Zeit danach angeht, sind die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die am meisten Verletzlichen, die sich am wenigsten dessen bewusst sind, was in Italien passieren kann. Auch in Trapani ist die Entscheidung über die Erklärung darüber, wer in die Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge gehört, beliebig; so liegt es am "Gewissen" des Beamten, der Dienst hat, der wahrscheinlich nach Befehlen, die aus Hinterzimmern kommen, nur dann sein OK gibt, wenn es offensichtlich ist, dass es sich um einen Minderjährigen handelt; andernfalls votiert er für volljährig; für Volljährige findet sich leichter ein Platz in einer Einrichtung und so werden eine ganze Reihe von Schwierigkeiten, in der Kommune, in der Präfektur, im zentralen System, vermieden.

Das ganze Aufnahme-System befindet sich schon in Schieflage, aber für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge noch ein bisschen mehr. Die vom Minister gewollten speziellen Zentren, die Zentren des Projektes Rainbow (neue Zentren für die Verteilung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge) und andere, sind alle voll belegt und funktionieren zum Großteil nicht so, wie sie sollten. In Alcamo zum Beispiel wurden wir von verschiedenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Zentrum für Jugendliche, das sich in der Via Ugo Foscolo befindet, angesprochen; dies wird von der Kooperative Dimensione uomo 2000 geleitet, die nicht neu ist im Aufnahmegeschäft (kürzlich hat sie zwei Wohngruppen in Trapani wegen unterschiedlicher Schwierigkeiten geschlossen). Die Jugendlichen haben sich beklagt, dass sie seit über 90 Tagen (die vom Gesetz vorgesehene Höchstdauer) in der Einrichtung zur Verteilung eingesperrt sind. Daran ist nicht unbedingt die Betreibergesellschaft schuld, sondern ein System, das unfähig ist, angemessen aufzunehmen und welches täglich Proteste hervorruft. Darüber hinaus sagen die Gäste, dass sie die Grundausstattung zur Hygiene nicht mehr bekommen hätten, dass sie noch immer die Kleidung trügen, die sie sofort nach ihrer Ankunft bekommen hätten, dass das Essen mies sei und dass es kein Aktivitäten irgendwelcher Art gäbe; aber was noch schlimmer ist: Der Zeitverlust durch Verlegung macht aus ganz vielen minderjährigen Jugendlichen Volljährige, ohne dass im Verlauf der Monate irgendein Verfahren zum Schutz auf den Weg gebracht worden wäre; so wird ihre ohnehin prekäre Zukunft aufs Spiel gesetzt.

Ein Mitarbeiter hat uns die Schwierigkeiten bei der Arbeit im Zentrum bestätigt. Er erzählt uns, dass oft sogar die Milch beim Frühstück fehlt. „Die Jugendlichen stehen morgens nicht gerne auf!“, Und er hat uns auch anvertraut, dass seine Müdigkeit und die seiner Kollegen ausgesprochen groß ist: „Wir Arbeiter reißen uns ein Bein aus, und werden teilweise auch von den Kindern und Jugendlichen beleidigt, aber wir bemühen uns, obwohl wir von den Institutionen und der Betreibergesellschaft nicht unterstützt werden…In erster Linie löffeln wir die Suppe aus.“
Wir haben alle kritischen Punkte, die wir im Lauf unseres Besuches gesammelt haben, an Save the Children und den UNHCR weitergeleitet, die mehrmals die Möglichkeit hatten, die Einrichtung zu besuchen; wir hoffen, dass es eine gewissenhafte Prüfung dessen gibt, was in dem Zentrum geschieht und dass das Zentrum, das von der Kooperative Dimensione uomo 2000 geleitet wird, auf ein anständiges Niveau zurückgebracht wird.

Wenn die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge weinen, dann die Erwachsenen nicht weniger, angesichts des Zustandes einiger CAS** in der Provinz Trapani. Wir sind in Triscina gewesen, im außerordentlichen Aufnahmezentrum, das von der Gruppe Insieme geleitet wird, dem ehemaligen Hotel Aerus. Die Unzufriedenheit der Gäste (85, vor allem Gambier, die einmal in Italien angekommen alles durchgemacht haben, da sie auch durch das CIE*** von Milo gegangen sind), die sich dort seit ungefähr zwei Jahren aufhalten, ist vor 10 Tagen in einen Protest gemündet, bei dem sie die Staatsstraße des Örtchens am Meer blockiert haben. Ein wiederkehrender Protest in der Hoffnung, etwas zu erreichen; einige von ihnen warten schon seit zwei Jahren darauf, dass sie einen Termin für die Anhörung vor der Gebietskommission bekommen, und weil vor einiger Zeit auch die Ausgabe des Taschengeldes beendet wurde.


Das letzte Taschengeld haben die Leute im August bekommen, weil die Betreibergesellschaft selber knapp bei Kasse ist; auch sie hat seit 6 Monaten kein Geld mehr erhalten; damit steht die Versorgung mit allen Diensten auf dem Spiel, wie die Betreibergesellschaft behauptet, auch wenn man vertritt, dass es bis jetzt nur Schwierigkeiten bei der Verteilung des Taschengeldes gegeben hätte.
Aber Fakt ist, die Unzufriedenheit ist offenkundig: Die jungen Migranten befinden sich in einem kleinen Örtchen, das ihnen nichts zu bieten hat, besonders nicht im Winter; mit Wellen bis vor die Tür des Hotels, ohne Taschengeld, ohne die Hoffnung, in kurzer Zeit ihr eigenes Leben zu ändern und in dem Bewusstsein, dass einige Rechte nicht respektiert werden; in dieser Situation schafft die Unzufriedenheit schlechte Laune, Klagen über das Essen, über das Fehlen der Hygieneausstattung, über die Schwierigkeit mit den Mitarbeitern ins Gespräch zu kommen, auch sie seit 6 Monaten ohne Gehalt: Ganz sicher: ein System des Scheiterns. Das System Triscina hat es geschafft, den Krieg unter den Armen in Gang zu bringen: In einem Örtchen, das nur im Sommer „lebendig ist“, hat die Ruhelosigkeit der jungen Afrikaner die Unzufriedenheit bei einigen Ortsansässigen geweckt, die ihrer eigenen Wut im Web Ausdruck verleihen und gewalttätige und rassistische verbale Reaktionen entfesseln. Episoden wie diese zeigen, dass man den Sündenbock immer, oft und gerne, im Fremden findet.
In dieser Situation großen Unbehagens haben wir die Mediatoren zwischen Gästen und Betreibergesellschaft gespielt. Wir sind zu einer Übereinkunft gekommen: Die jungen Leute werden von den Mitarbeitern auf die Polizeidirektion begleitet. In einer Begegnung mit den zuständigen Beamten soll eine Lösung für die Verzögerungen des Systems gefunden werden. Wir haben uns vorgenommen, euch möglichst bald vom Ausgang zu berichten.

Ein Mechanismus außer Kontrolle, der 5 Monate benötigt, um die Asylbeantragung auf der Polizeidirektion oder in den Kommissariaten des nahegelegenen Mazara oder Marsala auf den Weg zu bringen; das ruft bemerkenswerte Verzögerungen, Irrläufer, Verstimmungen hervor; diese führen dazu, dass Menschen die Zentren verlassen, weil dieses System nicht glaubwürdig ist. Und die Menschen enden in den Händen von Schleusern, die sich über diese verheerenden Fehler freuen.

Wir haben unsere Rundreise in Campobello di Mazara beendet; dort haben wir ungefähr 600 Migranten angetroffen; viele von ihnen sind aus Norditalien gekommen, um Oliven zu ernten, um sich einige Cents zu verdienen, um die Familie ernähren zu können, hier oder im eigenen Herkunftsland. Aber davon werden wir im nächsten Bericht erzählen, wenn wir versuchen, uns das Leben auf den Feldern von den Protagonisten erzählen zu lassen.

Alberto Biondo
Borderline Sicilia Onlus

*Modell C3 – modulo: Formular C3 zur Asylantragstellung (Ein Fragebogen zur Person, den der Asylantragsteller auf dem für ihn zuständigen Polizeipräsidium beantworten muss. Danach erhält er eine dreimonatige Aufenthaltserlaubnis für Asylsuchende.)
**CAS – Centro di accoglienza straordinaria: außerordentliches Aufnahmezentrum (spezialisierte Zentren zur Aufnahme z.B. für Minderjährige)
***CIE – Centro di Identificazione ed Espulsione: Zentrum für Identifikation und Abschiebung, Abschiebehaft

Aus dem Italienischen von Rainer Grüber