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Mittwoch, 16. September 2015

Besuch in einem CAS in Modica

Am 15. September haben wir ein CAS* in Modica besucht, das gleichzeitig der Hauptsitz der gemeinnützigen Organisation „Virtus Italia“ ist, welche die letzte Ausschreibung der Präfektur für die Leitung des Zentrums gewonnen hat. Das CAS* ist im Moment maximal ausgelastet und beherbergt 25 erwachsene Männer aus Mali, Senegal, aus Gambia und Nigeria. Die Mehrheit von ihnen ist seit der Gründung des Zentrums, also seit März 2015 hier, und wurde direkt von Pozzallo oder Catania hergebracht.

Die Einrichtung befindet sich in einer Nebenstraße des Einkaufsviertels der Stadt. Sie sollte als Dialysezentrum genutzt werden, wurde allerdings komplett restauriert, als der neue Nutzungszweck bekannt wurde. Die Einrichtung setzt sich hauptsächlich aus einem Gebäude auf einer Etage zusammen, mit einer Wäscherei, einem Lagerraum und leerstehenden Zimmern im Kellergeschoss. Eine kleine Rasenanlage befindet sich im hinteren Bereich des Gebäudes. Als ich über die Türschwelle trete, befinde ich mich im hellen und großen Wohnzimmer, das an einige der sieben Schlafzimmer grenzt und an einen kleinen TV-Saal, wo einige Jungen vor einem Bildschirm sitzen und kaum auf mich aufmerksam werden. Eine Schichtarbeiterin begrüßt mich und geht mit mir in das Personalbüro, wo sie beginnt mir eine Einführung in das Zentrum zu geben, das bisher das einzige CAS* ist, welches von Virtus Italia in Sizilien betrieben wird. Der Personalstamm beläuft sich auf sieben Mitarbeiter, darunter ist auch eine Sozialarbeiterin, die sich die Arbeit in Tages- und Nachtschichten einteilen. Die Rechtsberatung erfolgt über einen externen Anwalt, auch für Übersetzungen und für die sprachlich-kulturelle Mediation werden externe Dienstleister in Anspruch genommen. Die Mitarbeiter sprechen nämlich Englisch oder Französisch – Sprachen, die den zur Zeit anwesenden Jungen bekannt sind. Doch in besonders heiklen Situationen sei die Anwesenheit des kulturellen Mediators unverzichtbar, wird mir erklärt. So war es zum Beispiel, als der Anwalt die Jungen getroffen hat, um sie für die Anhörung bei der Kommission vorzubereiten, erzählt die Mitarbeiterin. Denn die aktuell beherbergten Asylsuchenden, außer einer kleinen Gruppe von gerade eingetroffenen Bewohnern, hätten ihre Anhörung vor der Kommission im August abgehalten, ganze 5 Monate nach ihrer Ankunft im Zentrum. Bis heute warten sie auf eine Antwort. Alle Jungen sind in Besitz eines namentlichen Attests, einer Steuernummer und einer Krankenversichertenkarte, die es ihnen ermöglicht, sich gegebenenfalls direkt an den behandelnden Arzt zu wenden. Die Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen und von MEDU kämen regelmäßig, so werde ich informiert, und kümmerten sich um die medizinische und psychologische Betreuung der Bewohner. Das Taschengeld von täglich 2,50€ werde einmal monatlich in bar ausgezahlt, bei der Ankunft werde außerdem eine Guthabenkarte für das Handy ausgeteilt. Eine externe Cateringfirma kümmere sich um das Essen, auch wenn sonntags seit einiger Zeit den Jungen ermöglicht werde, eine Mahlzeit selbst zu kochen, die sie sich aussuchen. Die Reinigung der Schlaf- und Gemeinschaftsräume übernehmen die Jungen gemeinsam mit den Mitarbeitern.
Die Mitarbeiterin führt mich durch die Einrichtung: Küche, 2-, 3- und 4-Bett-Zimmer, davon einige mit eigenem Bad im Zimmer. Manche Zimmer im Kellergeschoss sind leer. Dort sehe ich Jungen sitzen, die Musik hören und sich ausruhen. Während ich durch die Räume laufe kreuzen sich unsere Blicke und sie begrüßen mich, ohne jedoch Fragen zu stellen oder sprechen zu wollen. Die Räumlichkeiten sind sehr hell und sauber, in einem Raum beten einige Bewohner, andere sitzen mit Kopfhörern und Handy in griffbereiter Nähe: alles scheint sehr ruhig und entspannt. An den Wänden des Wohnzimmers hängen Temperazeichnungen und eine Tafel mit Schriften in Französisch. „Morgens finden Alphabetisierungsunterrichtsstunden statt, in diesen Monaten hatten die Jungs die Gelegenheit, Abendkurse in Italienisch in einer Schule in der Nähe zu besuchen“, sagt die Mitarbeiterin, „heute beginnen sie wieder nach den Ferien, auch wenn sie leider eine Klasse besuchen, die extra für sie geschaffen wurde, demnach ist die Interaktion mit Italienern minimal. Jeden Nachmittag gehen sie zum Fußballplatz hier in der Nähe und bewegen sich viel zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Manche schließen Freundschaften, vor allem mit unseren Nachbarn, andere weniger. Alle sind natürlich des langen Wartens auf die Dokumente müde und viele wollen weggehen, vor allem nach Deutschland oder Frankreich, wo sie behaupten Freunde oder Verwandtschaft zu haben.“ Es scheint, dass in diesen Monaten einige Bewohner das Zentrum auf eigene Faust verlassen haben, um die Reise nach Nordeuropa fortzuführen
Ich verabschiede mich von der Mitarbeiterin um noch ein paar Worte mit den Jungs zu wechseln, die im Wohnzimmer sitzen. K. fixiert den Fernseher vor ihm und erklärt mir nur mit leiser Stimme, dass er aus Gambia kommt und dass es hier „nicht leicht ist“. Zwei weitere Bewohner aus Gambia erklären mir vertrauensvoll, dass sie unter den Ersten waren, die vor sechs Monaten ins Zentrum kamen, nachdem sie in Pozzallo angekommen waren. „Er und ich waren am gleichen Ort, als wir in Libyen aufgebrochen sind“, sagt A., „aber wir haben uns erst hier kennengelernt. Die Situation ist schwierig, im Grunde essen, schlafen und warten wir nur. Und schon allein deswegen will ich, sobald ich meine Dokumente habe, in ein anderes Land gehen“. A. und M. haben vor einem Monat die Anhörung vor der Kommission gehabt und schütteln nur den Kopf, als sie über die Dokumente reden. „Es ist sehr schwierig, hier neue Freundschaften zu schließen; in der Schule haben wir eine Klasse nur für uns und wenn wir zum Fußballfeld gehen, kann es passieren, dass manche Italiener uns keinen Platz geben wollen. Das Problem ist, dass wir schwarz sind, daran erinnern sie uns, und dass wir oft ärmlich angezogen sind, kein gutes Bild abgeben und kein gutes Italienisch sprechen. Also kann man sagen, dass wir vor allem untereinander befreundet sind.“ In den Worten von A. schwingt viel Enttäuschung und Müdigkeit mit, der erst wieder auflebt, als er von Musik und seiner anderen Leidenschaft, dem Fußball, spricht. M. führt das Gespräch fort, das sein Freund über das Leben hier angefangen hat: „Generell bewegen wir uns nie über dieses Viertel hinaus. In die Innenstadt von Modica sind wir zum Beispiel erst ein oder zwei Mal gegangen, als wir gerade angekommen waren. Wir kennen keine anderen Orte oder Städte in der Nähe. Nichts geht über diesen Ort hinaus.“ Sie vermitteln beide tatsächlich ein Gefühl von Machtlosigkeit mit ihren Worten, aber vor allem mit ihren Blicken und ihrer gekrümmten Haltung, um den Tisch hockend. Sie heben den Kopf und lächeln erst bei meinem Abschied. Es scheint, als habe der kurze Moment, in dem sie von ihren Wünschen und Träumen gesprochen haben, ihnen wieder Entschlossenheit eingeflößt, jene auch zu verfolgen, und nicht in ihrem Schweigen und in der generellen Gleichgültigkeit dahinzusiechen.

Lucia Borghi
Borderline Sicilia Onlus

Aus dem Italienischen übersetzt von Alina Maggiore

*CAS: außerordentliches Aufnahmezentrum