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Sonntag, 21. Juni 2015

Was wir sehen müssen

taz.de Auf ihrer Überfahrt in die EU sterben 17 Menschen. Tage später liegen sie in Müllsäcken im Kühlschrank einer sizilianischen Klinik.
Anfang Juni reiste ein Mitarbeiter des Zentrums für politische Schönheit nach Sizilien. Der Student wollte Recherchen anstellen für die nächste Aktion der Künstler. Ein Bestatter führte ihn in die Leichenkammer des kommunalen Muscatello-Krankenhauses von Augusta, erzählt er. Der Mann wollte, dass er begreift, wie dramatisch die Lage an der Südflanke Europas ist.
Er sah dort einen Raum, in der Ecke ein kleiner Gebetsschrein, zwei Kerzen, zwei Blumenstöcke. Dahinter ein Kühlschrank, groß wie drei Telefonzellen, gefüllt mit den Leichen von 17 Afrikanern, eingewickelt in Leinentücher und Müllsäcke, aufeinander geworfen wie Schlachtabfälle. Ihr Blut ist an der Seite des Kühlschranks auf den Boden geflossen und zu einer großen, schwarzen Lache getrocknet.
Das Foto, das der Künstler davon gemacht hat, ähnelt einem Kippbild: Je nachdem, wie man darauf schaut, präsentiert es andere Einsichten.
Geht man nahe heran, scheint zwischen den Müllsäcken, dem Blut und den Schädelumrissen die Gewissheit auf, dass Tote mit weißer Hautfarbe in Europa niemals so behandelt würden.
Wenn man die Verantwortlichen damit konfrontiert, zeigt das Foto auch die Nachlässigkeit eines Staates, in dem viel improvisiert und wenig hinterfragt wird.
Und im Strom all der Bilder von Mittelmeer-Toten verweist es auf eine kleine Stadt, alleingelassen mit den Folgen der Abschottungspolitik. Es stellt ein Europa bloß, das die hässlichen Folgen seiner Verantwortungslosigkeit ignoriert.

Am Hafen
31. Mai, 1.09 Uhr. Chiara Montaldo, Medizinerin bei Ärzte ohne Grenzen, steht am Hafen von Pozzallo, ganz im Südosten Siziliens. Fast 1.000 Menschen gehen von Bord eines Schiffes, eingehüllt in die goldfarbene Wärmefolie sehen sie in der Nacht aus wie Raumfahrer. „Für uns sind es nicht 1.000, sondern es ist ein Mensch und noch einer und noch einer …“, twittert sie. Fast 100.000 Migranten sind in diesem Jahr in Italien angekommen, manchmal dauert es nur wenige Stunden, bis ein neues Schiff ankommt, beladen mit Menschen, die alles riskiert haben für die Hoffnung, in Europa leben zu können.
Sieben Stunden später ist das Ärzteteam beim nächsten Einsatz, 85 Kilometer weiter nördlich, am Hafen von Augusta. Die Militärfregatte „Fenice“ hat 454 Migranten gerettet und 17 Leichen auf dem Meer geborgen. Es ist halb neun Uhr morgens, Montaldo twittert ein Bild. „Wir versuchen, wenigstens den Lebenden zu helfen“, schreibt sie.
Um die Toten kümmert sich der Bestattungsunternehmer Concetto Cacciaguerra. Vor den Zelten des Roten Kreuzes haben er und ein Mitarbeiter die Kleinbusse geparkt, mit denen sie 17 Särge hergeschafft haben. In einer Reihe liegen sie jetzt am Kai: Hellbraunes, rotes, dunkelbraunes, schwarzes Holz, davor stehen Polizisten, Ärzte und Fotografen mit weißen Atemschutzmasken.

Der Rechtsmediziner
Sie haben den Rechtsmediziner Francesco Coco angerufen. 17 Tote seien es diesmal, Ankunft in wenigen Stunden. „Mach alles bereit, haben sie gesagt.“ Er telefonierte die sechs Krankenhäuser der Provinz Siracusa ab, nur die Pathologie des Ospedale di Lentini, einer Klinik im Hinterland, hatte Platz.
Cocos Praxis liegt in der Provinzhauptstadt Siracusa, das Geschäft ist einträglich. Braune Ledersofas, die Nähte im gleichen Cremeton wie Fliesen und Tapete, an der Wand Flachbildschirme, der Empfangstresen wie in einem teuren Hotel. Coco, taubenblaue Leinenhose, hellgraue Slipper, kurzärmliges Hemd, sieht aus wie eine Werbefigur für private Altersvorsorge. Er setzt sich in einen Rattansessel auf seinem Balkon. Bevor er von den Toten spricht, erzählt er von den Reisen in seiner Studentenzeit hinter den Eisernen Vorhang, wie er den Jungs Marlboro und den Mädchen Nylonstrümpfe mitgebracht hat, und dann zieht er an seiner Zigarette und schaut einen an, als hoffe er, diese Zeit nun zurückzubekommen.
„Keiner weiß, wie viele es wirklich sind“, sagt Francesco Coco. „Wir kriegen nur die zu sehen, die das Militär vom Meer mitbringt. Das ist nur ein Bruchteil.“
Die Neigung der Marine, lange nach Leichen zu suchen, dürfte gering sein. Zu sehr beschäftigt sie die Rettung der Lebenden, der Aufwand, den die Bergung jeder Leiche nach sich zieht, ist hoch. 150 tote Flüchtlinge hat Coco in den vergangenen Jahren begutachtet. Mal 5 in Pozzallo, 15 in Samperi, 25 in Augusta, auch die Toten, die am Strand bei Pachino angeschwemmt wurden.
Ein Riesenaufwand sei das, die Rechtsmediziner, Assistenten, Polizisten, Kriminaltechniker, die Inventarlisten, die Schutzanzüge – „man weiß nie, welche Infektion sie haben“, sagt er und hebt den Kopf etwas an, sodass seine Brillengläser die Sonne reflektieren und man seine Augen nicht mehr sieht. Rund 300 Euro zahle ihm die Justizkasse pro Leiche, „übrig bleibt da kaum was“.
Coco war am Hafen, als die Militärfregatte „Fenice“ ankam. „Wir machen zuerst nur eine Kadaverinspektion“, sagt er. „Wenn wir die Todesursache verstehen, brauchen wir keine Autopsie.“ Die 17 Geborgenen vom 31. Mai waren im Zustand beginnender Verwesung, etwa drei Tage tot. Sie hatten Dieseldämpfe im Schiffsbauch eingeatmet. „Wahrscheinlich gab es einen Unfall mit dem Motor.“
Coco versah die Leichen mit Nummern, er vermaß und wog sie, nahm Fingerabdrücke, dokumentierte Gebiss, Narben und andere Auffälligkeiten, am Ende schnitt er ihnen etwas Fleisch aus dem Oberschenkelmuskel und ein paar Haare ab und schickte die Gewebeproben ins kriminaltechnische Labor von Catania. Polizisten machten Fotos, legten eine Liste der Habseligkeiten an, einer führte Protokoll. „Wir haben die ganze Arbeit an einem Tag gemacht, das läuft wie bei Fiat am Band“, sagt Coco.

Was für Hygieneprobleme?
„Wir hatten große Hygieneprobleme“, sagt Coco. Es kämen sehr viele Leichen nach Sizilien. „Ich habe Syrer aus Damaskus gesehen, aus Aleppo, Ärzte, Ingenieure …“, sagt er, sie hatten Diplome in ihren Taschen, Lebensläufe, Fotos von der Mutter, der Verlobten, der Abschlussfeier.
Oder Afrikaner, manche mit zehn Euro in der Tasche. „Was kriegt man in Europa für zehn Euro?“, fragt er. Jeder müsse sehen, was er, Coco, gesehen habe, „nur so versteht man, was für ein Ausmaß diese Tragödie hier hat“. Er zündet eine neue Zigarette an.
„Wenn so viele Kadaver kommen, weiß man nicht, wohin damit“, sagt er. „Man muss schnell improvisieren, man kann sie nicht überallhin verteilen.“ Zwei hier, sechs da, drei da, „das macht alles nur viel komplizierter und teurer, das dauert dann alles einen Monat“, sagt er. Alle Leichen „konzentriert an einem Ort, das reduziert Kosten und Zeit und Material“.
Es sei nicht leicht für Sizilien, sagt er dann. „Wir tragen den schwersten Teil, dabei ist es auch euer Problem, das Problem von Europa. Aber es ist so, als ob es Europa gar nicht gäbe“, sagt er. „Jeder denkt nur an sich.“ Wenn es nicht endlich eine gemeinsame Lösung gebe, „dann geht das hier immer so weiter“.

Der Bestatter
Das Bestattungsinstitut von Concetto Cacciaguerra liegt am Rande der Altstadt von Augusta. Vom nahen Marktplatz weht der Jubel einer Kundgebung der Protestbewegung Cinque Stelle herüber, vor der Tür sitzt Cacciaguerras Vater auf einer kleinen Bank, eine Hand auf dem Kopf eines Hundes, den Blick auf den Stadtpark auf der anderen Straßenseite gerichtet. Der Laden könnte eine der vielen Lottoannahmestellen sein, stünden im Schaufenster nicht die Urnen aus blank poliertem Metall, aus Ton und Steingut, die Papstbilder und die Muster für die kleinen Totenkärtchen mit dem Bild einer früh verstorbenen jungen Frau.
Cacciaguerra, Mitte 20, ist gerade von einer Beerdigung zurückgekommen. In schwarzer Hose, grauem Hemd, die Haare gegelt, Hornbrille auf der Nase, sitzt er an seinem Schreibtisch im Hinterzimmer; während er redet, schaut er unentwegt auf seinen Monitor und klickt mit der Maus am Bildschirm herum. Sechzig Migranten hat er in diesem und dem letzten Jahr bestattet, „es sind immer mehr geworden“. Er redet schnell, in militärischem Tonfall, als habe er keine Zeit zu verlieren. „Alles muss allein die Kommune bezahlen. Wir sind verlassen. Die Regierung in Rom hilft uns nicht.“ Anfang des Jahres hat Cacciaguerra für die Berlusconi-nahe Partei Lista Azzurra kandidiert.
Die Migranten, die überlebt haben, werden auf das ganze Land verteilt, für sie ist die nationale Migrationspolizei zuständig. Die Verantwortung für die Toten aber ist in Italien ein Abbild des europäischen Asylsystems: Um sie kümmern sich die Kommunen, in denen die Leichen an Land gebracht werden – also jene, in denen Marine oder Küstenwache ihre Basen haben.
Cacciaguerra übernahm die toten Migranten am Mittag des 31. Mai von der Kommandantin der Militärfregatte, Leutnant Claudia di Paolo, und brachte sie ins Krankenhaus von Augusta. Am 3. Juni zeigte er dem Mitarbeiter des Zentrums für politische Schönheit den Kühlschrank. Die Lagerung habe die Präfektur so angeordnet, sagte er dem Aktionskünstler. „Wir haben einfach nicht genug Platz für all die Leichen“, sagt er nun.
Fünf Tage lang müssen die Gebeine dem Staatsanwalt Tommaso Pagano zur Verfügung stehen. Nach Ablauf dieser Frist, es war der 4. Juni, ordnete der Magistrat von Augusta in der Verfügung Nummer 48 an, was mit den Toten zu geschehen habe: Weil Cacciaguerra auf dem Friedhof von Augusta zuvor schon andere Migranten bestattet hatte, habe dieser die 17 nun auf den umliegenden Friedhöfen von Siracusa, Palazzolo Acreide, Avola, Carlentini, Melilli, Priolo Gargallo und Francofonte beizusetzen. 1.000 Euro bekam er für jedes Begräbnis. „Genauso viel wie bei anderen Toten“, sagt Cacciaguerra. Am 6. Juni hat er die letzten der 17 bestattet.

Lentini
Im Krankenhaus von Lentini, einem großen, runden Gebäudekomplex auf einem Hügel, ist die Hygieneabteilung für Leichen zuständig. Die verantwortliche Ärztin hat ihr Büro im fünften Stock, sie will anonym bleiben. „Die 17 toten Migranten waren niemals hier“, behauptet sie. Hat der Rechtsmediziner Coco gelogen? Sie zieht die Schultern hoch, hebt die Hände und schaut zur Decke. Dann räumt sie ein, dass die Leichenschau in Lentini stattgefunden habe. „Sie waren kurz hier. Aber dann wurden sie sofort wieder weggebracht.“ Warum? „Wir hatten Probleme mit den Kühlschränken. Es waren sehr viele Leichen“, sagt sie.
Tatsächlich hat der Bestatter Cacciaguerra wohl am 1. oder 2. Juni, die Beteiligten widersprechen sich in diesem Punkt, die Leichen wieder in seinen Transporter geladen, immer vier auf einmal, und sie aus dem Krankenhaus von Augusta die 34 Kilometer ins Krankenhaus von Lentini gebracht. Beide gehören zur regionalen Krankenhausholding Azienda Sanitaria Provinciale di Siracusa. Die erste Fuhre musste um sieben Uhr morgens da sein.
„Die Pathologen waren bis zwei Uhr in der Früh beschäftigt“, sagt die Ärztin. Danach habe es „im Konferenzraum“ von Lentini eine Trauerfeier mit „Vertretern aller Religionen“ gegeben, sagt sie. Anschließend seien die Friedhofsverwaltungen der umliegenden Städte gekommen und hätten die Toten abgeholt. „Aber das habe ich nicht gesagt, ich darf gar nichts sagen“, sagt die Dame, hält sich die ausgestreckte Hand seitlich an den Kehlkopf und bewegt sie hin und her, als ob ihr jemand wegen ihrer Gesprächigkeit den Hals aufschneiden würde.
Dabei hat sie wohl erneut die Unwahrheit gesagt. Keith Abdelhafid, der Imam der Barmherzigkeitsmoschee in Catania, gibt an, erst am 6. Juni vom stellvertretenden Stadtdirektor von Augusta, Pino Pisana, zur Totenfeier eingeladen worden zu sein. Die habe am Nachmittag des 8. Juni stattgefunden, also nach dem Begräbnis, und zwar in einer Kapelle in Augusta, zusammen mit einem katholischen Priester.
„Ein paar gemeinsame Gebete, wir haben um Gnade und Vergebung für die Toten gebeten“, sagt Abdelhafid. Eine richtige Totenfeier sei es allerdings nicht gewesen, „dafür müssen die Leichen da sein“. „Aber man hat uns gesagt, dass sei aus hygienischen Gründen nicht mehr möglich.“ Ohnehin sei über die Identität der Toten nichts bekannt gewesen – also auch nichts über ihre Religion. Einige Migranten waren bei der Feier anwesend, Vertreter des Rats von Augusta. „Nach einer halben Stunde war es vorbei“, sagt Abdelhafid.
Tatsächlich wurden die Leichen auch nicht von Lentini aus zu den Friedhöfen gebracht, sondern offenbar wieder im Krankenhaus von Augusta im Kühlschrank gestapelt.
Weshalb?
Jetzt greift die Ärztin zum Telefonhörer. „Unsere Krankenhausgesellschaft hat eine Pressesprecherin, nur die darf etwas sagen“, sagt sie. Doch die will nicht. „Ich soll etwas ausrichten“, sagt die Ärztin nach einem kurzen Telefonat. „Wir sagen dazu nichts. Alle Fragen müssen an die Präfektur gerichtet werden.“

Die Präfektur
Aus ihrem Fenster schaut Filippina Cocuzza, die Vizepräfektin der Provinz Siracusa, auf die historische Piazza Archimede. Die Sonne hat ihr Büro so aufgeheizt, dass sie ihren Blazer ausgezogen hat. Wenn Besuch durch die Tür kommt, legt sie ihn sich schnell wieder über die Schulter. Sie schaut auf das Foto mit dem geöffneten Kühlschrank, dann ruft sie einen ihrer Mitarbeiter, dann noch einen, die beiden stehen in ihrem Büro und beginnen zu telefonieren, auch Cocuzza telefoniert und unterschreibt dabei Akten in hellroten Pappheftern, hintereinander weg.
Sie dachten, dass die Leichen in Augusta untersucht worden wären, sagt sie. Ein Dezernent ruft den Rechtsmediziner Coco an, nach einer Weile hat sie die Sache geklärt. „Für die Untersuchung gab es keinen Platz in Krankenhaus von Augusta und für die Aufbewahrung keinen im Krankenhaus von Lentini“, sagt sie.
„Die Bilder sind grauenhaft, schrecklich, das ist gar keine Frage“, sagt Cocuzza. Sie habe davon nicht gewusst. „Aber die Leichen müssen vier Tage lang für die Justiz greifbar bleiben, das ist Vorschrift.“ Für die kleinen Städte sei es ein großes Problem, dass so viele Tote ankämen.
Ist es legal, Leichen so zu lagern?
„Ich bin nicht die Polizei“, sagt sie. „Wie das genau gemacht wird, ist allein die Sache des Krankenhauses.“
Die Holding
Die Krankenhausholding Azienda Sanitaria Provinciale di Siracusa hat ihren Sitz in einem unscheinbaren Gebäude am Corso Gelone, außerhalb der prächtigen Altstadt von Siracusa. Anfragen beantworte nur die Sprecherin Agata Di Giorgio, sagt einer der beiden Herren am Empfang. Doch die sei nicht anwesend. Wie es möglich ist, dass in einem ASP-Krankenhaus Leichen wie Tierkadaver verwahrt werden? Die beiden betrachten das Foto, dann geht einer nach hinten und kommt mit einer grell geschminkten Dame zurück. Sie will nicht sagen, wer sie ist, „das hier ist die Direktion“, sagt sie nur. Sie schaut kurz auf das Kühlschrankfoto, dann wird sie noch lauter. „Und was soll ich jetzt tun?“ Anfragen nur per Mail.
Warum wurden die Leichen so aufbewahrt? Wie lange lagen sie da? Wer wusste davon? Hat das Krankenhauspersonal sie in den Kühlschrank gelegt?
Auch am nächsten Tag geht die ASP-Sprecherin nicht ans Telefon, sie antwortet nicht auf die erste Mail, nicht auf die zweite, ebenso wenig die beiden Krankenhausdirektoren von Augusta oder die Kommunalverwaltung.
Der Friedhof von Siracusa
Der Friedhof von Siracusa, nahe der Auffahrt zur Autobahn, gleicht einem Skulpturenpark. Überall Statuen, private Kapellen, Grüfte. Kaum ein Toter, dem die Lebenden nicht ein kleines Denkmal errichtet hätten. In Sektor 2S, in den Gräbern mit den Nummern 212 bis 217, hat Cacciaguerra sechs der toten Migranten bestattet. Ein Erdhügel pro Person, die umgegrabene Erde erinnert an einen Acker, aber es ist kein Massengrab. Auf jedem Hügel steckt nur ein einzelner vertrockneter Zweig und ein kleiner Stein, auf den jemand mit schwarzer Farbe in ungelenken Buchstaben die Nummer des Grabplatzes gemalt hat.

Die Polizei
An der Sicherheitsschleuse im Justizpalast von Siracusa geht es streng zu. Zwei Clans der Mafia sollen sich die Stadt aufgeteilt haben, Nardo und Linguanti, sie gilt als eine Hochburg des organisierten Verbrechens.
Das graue Haar des Kommissars Carlo Parini ist noch voll. Er trägt eine blaue Weste, hat eine Sonnenbrille in den Kragen gesteckt und verschwindet fast hinter einem Stapel von Akten in seinem fensterlosen Zimmer. Auf einem Tisch steht ein Fähnchen der EU-Grenzschutzagentur Frontex, an der Wand hängt ein Kalender der italienischen Marine. Parini leitet die Kommission gegen illegale Einwanderung. Eigentlich kümmert er sich um Schleuser, die Identifizierung der toten Bootsflüchtlinge in der Provinz Siracusa ist sein Nebenjob.
33 Leichen waren es 2014, bislang 28 in diesem Jahr. Parini bekommt Fotos vom Rechtsmediziner, den Untersuchungsbericht, das DNA-Profil aus dem Polizeilabor. Er speichert das Todesdatum, das Ankunftsdatum, die Namen der Boote, die die Leichen gebracht haben. Am Ende bleibt von jedem Toten eine CD. Sollte jemand auftauchen, der nach seinen Angehörigen sucht, kann per DNA-Vergleich festgestellt werden, ob sie unter Parinis Leichen waren.
Manchmal stellt er Fotos ins Netz, manchmal schicken Angehörige Bilder und bitten um einen Vergleich. Nur in vier Fällen hatte Parini bislang Erfolg: Zwei syrische Flüchtlinge, ein Palästinenser und ein Ägypter konnten identifiziert werden. „Ein syrischer Mann hat die Leiche seiner Frau nach Deutschland überführen lassen, ein anderer Syrer die seines Neffen nach Dänemark.“ Der Palästinenser und der Ägypter wurden mithilfe der Botschaften in ihr Herkunftsland gebracht.

Die 17 Toten vom 31. Mai waren die bislang größte Gruppe. Über sie hat er nichts herausgefunden. „Wir haben die Überlebenden befragt, aber keiner wusste etwas“, sagt er. Vermutlich seien es Eritreer gewesen. „Nach denen fragt niemand“, sagt er.