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Freitag, 10. Oktober 2014

Inside Italy: „Wenn die Operation Mos Maiorum bis nach Syrakus gekommen wäre“

Wenn ihr einmal in Syrakus vorbeikommt – ich selbst hab es getan, weil ich am Oltremare Festival teilgenommen habe - dann besucht die Süßwasserquelle Fonte Arethusa, die sich auf der Insel Ortigia befinden, dort wo die Stadt Syrakus errichtet wurde. Hier sprudelt eine teils unterirdische Süßwasserquelle, deren Wasser ins Meer fließt. Süß- und Salzwasser vermengen sich dann in Windeseile und wunderschöne Zyperngräser gedeihen.
Die Dichter der vergangenen Jahrhunderte standen verträumt hier herum, vor diesen klaren und süßen Wasserquellen, die sich dann blitzschnell mit dem Mittelmeerwasser vermischen. In Zeiten knapp werdender Wasserressourcen ist es heute nahezu ein Wunder, die Quelle hier bestaunen zu können. Die Zyperngewächse an der Fonte Arethusa sind gemeinsam mit den Gewächsen in Fiumefreddo einzigartig in ganz Europa. Sie sind ein Teil des Nil-Ökosystems, der das Meer überquert hat.

Arethusa ist eine Figur der griechischen Mythologie. Sie ist eine schöne und junge Nymphe, in die sich Alpheo, Sohn des Meeresgottes, verliebt, während er sie beim Baden beobachtet. Sie flieht vor seinen Annäherungsversuchen nach Syrakus, wo sie von der Göttin Artemis in eine Quelle verwandelt wird. Zeus, berührt von dem Schmerz Alpheos, verwandelt diesen ebenfalls in einen Fluss, um ihm zu ermöglichen, über das ionische Meer von Peloponnes nach Ortigia zu gelangen, wo er seine Nymphe wiedertreffen kann. Hier sind daher die göttlichen Gewässer Griechenlands und sie  gesuchten Essenzen Afrikas zusammengetroffen und haben Reichtum und Schönheit gebildet.

Am 6. September, einem Tag nach meinem Besuch in Syrakus, ist das Oltremare Festival weiter nach Pozzallo gezogen, wo das Geheimnis der aufeinander treffenden Wege und Kulturen weitergeht. Pozzallo ist eine Stadt in Sizilien, in der die meisten Flüchtlingsboote  ankommen. Während ich diese Zeilen schreibe, haben 504 Flüchtlinge die Küste von Ragusano erreicht. Paola Ottaviano von „Boderline Sicilia“ hat während des Oltremare Festivals die unrechtmäßige Behandlung in den Aufnahmezentren und die so genannten zeitversetzten Zurückweisungen verurteilt, von denen auch schwangere Frauen und Jugendliche aus Ländern mit diktatorischen Regierungen betroffen sind.  Das Zusammentreffen, an das wir metaphorisch denken, wenn wir die Fonte Arethusa bewundern, wird in diesen Tagen mit Misstrauen gesehen. Allerdings ist es absolut irreführend von einer Invasion zu sprechen, vor der man sich schützen muss und eine solche Sichtweise berücksichtigt weder die Tragik der Geschehnisse noch deren Dimension. Zum einen haben viele von denen, die das Mittelmeer zu überqueren versuchen, ihr Ziel nicht erreichen. Paola weist darauf hin, dass seit Jahresbeginn zwischen zwei und dreitausend Menschen bei dem Versuch unsere Küsten zu erreichen verunglückt sind. Zum anderen sind die  Flüchtlingsströme, die unser Land erreichen, marginal im Vergleich zu anderen betroffenen Ländern. Betrachten wir beispielsweise die Opfer der Unruhen in Syrien: Mattia Toaldo vom Londoner European Council on Foreign Relations, schätzt die Zahl der Flüchtlinge in Syrien auf 6,5 Millionen, auf 3,5 Millionen die Flüchtlinge, die in den Libanon, die Türkei oder Jordanien geflohen sind und nur schätzungsweise 10.000 syrische Flüchtlinge sind nach Italien geflohen. Die Zahlen sind nicht vergleichbar.
Vor einigen Tagen haben europäische und italienische Institutionen an das Schiffsunglück vor Lampedusa am 3. Oktober 2013 erinnert, bei dem fast 400 Migranten, die von Libyen auf dem Weg nach Italien waren, starben. Dieser Jahrestag lastet schwer auf unserem Gewissen und trotzdem sind vom 13. bis 26. Oktober rund 18.000 Polizisten der EU Länder und Mitgliedstaaten des Schengener Abkommens auf der Jagd nach Migranten ohne gültige Aufenthaltspapiere. Zwangskontrollen, Kontrollstellen, Befragungen und Verhaftungen werden an den Bahnhöfen und Flughäfen Europas, an den Grenzen der EU und im Schengenraum erwartet. Die Operation wurde „Mos Maiorum“ getauft, das auf Lateinisch „Sitte der Vorfahren“ bedeutet und Bezug auf die auf Moral der römischen Kultur nimmt.  Die Wahl eines solchen Namens liegt darin begründet, dass man sich eine Einhaltung der Gesetze seitens der Immigranten wünscht und diese durch eine europaweite Operation erzwingt, die während der griechischen EU-Ratspräsidentschaft konzipiert und für die nun Italien eingesetzt wurde. Welch Verweis auf das römische Recht, vor allem seitens europäischer Regierungen, deren Bevölkerung im Laufe der Geschichte stets für einen gemeinsamen Mittelmeerraum eingetreten ist! An dieser Stelle lohnt sich eine kurze Betrachtung der Werte auf deren Grundlage das römische Recht basiert und durch die sich ein guter römischer Bürger auszeichnete: „Fides“ bzw. das Zusammentreffen von Wahrheit, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit, „pietas“ bzw. Respekt gegenüber den Göttern, dem Staat und der Familie, „maiestas“ bzw. die Würde des Staates als Volksrepräsentant, „virtus“ bzw. Wert und Vorzüglichkeit vor allem zum Wohle der Gesellschaft, „gravitas“ bzw. Würde, Fassung und Gleichgewicht. Sind etwa die Immigranten die größten Feinde der römischen Ethik? Oder sind es doch eher die Politiker selbst? Wenn wir eine Operation „Mas Maiorum“ benötigen – eine großflächig angelegte europäische Razzia – dann bräuchten wir eine solchen für korrupte Politiker und Unternehmer, die Arbeit durch Profit ersetzten und dem öffentlichen Steuersystem Kapital entziehen und gegen die Mafia, die auf Kosten der Öffentlichkeit lebt. Zu einer solchen Operation würde der Name mit Besinnung auf das römische Recht passen. Stattdessen zielen wir auf die Schwächsten! Schande! Eine Schande, dass wir den Mittelmeerraum zu einer militarisierten Grenze machen und dabei die Geschichte und die gemeinsame geografische, kulturelle Identität vergessen!
Wenn wir daran denken, dass im Mittelmeerraum die Wirtschaft ins Leben gerufen wurde und dass die Phönizier den internationalen Handel erfunden haben, dann wird uns bewusst mit welche einer Kurzsichtigkeit wir unsere Nachbarn des Mittelmeerraums auf Distanz halten und dabei deren Eigenschaften vor allem mit Blick auf das soziale und wirtschaftliche Lebens unterschätzen. Ihre Eigenschaften könnte doch vielmehr als Inspiration dafür dienen, das Entwicklungsmodell aus dem Arbeitslosigkeit, soziale Ungerechtigkeit und Verarmung an Ressourcen und Zuwanderung entsteht, zu überdenken. Die folgenden Eigenschaften sieht der Wirtschaftswissenschaftler Luigino Bruni als typisch für die Wirtschaft des Mittelmeerraums: es existiert eine Gemeinschaft und nicht allein Individuen; die Wirtschaft wird nicht von einzelnen Individuen gemacht sondern von Unternehmenszusammenschlüssen, Bruderschaften oder Genossenschaften. Der Austausch ist nicht allein ein Warenaustausch, sondern ein Zusammentreffen zwischen teils unbekannten Personen aus dem sich gegenseitiges Vertrauen, Stabilität, Frieden und Akzeptanz entwickelt. Reichtum ist abhängig von der Anzahl zwischenmenschlicher Beziehungen, die man pflegt und nicht von erwirtschafteten Geldern. Und schließlich werden durch die Wirtschaft Orte der Freiheit generiert; vor allem der Handel dient den Städten und der städtischen Kultur, die die Stadtmauern und Plätze des Mittelmeeres überqueren.
Wenn wir Beziehungen testen wollen, aus denen sich weitläufiger Reichtum, Stabilität und Zusammenhalt für die Region entwickelt, dann müssen wir Handel und Bewegung fördern statt von Renditen zu leben oder die Grenzen zu schließen. Wir müssen in den Mittelmeerraum investieren und transmediterrane Entwicklungsprojekte schaffen, bei denen die Werte des Wirtschaftens in der Region wieder aufgenommen und bei denen Personen und Vermögen in Bewegung gesetzt werden und die gegen Spekulation und Rendite kämpfen, die die Grundlage für eine Kultur der Unterwerfung, der Korruption und der Mafia bilden. Dies und keine anderen sind die Mos Maiorum, die unserer Unterstützung wert sind.
In diesen Tagen wäre Arethusa wahrscheinlich nicht nach Syrakus gelangt, denn sie wäre von einer Anordnung der Präfektur zurückgehalten worden. Oder dem Liebhaber Alpheus wäre die Zusammenführung untersagt worden. Syrakus wäre nicht die Hauptstadt der Magna Grecia geworden und der Mittelmeerraum die Wiege zahlreicher Kulturen.
Florenz, den 4.Oktober 2014

Aus dem Italienischen von Carmen Nitsche