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Donnerstag, 11. September 2014

Nach der Ankunft: In Italien bleiben zwischen bürokratischen Wartezeiten und Verlegungen

Wir lesen nunmehr täglich über Anlandungen und Ankünften nicht nur an den Küsten Siziliens von Migranten. Diese Vorfälle müssen beobachtet und sorgfältig analysiert werden. Sie müssen insbesondere als Beobachtungsfenster über vergangene und zukünftige Ereignisse angesehen werden, nachdem sie bald nicht mehr im Rampenlicht stehen werden. Es ist nicht einfach, den Wegen der Migranten zu folgen, wenn sie sich einmal auf Festland befinden. Das gilt auch für diejenigen, die einen internationalen Schutz beantragen und die daher in ein Aufnahme- und Schutzsystem eingegliedert werden. Der nunmehr immerwährende Notstand erzeugt nämlich sehr prekäre Situationen im Hinblick auf die Unterbringung der Antragsteller, die durch häufige Verlegungen gekennzeichnet ist.
Diese häufigen Verlegungen beruhen auf Entscheidungen über Notwendigkeiten, die weder die Beschleunigung der Verfahrensdauer des Asylantrags bis zu dessen Abschluss noch die Erleichterung der Integration der Migranten in unsere Heimat berücksichtigen. Während der fortlaufenden Verlegungen schaffen es die Migranten je nach Glück oder den vorhandenen Möglichkeiten, ab und zu Beziehungen zu den Bewohnern der Aufenthaltsorte herzustellen. Sie hinterlassen Telefonnummern und bauen kleine, aber dauerhafte Netzwerke auf.

Ich folge einem dieser vagen Wege und entscheide mich,  eine Erstaufnahme- und eine Zweitaufnahmeeinrichtung in Vittoria, einem kleinen Ort in der Provinz von Ragusa gelegen, zu besuchen. In diesem  Ort leben schon seit vielen Jahren zahlreiche Nordafrikaner und Osteuropäer, die als Feldarbeiter im Hinterland tätig sind. Ich besuche zuerst die Einrichtung Sprar für Jugendliche (Sistema di protezione per richiedenti asilo e rifugiati – Schutzsystem für Asylbewerber und Flüchtlinge) der Genossenschaft Nostra Signora di Gulfi, die bereits zwei Einrichtungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und für erwachsene Asylbewerber in Chiaramonti Gulfi betreibt. Ich werde von der Leiterin Noemi empfangen, die mich die Einrichtung besuchen lässt.  Es handelt sich um ein Haus auf zwei Etagen im Zentrum der Stadt. Sie erklärt mir, dass die Einrichtung als Sprar seit April 2014 operiere. Seit dem beherberge diese acht Jugendliche zwischen 12 und 17, die aus Gambia Senegal, Guinea Bissau, Ghana und Ägypten kommen. Die meisten seien im Juni angekommen, als die letzte Verteilung stattgefunden habe.

Die Frage der Verlegungen ist wiederum Kern der Debatte, als ich einige Gäste kennenlerne. Einige von ihnen, die in Einrichtungen in anderen Provinzen waren, mussten notwendigerweise den Vormund aufgrund ihrer Minderjährigkeit wechseln, als sie in Vittoria angekommen sind. Das bedeutet, dass zwei von acht Jugendlichen seit drei Monaten auf die Entscheidung des Vormundschaftsrichters warten, so dass sie gezwungen sind, dem Verfahrensstillstand ihres Antrags auf internationalen Schutz beizuwohnen. Dieses Verfahren kann nicht mit der Anhörung vor der Kommission fortgesetzt werden, solange kein Vormund ernannt worden ist, der ihnen beisteht.

Auch der einzige Sozialarbeiter der Gemeinde hat große Mühe, die Migranten regelmäßig zu besuchen, da er sich um viele Jugendliche kümmern muss. “Die Jugendlichen besuchen täglich einen Alphabetisierungskurs hier im Haus. In wenigen Wochen werden sie auch die Abendkurse im Ausbildungszentrum für Erwachsene besuchen. Wir sind dabei, Arbeitsmöglichkeiten zu finden, und setzen darauf, ein Verantwortungsbewusstsein bei den Jugendlichen auch im Bezug auf die Verwaltung der Einrichtung zu schaffen. Mit der Unterstützung der Mitarbeiter putzen sie abwechselnd und regelmäßig die Gemeinschaftsräume und kochen insbesondere ihr eigenes Essen”, berichtet Noemi. M. ist dabei, Reis zu kochen und hört Reggaemusik, während andere ihre Wäsche aufhängen und im Internet mit Freunden und Familienangehörigen kommunizieren. “Manchmal sind sie so über die Langsamkeit der Bürokratie verzweifelt, dass sie mit Streik drohen, d.h. das Lernen boykottieren. Wie kann man ihnen nicht Recht geben?”  folgert Noemi, indem sie einen weiteren Einblick in ein System gibt, das sich fortwährend im Notstand befindet und sich nicht rechtfertigen muss.

Ein lebhafteres Umfeld erwartet mich am Nachmittag, als ich zwei Erstaufnahmeeinrichtungen  der Genossenschaft sociale Area besuche. Diese befinden sich wenige Meter von der monumentalen Rathausvilla entfernt. Die Präsidentin Matilde Farina stellt mir Mitarbeiter und Gäste vor. Es sind insgesamt zwanzig Migranten, die in zwei verschiedenen Wohnungen untergebracht sind. Die Genossenschaft bietet ihre Dienste seit November 2013 an, indem sie die Mitarbeiter, die zuvor die im Bereich der Pflege von Alten, Behinderten und psychisch Kranken tätig waren, fortbilden. Die Genossenschaft arbeitet nun ebenfalls mit einem kulturellen Mediator und Lehrer für die Alphabetisierung zusammen.
In der ersten Wohnung treffe ich B. aus Gambia. Er spricht langsam, kann aber dem Gespräch folgen. “Das Problem ist nicht Italienisch verstehen, sondern sprechen! Ich bin in Pozzallo im Juni angekommen. Von dort bin ich hierher gekommen, aber ich habe noch keine Papiere. Ich versuche, Italienisch zu lernen. Aber was Anderes kann ich ohne Papiere machen??” Andere seiner Weggefährten haben die Ablehnung von der Kommission erhalten. Ihnen ist nun eine Erlaubnis als Beschwerdeführer erteilt worden. Sie benötigen aber eine Verlängerung, um noch hier in der Einrichtung zu bleiben. In der Zwischenzeit kommen weitere neue Migranten an. Die Mitarbeiter, die sie nicht auf der Straße setzen wollen,  fügen weitere improvisierte Betten hinzu.“In diesem Gebiet ist es einfach, für wenige Euro am Tag ausgebeutet zu werden”, berichtet Matilde. In einem Zimmer in der letzten Etage begegne ich drei Jugendlichen aus Bangladesch, die wenig  Englisch sprechen und sich darauf beschränken, zu lächeln. Sie teilen sich das Zimmer mit einem Jugendlichen aus Mali, mit dem sie friedlich zusammenleben. In wenigen Tagen werden sie erneut in eine andere Erstaufnahmeeinrichtung verlegt.
Sämtliche Gäste  der zweiten Wohnung sind Bengalen, die ich etwas später kennenlerne. Nachdem sie in Pozzallo am 5. August mit der Anlandung von 967 Migranten angekommen sind (bisher die größte registrierte Anlandung in dem kleinen Hafen), sind sie erst letzten Samstag von Comiso nach Vittoria verlegt worden. Sobald sie uns gesehen haben, versammeln sie sich im Aufenthaltsraum. In diesem finden sie nur erschwert einen Sitzplatz: Es sind 14, vier mehr als die Einrichtung aufnehmen dürfte. Die Überbelegung ist auch hier auf die Notsituation zusammen mit der bürokratischen Wartezeit zurückzuführen. Auch in den Schlafzimmern kann man sich nur schwer bewegen. “Zu klein, dieser Platz ist zu klein für all diese Personen”, sagt Z. Lediglich drei von ihnen sprechen Englisch, die als Dolmetscher für die anderen zur Verfügung stehen. Diese wurden durch einen am Samstag von der Genossenschaft gerufenen bengalischen Mediator informiert.  “In Comiso waren wir zahlreich. 500/550 Personen.” A. berichtet mir: “Wir sind alle mit demselben Boot aus Libyen angekommen, aber wir kommen aus diversen Gebieten aus Bangladesch. In Libyen habe ich mich ca. zwei Monate aufgehalten. Ein längerer Aufenthalt ist zu gefährlich.” M. blättert in einem Wörterbuch Bengalisch/Englisch.  Er schreibt wenige Zeilen in ein Heft. “Wir möchten andere Bücher, um Englisch und Italienisch zu lernen”, fragen  andere drei Jugendliche Matilde, die auf einem Sofa sitzen. An einem anderen Tag haben sie eine ihrer ersten Italienischunterrichtsstunden mit einer Mitarbeiterin der Einrichtung gehabt: Seit sie in Italien angekommen sind, ist ihre Freizeit lediglich durch die Essenzeiten unterbrochen worden. “Das nächste Mal werden wir Italienisch sprechen. Englisch interessiert mich nicht. Ich bin jetzt in Italien”,  vertraut A. mir an. Er verabschiedet sich von mir und zeigt mir, dass wieder einmal die Migranten, die an eigener Haut die fortdauernde Notstandsituation erleiden, die ersten sind, die mit Bestimmtheit aufzeigen, wie diese überwindet werden kann.

Lucia Borghi
Borderline Sicilia Onlus

Aus dem Italienischen von Than Lan Nguyen-Gatti