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Freitag, 18. April 2014

Kommunizierende Röhren

Das Prinzip der kommunizierenden Gefäße oder Röhren ist ein physikalisches: eine Flüssigkeit in  zwei oder mehreren miteinander in Verbindung stehenden Gefäßen erreicht immer die gleiche Höhe, wenn sie der Schwerkraft unterworfen ist.  Das bedeutet, die Flüssigkeit hat in allen miteinander verbundenen Gefäßen den gleichen Höhenlevel.
Nun stellen wir uns die Migranten auf den Mare Nostrum Schiffen vor, die alle das gleiche Niveau auf den Schiffen und dem Erstaufnahmezentrum von Agrigento erreichen sollen wie in einer kommunizierenden Röhre. Die Marine hat zu verschiedenen Zeitpunkten insgesamt mehr als 2000 Migranten in Porto Empedocle abgeladen, die aufgrund der Verfügbarkeit der Plätze der Erstaufnahme gestaffelt wurden: da die Zeltstruktur von Porto Empedocle noch nicht wieder begehbar ist, hat die Präfektur Alternativen in den Turnhallen von Favara und Racalmuto und in der Empfangshalle eines Hotels von Siculiana gefunden.
Die ersten Migranten, die in diese „Einrichtungen“ gebracht wurden, sind nach einem Tag von dort verschwunden und andere Migranten kamen, wie es das Prinzip oben beschreibt, nach. Die letzte Ankunft war am Morgen des 16. April, bei der 101 Migranten in das Hotel von Siculiana verlegt wurden, nachdem sich am Abend zuvor ca. 200 Migranten von der Einichtung entfernt hatten.
Die nächste Landung in Porto Empedocle? Wahrscheinlich wird gewartet, bis sich ein Zentrum leert und dann beginnt die Karussellfahrt von neuem, auf die viele Migranten gar nicht aufsteigen wollen! Im vergangenen Tagesverlauf haben wir in Agrigento und in der gleichnamigen Provinz gesehen, dass die Bemühungen der Beteiligten, institutionell oder nicht, nicht ausreichend sind, da es an kontinuierlicher und ernsthaften Planung fehlt, um das Problem zu beseitigen. Das einzige Projekt des Innenministeriums scheint die Improvisation zu sein und führt zu erheblichen Abschlägen in den Orten, in denen die Migranten landen.
In Agrigento und der Provinz haben wir an verschieden strategischen Punkten hunderte Migranten getroffen. Männer, Frauen und unbegleitete Minderjährige streifen heimatlos auf der Straße umher, sie haben sich von verschiedenen Aufnahmezentren der Provinz entfernt. In der Mensa della Solidarietà (Mensa der Solidarität), die von den Nonnen der „Porta Aperta“ geführt wird (Bezugspunkt für viele Migranten, wo man neben Frühstück, Mittag und Abendbrot und Kleiderspenden auch menschlichen Kontakt finden kann) haben sich die Besucherzahlen vermehrt. Von ca. 50 Gästen auf 150 Personen beim Frühstück und von 120 auf 350 für das Mittag. Die Antwort der Agrigentiner war sehr schön: viele Familien haben die nötigsten Lebensmittel und Kleidungsstücke für die Mensa gesammelt, denn die hat sonst keine Hilfe von den Institutionen der Stadt. So wird Dank der Bevölkerung die eigentliche „Mission“ vorangebracht, denn diese „wollen keine Mauern errichten, sondern offen bleiben“.

Leider hat die Wahl der vielen Migranten, die ausgewiesenen Plätze der Präfektur zu verlassen dazu geführt, dass sich sowohl die Zahl der Obdachlosen erhöht hat, als auch die Zahl der gefährlichen Unfälle, denn die Migranten irren auch in der Nacht über Überführungen, die die Stadt mit der Provinz verbinden. Darauf sind nicht nur die achtsamen Bürger aufmerksam geworden, sondern auch diejenigen, die von diesem katastrophalen System profitieren wollen - sie profitieren von der Notwendigkeit (der Migranten), die Reise fortsetzen zu müssen: Einige verdächtige Personen bewegen sich zum Beispiel am Bahnhof zwischen den verschiedenen Gruppen von Migranten und bieten ihnen Fahrscheine und anderes, nutzen ihre missliche Lage und ihrer Not aus. Leider ist dieses System wie Himmelsbrot für die vielen Arten von Kriminalität, in der die Migranten als Gewinnmöglichkeit oder wie bei vielen italienischen und europäischen Politiker als „reine Interessenlage“ gesehen werden.
Genau das System des Notfalls hat der Präfektur erlaubt, eine Zeltstruktur wie die von Porto Empedocle als Lande- und Durchgangsstation für Migranten zu nutzen, um von dort auf die Erstauffanglager, wie das Parkhotel Villa Sikania von Siculiana, verteilt zu werden.
Der Besitzer (der bereits versucht hatte das Hotel dei Pini in Porto Empedocle in ein Erstaufnahmezentrum umwandeln) hatte die Empfangshalle seit einiger Zeit umgestaltet (dort wurden vorher, auf Grund der Schönheit des Ortes, Hochzeiten von vermögenden Personen gefeiert). Vier große Säle wurden für die Aufnahme der Männer vorgesehen und die Zimmer des Hotels wurden kleinen Familien und Frauen zur Verfügung gestellt. Die Führung wurde an den Verein Cometa übertragen (Partner der Kreise, in welchen der Verein  Acuarinto/Receproco Chef ist, eine in der Provinz Agrigento die Vorrangstellung innehabenden Vereinigung in der Verwaltung von Zentren und Sprar-Projekten, die aber auch in anderen Regionen Italien präsent ist). Wie es scheint, ist diese Umwandlung wirtschaftlich sehr lukrativ!

In der Villa Sikania wurden bis 360 Migranten aufgenommen (der Großteil hatte sich vor der Identifikation entfernt), trotz einer maximalen Kapazität von nur 180 Plätzen. Mit dem letzten Transfer vom 16. April, der auf die letzte Flucht folgte (registriert am 15. April), hatten die Mitarbeiter noch keine Berechnung über die Zahl der Anwesenden gemacht; sie konnten die Zahl lediglich anhand der Personen, die zum Mittagessen anwesend waren, schätzen. Momentan wären dies ca. 200, unter ihnen 30 Frauen und drei Familien mit Kindern.
Am 16. April wurden auch die Telefonkarten noch nicht an die Angekommenen verteilt und die Migranten, mit denen wir in Kontakt gekommen sind, beklagten sich über die Unmöglichkeit, die eigene Familie nach ihrer Überfahrt, nach ihrer Rettung aus dem Meer, drei Tagen auf einem Militärschiff und weiteren zwei oder drei  Tagen in der Villa Sikania zu kontaktieren. Die Mitarbeiter des Projektes Praesidium (UNHCR, IOM, Save the Children, Rotes Kreuz) machen Druck bezüglich der Aushändigung der Telefonkarten, auch wenn wir uns fragen, wie die Empfänger diese benutzen sollten, denn in der Struktur befinden sich keine Telefone! Dazu beschweren sich viele Insassen darüber, nicht von Personal informiert zu werden.
Aber die am häufigsten wiederkehrende Beschwerde betrifft die Zahl der Bäder in der erwähnten Empfangshalle, die für die Aufnahme bereitgestellt wurde, die seien nicht ausreichend und dreckig.
Mit diesen Ankünften in der Provinz von Agrigento sind alle Plätze erschöpft, zudem bleibt das langjährige Problem der unbegleiteten Minderjährigen. Die Einrichtungen, welche sie in der Vergangenheit aufgenommen hatten und momentan aufnehmen, stehen am Rande des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Dies hängt mit dem Hin- und Herschieben der Verantwortlichkeiten für die Zahlungen des Tagesgeldes zwischen Kommunen und Arbeitsministerium zusammen. Die Präfektur Agrigentos ist besonders besorgt darüber,da sie in dieser beschämenden Situation - wieder eine Folge des Notstandes - zum x-ten Mal zu vermitteln versucht.

Von Alberto Biondo für Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Viktoria Langer